Selbstverantwortung des Individuums ist die Grundlage einer freiheitlichen Gesellschaft. Der Begriff „Selbstverantwortung“ beschreibt die Bereitschaft und Pflicht einer Person, für das eigene Handeln und Unterlassen Verantwortung zu übernehmen und die Konsequenzen zu tragen. Dieses Prinzip, ein Kind der Aufklärung, basiert auf dem liberalen Ideal eines mündigen, selbstbestimmten Menschen, wie es etwa von John Stuart Mill (britischer Philosoph, Politiker und Ökonom, einer der einflussreichsten liberalen Denker des 19. Jahrhunderts) als „aktiver Staatsbürger“ beschrieben wurde. Diese Vorstellung schliesst jedoch nicht aus, auch Verantwortung für andere zu übernehmen (Solidarität).
Liberalismus ist eine Denkweise und Lebensphilosophie, die individuelle Freiheit, Autonomie, Verantwortung und die freie Entfaltung der Persönlichkeit vertritt. Er versteht sich nicht als politische Ideologie, sondern als Lebensphilosophie, die das Individuum und sein Handeln ins Zentrum stellt.
Friedrich August von Hayek (Ökonom, Sozialphilosoph und liberaler Denker, 1899-1992) betonte, dass die individuelle Freiheit das wichtigste Moralprinzip überhaupt sei. Nur wenn Freiheit als beherrschendes Prinzip die gesetzgeberischen Massnahmen lenke, könne sie erhalten bleiben. Auch Friedrich Nietzsche (Philosoph, 1844-1900) unterstrich die Bedeutung der Selbstverantwortung für die individuelle Freiheit. Er argumentierte, dass es wichtig sei, unser Leben selbst zu gestalten und uns nicht von äusseren Einflüssen bestimmen zu lassen.
Diese Definitionen von Selbstverantwortung im liberalen und philosophischen Kontext machen deutlich, dass es in erster Linie die Aufgabe eines jeden Individuums ist, sich dieser Verantwortung zu stellen. Verantwortungsübernahme ist eine Grundvoraussetzung für den Zusammenhalt in freiheitlichen Gesellschaften. Deshalb müssen sich möglichst viele Individuen zu verantwortlichem Handeln verpflichten.
In Zeiten, in denen Staaten autokratischer werden und sich immer mehr in das private Leben und die Wirtschaft einmischen – uns also die Selbstverantwortung abnehmen wollen – wird es umso dringlicher, dass jeder Einzelne in seinem persönlichen Umfeld wieder lernt, aktiv zu werden. Nur wenn wir uns selbst verändern, verändern wir die Welt – dies lehrte uns bereits Mahatma Gandhi, der friedliche Freiheitskämpfer der indischen Unabhängigkeitsbewegung im Jahr 1947.
In Gesprächen mit Mitmenschen, die sich wegen der gegenwärtigen politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen sorgen, höre ich häufig resignierte Aussagen wie: „Ich alleine kann doch sowieso nichts verändern.“ oder „Das bringt doch alles nichts, die Obrigkeiten sind doch sowieso mächtiger als wir.“
Solche tief verinnerlichten Glaubenssätze halten uns in der Opferrolle und in Passivität gefangen. Diese Ketten können wir nur sprengen, indem jeder beginnt, eigene Überzeugungen zu entwickeln, die dieser Haltung entgegentreten – beispielsweise mit der Aussage: „Ich mache da nicht mit.“ Jeder von uns kann entscheiden, wie viel Macht er bereit ist, über sich selbst an andere zu übertragen. Denn blinde Gefolgschaft und Gehorsam haben die Menschheit in der Geschichte immer wieder in die Unfreiheit geführt.
