Vom sozialstaatlichen Scheitern

Ein liberaler Blick auf kollektive Umverteilungssysteme

Der Umverteilungsstaat und seine Defekte stehen im Zentrum einer neuen Publikation des Liberalen Instituts. Die Autoren machen es sich zur Aufgabe, unangenehme Tatsachen in Erinnerung zu rufen und Alternativen zu jetzigen Systemen aufzuzeigen.

In einem Sammelband legt das Liberale Institut eine «schonungslose Analyse» des Sozialstaats vor. Die Sprache, die die Herausgeber einleitend pflegen, ist unzimperlich, ist da doch vom Scheitern des heutigen Sozialwesens und von seiner «moralischen Verwerflichkeit» die Rede. Die harsche Wortwahl weist darauf hin, dass es dem Liberalen Institut nicht darum geht, die Verfechter der Umverteilung zu kritischer Reflexion zu animieren. Sozialpolitiker dürften das Buch nämlich nach der Lektüre der überzeichnenden Einleitung eher zur Seite legen. Schade eigentlich, denn die Analysen der namhaften Autoren sind scharfsinnig und rufen unangenehme Folgen sozialstaatlicher Umverteilungsaktivität wieder einmal in Erinnerung.

Verteilung statt Versicherung

Wichtig ist vorab die Feststellung, dass gemeinhin Begriffe falsch verwendet werden. Hans-Hermann Hoppe unterscheidet in seinem Beitrag zwischen Umverteilung, Vorsorge und Versicherung und stellt fest, dass zahlreiche sozialstaatliche Systeme zu Unrecht als Versicherung betitelt werden. Die meisten Systeme verteilen die Mittel einfach um. Die längerfristigen Folgen sind unerwünscht: Menschen werden am Sparen und Investieren gehindert, die Erwirtschaftung von Zinsen wird verunmöglicht. Damit schwächt der heutige Sozialstaat das Wachstumspotenzial einer Gesellschaft, macht sie also nicht wohlhabender, sondern verlagert nur den Konsum von A zu B.

Nun könnte man einwenden, dass dies unter sozial denkenden Bürgerinnen und Bürgern durchaus so gewollt sei. Mehrere Autoren bringen dagegen vor, dass die private Vorsorge sowie genossenschaftliche und kommerzielle Versicherungslösungen neben einem subsidiären personenbezogenen Auffangnetz für jene Menschen, die nicht in der Lage sind, ihre Probleme eigenständig zu lösen, die bessere Alternative zum heutigen Sozialstaat wären. Unter anderem entfiele damit die hohe finanzielle und bürokratische Last der Umverteilungssysteme.

Bestritten wird überdies die Überlegenheit von «solidarischen» staatlichen Gesamtlösungen gegenüber eigenverantwortlichen Konzepten. Gegen die drei grossen Lebensrisiken Altersarmut, Krankheit und Arbeitslosigkeit werde sich jeder rational denkende Mensch privat und vor allem nach seinen Zielen, Wünschen und abhängig von seinem Lebensstil sichern. Zu Recht wird auch argumentiert, dass der Wohlfahrtsstaat den Einzelnen von seiner sozialen Verantwortung eben gerade entbindet und zu noch mehr Vereinzelung, zu noch mehr «Delegation von Mitmenschlichkeit an die Ämter, von Empathie an Funktionäre» führt, wie Robert Nef schreibt. Das Netzwerk an Dienstleistungen familiärer, nachbarschaftlicher, caritativer und auch kommerzieller Art werde zerstört.

Ohne freiheitliche Perspektive

Gerd Habermann skizziert die historischen Wurzeln des Sozialstaats. Unter anderem hält er fest, dass bereits im 18. Jahrhundert eine staatliche Familienpolitik im Interesse der Gleichheit existiert hat, diese also keine Erfindung des 21. Jahrhunderts sei. Auch damals fand sich begleitend zur Familienpolitik eine skeptische Haltung gegenüber den erzieherischen Kompetenzen der Eltern. Im Unterschied zu damals, konstatiert Habermann, fehle heute in der Politik die freiheitliche Perspektive.

«Moderne Wohlfahrtsgesetzgebung will nicht zur Freiheit erziehen; vielmehr geht sie von einer offenbar naturgegebenen, ja wachsenden Schwäche oder Unkenntnis des Individuums in der komplexen Gesellschaft des industriellen Zeitalters aus», schreibt Habermann treffend. In sozialer Hinsicht registriert er einschneidende Verluste an Freiheitsrechten. Der Ertrag persönlicher Arbeit werde zunächst zu einem grossen Teil enteignet. Im Sozialstaat entscheiden Politik und Regierungen, was der Bürger zurückerhält und in welcher Form. «Es war wohl nie ein Volk bei Unglück, Krankheit und im Alter so abhängig von staatlichen Versorgungsleistungen», urteilt Habermann.

Umkehr gefordert

Es kann sodann nicht schaden, wenn vor dem Hintergrund einer permanent am Leben gehaltenen Debatte um die Erschliessung zusätzlicher sozialstaatlicher Gebiete - als Beispiel wäre das weite Feld der Familienpolitik zu nennen - im Sammelband einige Funktionsweisen des Wohlfahrtsstaates in Erinnerung gerufen werden. Erwähnt sei hier nur die einfache ökonomische Feststellung, dass Menschen immer auf Anreize reagieren. Entschädigt der Staat etwa Alleinerziehende, ist davon auszugehen, dass die Zahl Alleinerziehender zunehmen wird. Geradezu beispielhaft ist die Entwicklung im Schweizer Gesundheitswesen seit der Einführung des «Versicherungs»-Obligatoriums. Der Zwang zur Prämie - und damit die Verhinderung privater Versicherungslösungen, die sich an den tatsächlichen individuellen Risiken orientierten - stimuliert die Nachfrage nach der Leistung. Um die nachgefragten Leistungen finanzieren zu können, müssen Prämien erhöht werden. Was folgt, ist bekannt: Herangezüchtet wird eine Anspruchsmentalität, die nur entweder noch höhere Steuerbelastung oder aber Rationierung zur Folge haben wird.

Das auf Umverteilung basierende Konzept des heutigen Sozialstaats führe zwangsläufig zu Überkonsum und Unterfinanzierung, schreiben die Herausgeber. Die systematische Fehlkonzeption des Umverteilungsstaats könne nur durch noch mehr Umverteilung oder Ausweitung der Staatsschuld - zeitlich begrenzt - aufgefangen werden. Die Autoren fordern deshalb eine radikale Umkehr aus der «sozialstaatlichen Sackgasse». Sie wünschen den westlichen Gesellschaften den Mut, das Scheitern alter Konzepte anzuerkennen und die Alternativen zu erkunden.

Michael Schoenenberger, Neue Zürcher Zeitung

6. Juli 2011