In der sozialistischen wie auch marxistischen Sichtweise ist die aussergewöhnliche Entwicklung Europas auf eher zufällige wissenschaftliche Fortschritte in Verbindung mit einer «primitiven Akkumulation» von Kapital zurückzuführen — ermöglicht durch autoritären Imperialismus, Sklaverei und Sklavenhandel, die Enteignung von Kleinbauern und die flächendeckende Ausbeutung der Arbeiterklasse.
Diese Behauptungen klammern jedoch den entscheidenden Faktor aus, der Europa von anderen grossen Zivilisationen wie etwa China, Indien oder dem islamischen Raum unterschied: Europa genoss eine relativ geringe politische Behinderung und damit ein relativ grosser Schutz des Privateigentums. Doch woran lag das? Einen entscheidenden Beitrag leistete die radikale Dezentralität, die für Europa charakteristisch war. Im Gegensatz zu den umfassenden Reichen des Orients und der antiken Welt besass das Unternehmertum in Europa aufgrund der vielen miteinander konkurrierenden Gebietskörperschaften eine Blütezeit, die in der restlichen Welt ihresgleichen suchte.
In diesem wettbewerbsintensiven Umfeld wäre es für Fürsten ungemein unklug gewesen, Eigentumsrechte in der Art zu missachten, wie es in anderen Teilen der Welt durchaus üblich war. In dauerhafter Rivalität miteinander erkannten die politischen Herrscher, dass Enteignungen, konfiskatorische Besteuerung und die Unterdrückung des Handels nicht ungestraft blieben. Die Strafe bestand darin, dazu verdammt zu sein, zusehen zu müssen, wie sich die Rivalen wirtschaftlich relativ besser entwickelten; häufig durch selbst verursachte Kapitalabwanderungen der Unterdrückten und Enttäuschten in die Nachbarreiche. Die Möglichkeit der Abwanderung, die «Exit Option», erleichtert durch die geografische Kompaktheit und einer gewissen kulturellen Ähnlichkeit innerhalb Europas, verwandelte die Staaten in «gebändigte Raubtiere». Dies ermöglichte den einzigartigen wirtschaftlichen Aufstieg Europas.
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