Nicht nur die innere Haltung sollte von Mut und Stärke geprägt sein, sondern auch das Handeln. Die Möglichkeiten, sich einzubringen, waren noch nie so vielfältig wie heute. Beispielsweise durch ehrenamtliche Arbeit, Unterstützung freiheitlicher Initiativen, Spenden an unabhängige und kritische Medien, Aufklärung online, gezielten Einkauf bei Unternehmen und Geschäften, deren Werte man teilt (z.B. Einkauf bei Bauern), Aufklärung im persönlichen Umfeld und vor allem: Nicht aus Angst schweigen, sondern mutig die eigene Meinung vertreten, Zensur zum Trotz.
Diese aktive Haltung eines selbstverantwortlichen Bürgers hat aus psychologischer Sicht viele positive Effekte. Anstatt in der Opferrolle zu verharren, stärkt das Handeln die Selbstwirksamkeit und damit auch die Resilienz. Die Realität unserer gesellschaftlichen Situation wird angenommen, nicht verdrängt. Diese Haltung hilft, Depressionen, Burnout und andere psychische Erkrankungen zu verhindern. Selbstverantwortung zu lernen bedeutet, sich selbst Fragen zu stellen und diese ehrlich zu beantworten. Die Antworten – das noch unbekannte Wissen – sind bereits in jedem von uns vorhanden. Wer Selbstverantwortung übernimmt, macht sich somit unabhängig von „Antwortengebern“ aus dem Umfeld. Der Schlüssel zur persönlichen Freiheit und Selbstverantwortung liegt darin, sich der eigenen psychologischen Verletzlichkeiten bewusst zu sein und aktiv an ihnen zu arbeiten. Freiheit ist immer das Ergebnis persönlicher Arbeit, niemals ein Geschenk von anderen. Wer die psychologische Modellierung der Opferhaltung in unserer aktuellen Gesellschaft nicht erkennen will oder kann, muss damit rechnen, selbst ein Baustein dieser Modellierung zu sein.
Die Entstehung der Individualpsychologie: Eine humanistische Psychologie sozialer Beziehungen
Die Geschichte des Liberalismus ist die Geschichte des Freiheitskampfes gegen Herrschaft, Tyrannei und Unterdrückung, der in der Aufklärung sein philosophisches Fundament fand. Die Überwindung von Herrschaft und die Autonomie des Individuums durch Freiheit, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung waren und sind die Ziele der Aufklärung und des Humanismus.
Daher ist es naheliegend, dass freiheitliche Gesellschaften einen sozialwissenschaftlichen und psychologischen Ansatz benötigen, der das selbstverantwortliche Individuum wieder ins Zentrum rückt und humanistische Werte im Miteinander vorgibt.
Nach dem humanistischen Menschenbild ist das Individuum bestrebt, sich frei zu entfalten und seine Entwicklungsmöglichkeiten voll auszuschöpfen. Der Mensch wird als aktiv gestaltendes Lebewesen gesehen, das sich seines Verhaltens bewusst ist und dieses willentlich steuern und beeinflussen kann.
„Im Hinblick auf Weltanschauung, Ethik und Weltorientierung ist die Individualpsychologie Alfred Adlers humanistische Psychotherapie“, schreibt Kornbichler in seinem 2007 erschienenen Werk über Alfred Adlers Individualpsychologie. Die humanistische Psychologie, massgeblich geprägt durch Charlotte Bühler, Abraham Maslow, Carl R. Rogers und andere, versteht sich als dritte Kraft neben der Tiefenpsychologie und dem Behaviorismus. Diese Bewegung entstand nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa, erreichte ihre Blütezeit in den 50er und 60er Jahren in den USA und kehrte dann nach Europa zurück.1
Die Individualpsychologie ist eine spezielle Schule der Tiefenpsychologie. Doch anders als die ursprüngliche tiefenpsychologische Lehre Freuds, die den Menschen als triebgesteuertes Wesen sieht, das durch Moral und Verhaltensnormen gebremst wird, betrachtet Adler den Menschen als aktives Wesen, das sein Verhalten bewusst steuern und beeinflussen kann. Somit weist die Individualpsychologie bereits humanistische Tendenzen auf, wonach der Mensch sich entwickeln und aufsteigen kann.
