Die Lage der europäischen Gesellschaften ist in vielerlei Hinsicht besorgniserregend. Die Probleme sind tiefgreifend und weitreichend, und in vielerlei Hinsicht befindet sich das gesamte europäische Gesellschaftsmodell – das weitgehend auf verschiedenen Formen des Wohlfahrtsstaates basiert – in einer Krise.
Der Zusammenhang zwischen Freiheit und individueller Verantwortung ist in vielen europäischen Ländern in den letzten Jahrzehnten verschwommen. Europa ist in Bezug auf wirtschaftliche Dynamik, technologische Entwicklung und Innovation ins Hintertreffen geraten, insbesondere im Vergleich zu den Vereinigten Staaten oder China. Es gibt jedoch auch erfolgreiche Beispiele – wie Dänemark, das es geschafft hat, seine Wirtschaft und Gesellschaft im Einklang mit den Anforderungen der Zeit zu reformieren.
In Dänemark ist die Beschäftigung nach wie vor hoch, und Langzeitarbeitslosigkeit ist im Vergleich zu Ländern wie Finnland kein grosses Problem. Im Jahr 2023 lag der Anteil der Langzeitarbeitslosen an allen Arbeitssuchenden in Dänemark bei etwa 15 bis 18 %, während der EU-Durchschnitt bei über 35 % lag. In Finnland gibt es unabhängig von der jeweiligen Regierung eine konstante Zahl von etwa 100.000 Menschen, die dauerhaft ausserhalb des Arbeitsmarktes stehen.
Im Grossen und Ganzen teilen die europäischen Länder weiterhin die Ethik des Wohlfahrtsstaates, der sich auf einen grossen öffentlichen Sektor und umfangreiche öffentliche Dienstleistungen konzentriert. Viele der in den letzten Jahrzehnten erworbenen Ansprüche bleiben bestehen, darunter grosszügiger bezahlter Urlaub und Feiertage. Einige Länder haben sogar über die Einführung einer Vier-Tage-Woche diskutiert, obwohl es dafür kaum stichhaltige wirtschaftliche Gründe gibt, wie Antti Kauhanen, Forschungsdirektor bei ETLA (2025), feststellt.
Die Arbeitslosenunterstützung spiegelt nach wie vor das europäische Sozialmodell wider, in dem soziale Sicherheit als Grundrecht und gesellschaftliche Verpflichtung angesehen wird. Im Gegensatz dazu betrachtet die USA soziale Sicherheitsnetze als vorübergehende Hilfe, wobei erwartet wird, dass jeder Einzelne in erster Linie selbst für die Lösung seiner Probleme verantwortlich ist. Dieser Ansatz ist vor allem deshalb tragfähig, weil die Dynamik und das Wachstum der Wirtschaft kontinuierlich Arbeitsplätze schaffen.
Die wirtschaftlichen Herausforderungen in Europa werden in Mario Draghis Bericht für 2024 deutlich. Demnach betrachten über 60 % der in Europa tätigen Unternehmen Regulierung als ein grosses Hindernis für Investitionen. Darüber hinaus nennt mehr als die Hälfte der kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) den Verwaltungsaufwand als Haupthindernis für Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen. Dies spiegelt ein strukturelles Problem wider, das nicht nur mit der Bürokratie, sondern auch mit der Art der politischen Entscheidungsfindung in Europa zusammenhängt.
Passive Strukturen schaffen keinen gesellschaftlichen Mehrwert
Der französisch-schweizerische Philosoph und Staatsmann Benjamin Constant untersuchte Anfang des 19. Jahrhunderts die Begriffe Freiheit und Souveränität auf eine Weise, die bis heute hochaktuell ist. Für Constant waren passive Freiheit und uneingeschränkte individuelle Souveränität keine echte Freiheit.
Passive Freiheit bedeutete für Constant eine Situation, in der Individuen frei waren, ohne Einschränkungen zu handeln, aber auch ohne Verantwortung für ihre Handlungen oder ihren Beitrag zum Gemeinwohl. Seiner Ansicht nach war eine solche Freiheit hohl, da sie die gemeinsame moralische Grundlage vernachlässigte, die für eine funktionierende Gesellschaft notwendig ist. Daher war für ihn die Idee von Freiheit ohne Verantwortung nicht tragfähig.
In der Philosophie von Constant war der Grundstein einer funktionierenden Gesellschaft ein gemeinsamer Moralkodex, in dem persönliche Freiheit, kollektive Werte und öffentliche Moral sich gegenseitig stützen. Dieses Zusammenspiel schafft gesellschaftliche Stabilität, Fortschritt und letztlich ein Gefühl der Sicherheit.
