Kiosk oder Insel der Freiheit?

An Sonn- und Feiertagen läuft das Geschäft der Tankstellenshops wie geschmiert. Nach der Eröffnung der Westumfahrung wollten die Zürcher Behörden den geltenden gesetzlichen Bestimmungen mehr Nachachtung verschaffen — und stachen in ein Wespennest.

Mindestens 20 Kundinnen und Kunden befinden sich am frühen Nachmittag des Pfingstmontags immer im Shop der Esso-Tankstelle Triemli an der Birmensdorferstrasse. Weniger als die Hälfte betankt zuvor jeweils den Wagen. An der Tankstelle ist genug Platz, um nur für einen sonntäglichen Einkauf zu parkieren. Mountainbiker decken sich für ihre Tour ein. Dazu herrscht ein reges Kommen und Gehen von Anwohnern aus dem umliegenden Quartier. Getränke, Wurst- und Grillwaren sowie Tiefkühlprodukte sind gefragt. Ein junges Pärchen ersteht ein dank Rabattmarken stark herabgesetztes Set von Pfannen. «Ohne diesen Tankstellenshop wären wir verloren», sagen die beiden Stammkunden.

«Schränken Sortiment nicht ein»

Die Shops bieten derzeit Gesprächsstoff. Selbst das Liberale Institut hat sich des Themas angenommen und befürchtet, es gerate eine «Insel der Freiheit unter Beschuss», eine «IG Freiheit» sammelt Unterschriften «für offene Tankstellenshops». Der Bund will Läden mit 24-Stunden-Betrieb nicht mehr akzeptieren, da dies gegen das Arbeitsgesetz verstosse. Dazu droht in Zürich einer Reihe von Tankstellenshops, die sich in den letzten Jahren vom Kiosk zum kleinen Supermarkt gewandelt haben, dass sie ihr Sortiment am Sonntag einschränken müssen. Grund: Seit der Eröffnung der Westumfahrung liegen sie nicht mehr an einem Hauptverkehrsweg (Kasten).

Die Mineralölfirmen und ihre Pächter denken nicht daran, nachzugeben. «Wir beschränken über Pfingsten unser Sortiment nicht», hatte Bertrand Cornaz von Esso Schweiz vor dem Wochenende angekündigt. Der Augenschein zeigt, dass dies in der Branche generell gilt. «Wir unternehmen sicher nichts in vorauseilendem Gehorsam», sagte am Montag Isabelle Thommen, Sprecherin von BP Schweiz. Das Angebot der Tankstellenshops entspreche einem breiten Bedürfnis. Der BP-Shop an der Seebahnstrasse in Wiedikon werde auch von Menschen aus dem Quartier geschätzt, jener in Wollishofen von den Badegästen am See. Wie zur Illustration gähnt im benachbarten Avia-Shop am Mythenquai am Nachmittag ein grosses Loch in der Wursttheke: Die Cervelats sind ausverkauft. Avia-Sprecher Max Baumgartner meint, wenn das Sortiment beschränkt werden müsse, begreife das doch kein Mensch.

Verzeigungen der städtischen Gewerbepolizei nach einer Kontrolle im Mai gegen eine Reihe Zürcher Tankstellenbetreiber sind derzeit auf Eis gelegt. Es herrsche eine grosse Verunsicherung, sagte Judith Hödl von der Stadtpolizei auf Anfrage. Mitte Juni findet ein Gespräch mit der kantonalen Volkswirtschaftsdirektion statt, die für die Ladenöffnungszeiten zuständig ist. Hödl betont, es gehe auch darum, die anderen Detaillisten zu schützen, die am Sonntag nicht öffnen dürften.

In der Tat wird dieser Aspekt in der Diskussion gerne ausgeblendet. Im Zentrum stehen Ladenbetreiber, die den Wunsch ihrer Kunden, einzukaufen, wann sie wollen, erfüllen möchten, und von Bürokraten daran gehindert werden. Dass für die meisten Detaillisten, weil sie nicht auch noch Benzin verkaufen, am Sonntag ein Verkaufsverbot gilt, geht vergessen. Das ist insofern wenig verwunderlich, weil das kantonale Ruhetags- und Ladenöffnungsgesetz ausdrücklich gegen ein Prinzip verstösst, das es eigentlich garantieren sollte: gleich lange Spiesse für Wettbewerber.

Treibende Kraft waren dabei die Bundesbahnen, die im Hinblick auf die Eröffnung der Zürcher S-Bahn 1990 das Potenzial des sogenannten Kiosk-Artikels im Eisenbahngesetz entdeckten. In der Folge musste das Bundesgericht im Einzelfall festlegen, was zum Reisebedarf zählt, was nicht: Damenstrümpfe ja, T-Shirt nein. Zuerst auf kantonaler und dann auf eidgenössischer Ebene wurden die Bahnhofläden vom sonntäglichen Verkaufsverbot generell ausgenommen.

Abschaffung der Ladenschlusszeiten?

Der Kanton Zürich privilegierte dann per Verordnung auch die Tankstellenshops mit dem Sonntagsverkauf. Deshalb stellt sich nun hier wie seinerzeit in den Bahnhöfen die Frage nach den «spezifischen Bedürfnissen der Reisenden», was sich nie befriedigend lösen lassen wird. Das Seilziehen um die Tankstellenshops dürfte deshalb ein weiterer Schritt hin zu einer generellen Freigabe des Verkaufs an Sonntagen sein. Das ist dann allerdings nicht mehr eine Sache des Vollzugs. Dazu ist eine Gesetzesänderung notwendig — was nicht einfach werden dürfte.

Neue Zürcher Zeitung

2. Juni 2009