Alfred Adlers Individualpsychologie: Raus aus der Opferrolle, rein in die Selbstverantwortung
Der holistische und psychodynamische Ansatz von Alfred Adler (Arzt und Psychotherapeut, 1870-1937) – die Individualpsychologie, entwickelt im 20. Jahrhundert – war ein Vorreiter der positiven Psychologie und hatte zum Ziel, persönliches Wachstum zu fördern und Menschen zu befähigen, ihre Schwierigkeiten zu überwinden und letztlich in die Selbstverantwortung zu gelangen.
Die Individualpsychologie soll Menschen helfen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, Verantwortung für sich und andere zu tragen und dieser Verantwortung gerecht zu werden. Sie fördert ein stärkeres Selbstbewusstsein im doppelten Sinne: Selbstvertrauen und Selbstbeobachtung. Werteorientiertes, verantwortungsvolles und ethisch begründetes Handeln wird in der Individualpsychologie zur Maxime des Individuums. Deshalb ist es besonders wichtig, dass Unternehmer, Manager, Geschäftsführer und alle, die verantwortungsvoll mit ihren Mitmenschen umgehen möchten – ob Mitarbeiter, Kollegen, Partner, Freunde oder Kinder – die Prinzipien der Individualpsychologie im täglichen Miteinander umsetzen.
„Sie sieht den Menschen als unteilbare Einheit und geht von einem ganzheitlichen Verständnis der Handlungs- und Erlebniswelten aus. Sie sieht auch die menschliche Gemeinschaft als Einheit, in deren Gefüge sich der Einzelne nicht isoliert betrachtet verstehen lässt. Menschliche Entwicklung vollzieht sich in einem Spannungsumfeld sowohl vom Bewussten als auch Unbewussten als auch zwischen Individuum und Gesellschaft. Die Individualpsychologie war das erste psychologische System, das in sozialwissenschaftlicher Richtung entwickelt wurde.“ 2
Die Säulen von Adlers Theorie haben eine soziale und humanistische Komponente und bieten eine positive Sicht auf den Menschen. Sie machen die Individualpsychologie zu einer bemerkenswerten Therapie, die darauf abzielt, den Menschen zum Gestalter seines Lebens zu machen und ihm die aktive Aufgabe zu übertragen, seinem Leben einen Sinn zu geben und dadurch die Gesellschaft mitzugestalten.
Die wichtigsten Grundbegriffe der Individualpsychologie sind:
- Das Gemeinschaftsgefühl: Ein zentrales Element zur Überwindung der gesellschaftlichen Spaltung.
- Der psychologische Lebensstil: Projektionen auf andere Menschen vermeiden, um gesellschaftlichen Frieden zu erhalten.
- Finalität des Verhaltens: Motivation und zielgerichtetes Handeln verstehen.
- Die drei Lebensaufgaben: Gemeinschaft, Arbeit/Beruf, Liebe.
- Minderwertigkeitsgefühle: Diese behindern den Weg zur Selbstverantwortung.
- Ermutigung und Selbstermutigung: Grundlagen für persönliches Wachstum und gesellschaftliche Verantwortung.
Das Gemeinschaftsgefühl zur Überwindung der gesellschaftlichen Spaltung
Die Individualpsychologie möchte das Gemeinschaftsgefühl eines jeden Menschen stärken, denn Menschen brauchen soziale Netzwerke und Interaktionen, um zu überleben, sich sicher zu fühlen, zu lernen und glücklich zu sein. Fast alle Lebensprobleme eines Menschen entstehen durch die Störung dieses Grundbedürfnisses. Minderwertigkeitsgefühle – zu denen wir später noch detaillierter kommen – sind oft die Folge eines unzureichend ausgeprägten Gemeinschaftsgefühls. „Nur wenn wir uns gleichwertig fühlen, können wir uns unseres Platzes in der Gemeinschaft sicher sein und das notwendige Gefühl der Zusammengehörigkeit entwickeln.“ 3
Die Grundhaltung eines jeden Menschen sollte nach Adler Mitmenschlichkeit sein. Er empfiehlt, die folgenden Eigenschaften zu kultivieren: Mit den Ohren des anderen hören, mit den Augen des anderen sehen und mit dem Herzen des anderen fühlen.