Wenn wir auf Europa in den letzten Jahrzehnten blicken, sehen wir, dass diese grundlegenden Elemente in vielen Ländern fehlen. In jüngerer Zeit sind soziale Instabilität und Gewalt aufgetreten, insbesondere in Frankreich, Deutschland und dem Vereinigten Königreich. In den meisten Fällen wurden diese gewalttätigen Ausschreitungen von jungen Menschen mit Migrationshintergrund verübt, die oft unter mehrfacher sozialer Ausgrenzung leiden.
Aus der Sicht von Constant erscheinen die heutigen passiven Strukturen und fest verankerten Ansprüche, die nur wenige bereit sind aufzugeben, als chronische Probleme der europäischen Gesellschaften. Der britische Soziologe Sir Anthony Giddens hat bereits in den 1990er Jahren auf die strukturellen Mängel des Wohlfahrtsstaates hingewiesen.
Giddens zufolge führten passive Einkommensübertragungen zu verschiedenen sozialen Problemen wie Armut und Anreizfallen, die schliesslich zu einem moralischen Risiko führten – einer Situation, in der die individuelle Verantwortung erodiert und die Mechanismen der sozialen Unterstützung eine Abhängigkeit perpetuieren.
Ironischerweise haben Politiker diese Probleme oft noch verschärft.
In Finnland beispielsweise hat die Regierung von Ministerpräsident Petteri Orpo (Nationalkoalitionspartei) die sogenannte Einkommensfreistellung abgeschafft, die zuvor Teilzeitarbeit oder Gig-Work gefördert hatte, indem sie keine sofortige Kürzung der Sozialleistungen vorsah. Diese Entscheidung traf insbesondere Menschen in den Bereichen Wissenschaft, Kultur, Kunst und Sport hart. Infolgedessen ist die von Giddens beschriebene Anreizfalle in Finnland im Jahr 2025 zu einem selbstverschuldeten und sich selbst verstärkenden Phänomen geworden. Die Begründung des damaligen Arbeitsministers Arto Satonen (NCP) war bestenfalls unbeholfen – nur wenige Menschen entscheiden sich freiwillig für Teilzeitarbeit als langfristige Option.
Kein europäisches Modell hat sich bewährt
Seit Jahrzehnten diskutiert Europa über strukturelle Probleme in seiner Wirtschaft und Gesellschaft, wobei die Arbeitslosenunterstützung einer der grössten Kostenfaktoren ist. Die europäischen Arbeitslosenversicherungssysteme sind zwar im Vergleich zu den USA grosszügig, aber oft noch unzureichend, mit Ineffizienzen, Anreizproblemen und bürokratischer Komplexität belastet.
Der einzige wirklich nachhaltige Ansatz wäre eine nahtlosere Integration von Erwerbseinkommen und Sozialleistungen. Einkommensgrenzen sollten abgeschafft werden, und die Einkommensfreibeträge sollten grosszügig genug sein, um den Menschen zu helfen, aus der Krise herauszukommen und wieder Kontrolle über ihr Leben zu erlangen.
Dies würde unnötige Bürokratie und die Abhängigkeit von Sozialhilfe als letztes Mittel (wie in Finnland) verringern und gleichzeitig die Würde, die Kaufkraft und möglicherweise auch die psychische Gesundheit und Arbeitsfähigkeit verbessern. Laut dem finnischen Institut für Gesundheit und Soziales (THL) leiden 30 bis 40 % der arbeitslosen Arbeitssuchenden unter psychischen Problemen, die oft durch finanzielle Belastungen ausgelöst werden – was wiederum die Beschäftigung erschweren kann.
Voltaire hatte Recht – schon im 18. Jahrhundert
Benjamin Constants Idee eines gemeinsamen moralischen Rahmens könnte heute wiederbelebt werden, indem der Wert der Arbeit als Grundlage politischer und gesellschaftlicher Entscheidungen wiederhergestellt wird. Arbeit bietet dem Einzelnen im besten Fall Emanzipation – ein Gefühl der persönlichen Freiheit und Selbstbestimmung.
Wie der Philosoph Voltaire in seinem Roman Candide aus dem Jahr 1759 schrieb:
„Die Arbeit hält drei grosse Übel fern: Langeweile, Laster und Not.“
Dr. Pekka Väisänen ist ein finnischer Politologe und Doktor der Sozialwissenschaften. Seine Spezialgebiete sind die politische Entwicklung Europas, strategische Autonomie und die normativen Grundlagen der liberalen Demokratie.