Adler betont, dass wir andere Menschen nicht aus unserer Ego-Perspektive betrachten sollten, in der Schwächen im Vordergrund stehen, sondern alle Menschen aus der Sicht des Herzens als ganzheitliche und liebevolle Wesen betrachten.
Die Grundlage des Gemeinschaftsgefühls wird in der Kindheit gelegt, doch Adlers Ansatz geht davon aus, dass jeder es auch im Erwachsenenalter stärken und weiterentwickeln kann. Vertrauen, Ermutigung, Wertschätzung und respektvolles Verhalten setzen ungeahnte Potenziale frei und schaffen Menschen, die sich zugehörig fühlen und Verantwortung übernehmen. Führungskräfte sollten dieses Grundwissen über soziale Zusammenhänge kennen und in ihrem beruflichen Umfeld anwenden.
Der psychologische Lebensstil: Projektionen auf andere Menschen vermeiden, um gesellschaftlichen Frieden zu erhalten
Der psychologische Lebensstil umfasst die Summe unserer Lebenserfahrungen und das daraus unbewusst erlernte Verhalten. Die in der Kindheit gewonnenen Einsichten und Vorstellungen über sich selbst, die anderen und das Leben werden auch als erwachsener Mensch konstant aufrechterhalten. Viele Lebensprobleme und Schwierigkeiten entstehen als Folge von Irrtümern im psychologischen Lebensstil. Das ist auch der Grund, warum manche Menschen ihre Probleme nach aussen projizieren – also auf andere Menschen in ihrem Umfeld übertragen – anstatt diese bei sich selbst zu suchen. Ein harmonisches Miteinander wird dadurch unmöglich. Der psychologische Lebensstil müsste in diesem Fall nach Adler einer Überprüfung und Neubewertung unterzogen werden, um Schäden an der eigenen Gesundheit und letztlich an unserer Gesellschaft in ethisch-moralischer und wirtschaftlicher Sicht zu vermeiden oder zumindest zu reduzieren. Die Statistiken der Krankenkassen über die drastische Zunahme an psychischen Erkrankungen bestätigen den dringenden Handlungsbedarf und die Notwendigkeit eines Umdenkens in unserer Gesellschaft. Für psychologische Unterstützung sollte es mehr Akzeptanz in der Gesellschaft geben, und die Krankenkassen sollten verstärkt lösungsorientierte statt problemorientierte Therapien finanzieren.
Finalität des Verhaltens und Motivation
Menschliches Verhalten ist – bewusst oder unbewusst – immer zielgerichtet und erklärt sich erst aus der Zielsetzung heraus und den daraus resultierenden Handlungen und Ergebnissen. „An den Taten kannst du die wahre Absicht erkennen“, resümierte Adler. Um menschliches Verhalten zu verstehen, fragt die Individualpsychologie nicht, warum sich jemand in einer bestimmten Weise verhalten hat, sondern zu welchem Zweck: Welche Absichten und Ziele verfolgte er damit?
Wenn ein Mitarbeiter einer Firma beispielsweise ständig krankgeschrieben ist, müsste der Chef ihn fragen: „Wozu sind Sie ständig krank?“ Laut Adler kann es sein, dass Menschen unbewusst Krankheit als Lösung wählen, um Schonung zu erfahren – etwa krank zu sein, um einen Workshop nicht durchführen zu müssen, aus Angst vor Versagen. Ein Individualpsychologe würde sich die Biografie des Klienten ansehen und ein Muster erkennen, warum Krankheit als Lebensbewältigungskonzept unbewusst gewählt wird. Mit dieser gewonnenen Erkenntnis kann der Klient sein sinnloses Verhalten erkennen, neu bewerten und anders handeln.
Auch Motivation ist eng mit der Zielgerichtetheit verknüpft und bei jedem Menschen unterschiedlich. Führungskräfte, die Kenntnisse der Individualpsychologie haben, könnten erkennen, wie ihre Mitarbeiter erfolgreich motiviert werden können und dass nicht jeder Mitarbeiter identische Motivationsmuster hat.
Die drei Lebensaufgaben
Adler definiert drei zentrale Lebensaufgaben: Gemeinschaft, Beruf/Arbeit und Liebe. Die ausgewogene Erfüllung dieser drei Lebensaufgaben, die eng miteinander verbunden sind und ein hohes Mass an Gemeinschaftsgefühl erfordern, bildet die Wurzeln einer gesunden Gesellschaft.
- Beruf/Arbeit: Der aktuelle Zeitgeist zeigt jedoch eher eine hochneurotische Berufsgesellschaft, in der statt Respekt und Gemeinschaftsgefühl oft Rücksichtslosigkeit und Ellenbogenmentalität gefordert werden, um befördert zu werden. Mobbing ist fast zur Normalität geworden. Beruf und Arbeitswelt sind die Felder, auf denen Minderwertigkeitsgefühle kompensiert und das Selbstwertgefühl vermeintlich aufgebaut werden. Die meisten Menschen definieren sich nur noch über ihre Arbeit, da Erfolg und Gewinnmaximierung in unserer Leistungsgesellschaft Priorität haben. Was bleibt von diesen Menschen übrig, wenn sie ihre Arbeit verlieren? Erst dann werden sie vielleicht ihre Werte hinterfragen und sich neu definieren müssen.
- Liebe: Die Lebensaufgabe Liebe verlangt von den Partnern ein hohes Mass an Gemeinschaftsgefühl sowie an Verbundenheit und Toleranz. Hier ist Nähe gefragt, und Kompromissfähigkeit – dies fühlt sich für viele Menschen aufgrund schlechter Erfahrungen jedoch eher erdrückend an. Jeder ist nur noch auf die Befriedigung seiner ego-getriebenen Wünsche aus. Lieben will gelernt sein und erfordert viel Selbstbewusstsein. Liebe ist die bedingungslose Annahme des anderen, und diese innere Haltung müssen wir bereit sein, zu entwickeln.
- Soziale Einbindung: Ob sich eine Person gemeinschaftlich engagiert, hängt entscheidend davon ab, ob sie sich der Gemeinschaft zugehörig fühlt. Die Schweiz bietet ein gutes Beispiel für funktionierende Dorfgemeinschaften, in denen Zusammenhalt noch wichtig ist. Oftmals spielt sich das Sozialleben in den Vereinen der Gemeinden ab, und mehr Menschen übernehmen ein Ehrenamt, weil sie in diesem kleinen Umfeld mehr verändern können als beispielsweise in einer Grossstadt. Diese dritte Lebensaufgabe der sozialen Einbindung kann sehr bereichernd sein, da wir nicht nur andere Lernerfahrungen sammeln, sondern auch das Gefühl der Zugehörigkeit, Bedeutung und Herzlichkeit erleben können, das in den anderen Lebensaufgaben nicht immer möglich ist.
Ängste und Minderwertigkeitsgefühle als Hindernisse auf dem Weg zur Selbstverantwortung
Ängste: Nachrichten, die Angst erzeugen und ausserhalb des persönlichen Erfahrungsbereichs liegen und die man nur schwer umfassend beurteilen kann, beunruhigen, lähmen und machen uns handlungsunfähig. Wir verschwenden viel Zeit damit, anderen zuzuhören und vernachlässigen dabei unsere Selbstverantwortung.
Es ist hilfreich, sich mit den eigenen Ängsten auseinanderzusetzen und ein Auge darauf zu haben, wann Ängste für einen dahinterliegenden Zweck überhöht oder gar instrumentalisiert werden. Zudem sollten wir Ängste auch positiv bewerten und sie in gewissem Masse als schützenden Teil unseres Lebens annehmen. Sie können zu einem vernünftigen Umgang mit alltäglichen Gefahren beitragen und Antrieb für positive Entwicklungen sein. In der Regel lösen sich Sorgen nach kurzer Zeit wieder auf. Wenn Menschen erste Stresssymptome bemerken, ist es hilfreich, ausreichend Entspannung sowie körperliche Aktivitäten in den Alltag einzubauen – das ist angstlösend.
Fritz Riemann schrieb 1995: „Wir können nur versuchen, Gegenkräfte gegen Angst zu entwickeln wie Mut, Vertrauen, Erkenntnis, Macht, Hoffnung, Demut, Glaube und Liebe. Diese können uns helfen, Angst anzunehmen, uns mit ihr auseinanderzusetzen und sie immer wieder neu zu besiegen.“
Für Adler sind Ängste die konkreteste Form des Minderwertigkeitsgefühls, was bedeutet, dass die Ausprägung der Angst der Ausprägung des Minderwertigkeitsgefühls entspricht. Auch sind Ängste im individuellen psychologischen Lebensstil der Menschen verankert und haben meist einen Vermeidensaspekt, z.B. mit der Angst vermeide ich etwas tun zu müssen, oder einen Erreichensaspekt, z.B. mit der Angst will ich erhöhte Aufmerksamkeit erlangen.
Ein erfolgreicher Umgang mit Angst besteht laut Adler in der Annahme der Angst. In einem weiteren Schritt könnte ein Angstszenario gedanklich durchgegangen werden, wobei man sich vorstellt, was im schlimmsten Falle passieren könnte – die Vorwegnahme der Angst. Dann könnte man einen Massnahmenplan für ein Worst-Case-Szenario entwickeln. Menschen, die sich mental so vorbereiten, sind in der konkreten Situation tatsächlich angstfreier. Eine zweite Erkenntnis ist dabei, dass das Leben dennoch meist unverändert weitergeht.
Minderwertigkeitsgefühle: Die Theorie des Minderwertigkeitsgefühls zielt darauf ab, diese Wahrnehmung zu deaktivieren, denn unser Ziel ist es – wie auch in der humanistischen Theorie – Exzellenz und Selbstverwirklichung zu erreichen. Die Voraussetzung dafür ist ein gesundes Selbstwertgefühl. Das im psychologischen Lebensstil fest verankerte Minderwertigkeitsgefühl führt zu permanent überkompensierenden Handlungsweisen in Lebensbereichen und Situationen, in denen dies möglich erscheint (Schule, Studium, Beruf). Dieses Streben ist geprägt vom Wunsch nach Geborgenheit, Anerkennung, Liebe und Wertschätzung – all das entsteht, wenn wir uns zugehörig fühlen.
Menschen, die überkompensieren, fehlt die Erfahrung, dass sie allein durch ihre blosse Existenz als Menschen einen sicheren Platz im Leben haben und sich diesen nicht immer wieder durch Beweise erkämpfen müssen. Als wichtigste Aufgabe sah Adler die Überwindung der Minderwertigkeitsgefühle an, um die Weichen zur Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls zu stellen.
Ermutigung und Selbstermutigung: Grundlagen für persönliches Wachstum und gesellschaftliche Verantwortung
Die vorangegangenen Säulen der Theorie Adlers machen deutlich, dass die Grundprobleme der Menschen mit Minderwertigkeitsgefühlen, Ängsten und falsch erlernten Mustern im psychologischen Lebensstil zu tun haben und sie daran hindern, ihre Aufgaben im Leben aktiv umzusetzen und Selbstverantwortung zu übernehmen.
Ermutigung kann verschiedene Formen annehmen und in unterschiedlichen Bereichen angewendet werden: die Ermutigung für sich selbst, die Ermutigung anderer durch einen selbst, die Ermutigung als Aufgabe der Mitarbeiterführung und die Ermutigung in der psychologischen Begleitung von Menschen.
Die Individualpsychologie soll Menschen ermutigen, trotz ihrer Fehlentwicklungen im psychologischen Lebensstil ihre Situation zu jedem Zeitpunkt neu bewerten zu können und bewusst Einfluss auf ihr Denken und Handeln zu nehmen. Neubewertung bedeutet ein erneuertes und reflektiertes Selbstbewusstsein – die Bereitschaft, sich selbst mit allen Stärken und Schwächen anzunehmen und an sich zu arbeiten.
Dies kann der konstruktive Umgang mit Ängsten sein, wie zuvor erläutert, das Annehmen von Schicksalsschlägen und das Wachsen an ihnen, anstatt zu resignieren, die Bereitschaft, die Komfortzone zu verlassen und sich den Aufgaben des Lebens zu stellen.
Wenn Menschen darüber hinaus ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass sie nicht weniger wert sind als andere, sondern – wie Adler sagte – „als soziale Wesen gleichwertig sind“, dann gelingt es ihnen, ein gesundes Selbstwertgefühl und neues Vertrauen in sich und ihre Fähigkeiten zu entwickeln.
Im Miteinander mit anderen Menschen wird immer das Verhalten bewertet. Dabei wird Anerkennung oder Kritik ausgesprochen. Häufig werden diese Bewertungen als Entwertung wahrgenommen, wenn sie sich nicht auf das Verhalten, sondern auf die Wertigkeit als Mensch beziehen. Es bleibt jedoch unsere Entscheidung und Verantwortung, wie wir die Bewertung aufnehmen. Positive oder negative Bewertungen anderer sollten wir nur im Hinblick auf unser Verhalten zulassen, aber niemals unseren Wert als Mensch dadurch in Frage stellen. Es ist empfehlenswert, zwischen „Wertigkeit als Mensch“ und „Verhalten“ zu unterscheiden. Dieses Prinzip sollten wir auch berücksichtigen, wenn wir andere Menschen bewerten.
Ermutigung im Arbeitsumfeld setzt ein ähnliches Menschenbild voraus. Die innere Einstellung sollte sein, die Mitarbeiter wirklich verstehen zu wollen, sie anzunehmen, wie sie sind, und sie zu ermutigen. Anstatt Mitarbeiter wie eine notwendige Ressource zu betrachten, schaffen Werte wie Wertschätzung, Achtung, Respekt und Vertrauen ein viel nachhaltigeres Arbeitsumfeld und können ungeahnte Potenziale und Verantwortungsgefühl freisetzen.
Schlussbetrachtungen
Alexander Kissler lieferte in seinem im September 2020 erschienenen Buch „Die infantile Gesellschaft: Wege aus der selbstverschuldeten Unreife“ eine messerscharfe Gesellschaftsanalyse, die darlegt, dass sich Erwachsene zunehmend wie Kinder benehmen und von Politikern auch so behandelt werden. Infantile Gesellschaften, so Kissler, bestehen aus Individuen, die nie erwachsen geworden sind und ihren psychologischen Lebensstil nie neu bewertet haben. Sie sind passiv und sehr leicht manipulierbar. „Der kindische Mensch wird schnell zum manipulierten Bürger – oder zum skrupellosen Machthaber.“ 4
Die Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Richtungswechsels, bei dem möglichst viele erwachsene Bürger wieder Verantwortung übernehmen, wird hier überdeutlich. Wenn genügend Menschen Verantwortung übernehmen, haben wir als Gesellschaft eine sehr gute Chance, unsere Freiheit zurückzuerobern.
Adlers Individualpsychologie bietet bemerkenswerte positive Lösungs- und Transformationsansätze für eine prosperierende und erwachsen gewordene Gesellschaft. Alle Menschen können Selbstverantwortung entwickeln, selbst wenn sie in ihrem Leben keine idealen Startbedingungen hatten.
Jedem Menschen ist es jederzeit möglich, sich aus seiner Opferhaltung zu befreien und sein Leben in die Hand zu nehmen, wenn er gewillt ist, seinen psychologischen Lebensstil neu zu bewerten. Auch die Stärkung des Gemeinschaftsgefühls durch Vertrauen, Respekt und Wertschätzung im Miteinander kann ungeahnte Potenziale freisetzen und Menschen dazu ermutigen, Verantwortung zu übernehmen.
Adler betont, dass die drei Lebensbereiche Beruf/Arbeit, Liebe und soziale Einbindung die Basis einer gesunden Gesellschaft bilden. Entscheidend ist, dass die Werte der Individualpsychologie in all diesen Bereichen auch angewandt und gelebt werden. Wenn z.B. eine Führungskraft ihren Mitarbeitern mehr Menschlichkeit und Wertschätzung entgegenbringt und sie ermutigt, anstatt sie nur als Arbeitsressource zu betrachten, dann entwickeln die Mitarbeiter ein starkes Zugehörigkeitsgefühl zu ihrer Arbeit. Ein starkes Zugehörigkeitsgefühl wiederum stärkt die Verantwortungsübernahme und führt automatisch zu einer verbesserten Leistung. Hier wird eine positive Spirale in Gang gesetzt, die sich selbst verstärkt.
Im Bereich Liebe ist es entscheidend, eine Haltung zu entwickeln, die den Partner bedingungslos annimmt. Durch die Übernahme eines Ehrenamtes in einer Gemeinschaft stärken wir unser Zugehörigkeitsgefühl, unsere Bedeutung und gleichzeitig den Zusammenhalt von Gemeinschaften.
Als wichtigste Aufgabe sah Adler die Überwindung von Minderwertigkeitsgefühlen und Ängsten an. Die Akzeptanz von Ängsten und die Bereitschaft, sich selbst mit allen Stärken und Schwächen anzunehmen und an sich zu arbeiten, schaffen ein erneuertes Selbstbild, das uns von allen erlernten und beschränkenden Mustern der Vergangenheit befreien und uns mit gesundem Selbstbewusstsein zuversichtlich in die Zukunft blicken lässt.
Aus diesem neu entwickelten Bewusstsein heraus gelingt es uns, andere Menschen liebevoll in ihrer Ganzheit anzunehmen und ihnen vorzuleben, welches verantwortungsvolle Miteinander wir uns gesellschaftlich wünschen.
Eine unbequeme, aber wichtige Erkenntnis der Individualpsychologie ist, dass wir für alle Entscheidungen im Leben selbst verantwortlich sind. Die positive Botschaft lautet jedoch, dass wir uns jederzeit entscheiden können, was wir in Zukunft sein wollen.
Jetzt ist die Zeit zu handeln! Werden wir endlich erwachsen und übernehmen Verantwortung!
Amélie auf der Brücken
Die Autorin, Jahrgang 1974, studierte Betriebswirtin M.Sc. in Grossbritannien, ist Transpersonaler Coach, Yogalehrerin, Freigeist und Anhängerin der Österreichischen Schule der Nationalökonomie. Ihre Website: https://holistic-yogacoaching.ch/
Quellenangaben:
1 Claudia Thöndel “Individualpsychologie und Humanismus“, Seminararbeit 2017
2 Rudolf Meindl, Selbstverantwortung, Alfred Adlers Individualpsychologie in Beziehung, Beruf und Gesellschaft, 2. Auflage, Kiener Verlag 2014
3 Rudolf Meindl, Selbstverantwortung, Alfred Adlers Individualpsychologie in Beziehung, Beruf und Gesellschaft, S. 23
4 Die infantile Gesellschaft – Wege aus der selbstverschuldeten Unreife, Alexander Kissler, 2020