Stellen wir uns vor, eine Mehrheit der Schweizer Bevölkerung würde – vielleicht nach Jahren der medialen Bearbeitung und politischer Desorientierung – an der Urne dem EU-Rahmenabkommen zustimmen. Der Vertrag, der das institutionelle Korsett Brüssels über das Schweizer Rechtssystem stülpt, wird uns euphemistisch als «Bilaterale III» verkauft. Tatsächlich bedeutet er jedoch den systematischen Bruch mit den Prinzipien, die den freiheitlichen Sonderfall Schweiz ausmachen: Unabhängigkeit, Neutralität, direkte Demokratie, Föderalismus, und ein dezentrales System, das Freiheit durch Verantwortung ermöglicht.
Noch gravierender: Um dieses Abkommen durchzudrücken, soll das Ständemehr – der föderalistische Schutzmechanismus der kleinen Kantone – kurzerhand ausgehebelt werden. Das für den nationalen Zusammenhalt so entscheidende föderale Bollwerk wird eingerissen. Die Schweiz wird zur untergeordneten Verwaltungsprovinz eines supranationalen Machtgebildes. Spätestens dann beginnt für jene Kantone mit einer freiheitlich eingestellten Bevölkerung der Moment der Entscheidung.
Ein neuer Sonderbund entsteht
Im Herzen der Eidgenossenschaft regt sich Widerstand. Die Innerschweizer Kantone Schwyz, Uri, Obwalden, Nidwalden, Zug und Luzern – historisch die Wiege der Unabhängigkeit – geben bekannt, dass sie den neuen Kurs nicht mittragen können. In aller Deutlichkeit, aber ohne Aggression, erklären sie ihren Austritt aus der heutigen Eidgenossenschaft – nicht aus Feindseligkeit, sondern aus Treue zur Idee Schweiz.
Sie könnten es nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren, all die Standortvorteile wissentlich und willentlich zu zerstören und sich Organisationen zu unterwerfen, die offensichtlich das Gegenteil von Freiheit, Privateigentum und Verantwortung anstrebten. Denn dies würde direkt in eine dystopische Tyrannei führen, wie ich sie in meinem neuen Zukunftsroman «Befreiungsschlag» beschrieben habe. Die Innerschweizer berufen sich auf ihr Recht zur Selbstbestimmung und bilden einen neuen Sonderbund.
Der Akt ist kein Angriff auf die übrige Schweiz – im Gegenteil: Mit den verbliebenen Kantonen sollen sofort Verträge über den freien Waren- und Dienstleistungsverkehr, die Personenfreizügigkeit und den gegenseitigen Schutz von Eigentum und Vertragssicherheit abgeschlossen werden. Der Sonderbund will keine Zölle, keine Mauern, keine Feindbilder – er will schlicht seine Freiheit bewahren.
Weshalb eine Sezession nötig ist
Der Grund ist einfach und schwerwiegend zugleich: Mit der Unterzeichnung des EU-Unterwerfungsvertrags und der Ausheblung des Ständemehrs verrät die Eidgenossenschaft die Prinzipien, auf denen sie einst gegründet wurde. Neutralität wird zur Floskel, Souveränität zur Illusion, und Föderalismus zum Museumsstück. Der neue Sonderbund hingegen will jene Werte wiederbeleben, die Freiheit, Wohlstand und Stabilität ermöglichten: Subsidiarität statt Zentralismus, Eigenverantwortung statt Bürokratismus, geschütztes Privateigentum statt Raubzug auf die Produktiven, Marktwirtschaft statt Planwirtschaft, weniger Macht für die Funktionärskaste, mehr Macht den Bürgern.
Der freiheitliche Sonderbund erkennt, dass gute Lebensbedingungen nicht durch Konformität mit den übergriffigen EU-Technokraten und WHO-Möchtegerndiktatoren gesichert wird, sondern durch Unabhängigkeit. Wenn eine Mehrheit bereit ist, sich einer zunehmend autoritär auftretenden EU und globalistischen Organisationen wie der WHO oder der UNO zu unterwerfen, dann bleibt der Minderheit nur die Entscheidung: mitziehen oder sich abgrenzen. Sich verknechten lassen und verarmen oder Rückgrat zeigen und die hohen Lebensstandards sichern. Die Innerschweizer wählen Letzteres – aus Liebe zur Freiheit, nicht aus Hass auf das Andere.
Oder: die radikale Rückkehr zur Subsidiarität
Dabei wäre es theoretisch auch anders möglich: Wenn sich die übrige Eidgenossenschaft auf ihren wichtigsten Erfolgspfeiler besinnen würde – wenn sie sich auf die konsequenteste aller föderalistischen Ideen einliesse: die maximale Subsidiarität. Das heisst: Gemeinderecht bricht kantonales Recht. Kantonales Recht bricht Bundesrecht. Und Bundesrecht bricht internationale Machtfantasien. Diese einfache Regel würde die Entscheidungsbefugnis wieder dorthin zurückverlagern, wo sie hingehört: zur Bevölkerung vor Ort. Damit liesse sich eine Sezession vermeiden. Doch ob der politische Wille dafür vorhanden ist? Ein unilateraler Austritt scheint derzeit jedenfalls realpolitisch einfacher.
Welche Kantone folgen könnten
Was in der Innerschweiz beginnt, könnte einmal mehr Schule machen, wie auch bei der Entstehung der Eidgenossenschaft im 13. Jahrhundert. Weitere bürgerlich orientierte Kantone könnten sich dem freiheitlichen Sonderbund anschliessen, weil sie dessen enormes Potenzial erkennen und sich vom Mut der Innerschweizer anstecken lassen, auf eigenen Beinen zu stehen.
Unwahrscheinlicher ist die Beteiligung der Westschweiz, die sich in den letzten Jahren in ihrer politischen Kultur immer weiter vom Rest der Schweiz entfernt hat. Ihre Wahl- und Abstimmungsresultate sind zunehmend sozialistisch, zentralistisch und EU-freundlich geprägt – ein kultureller Bruch, der sich nicht länger schönreden lässt. Gerade unter diesen Vorzeichen macht eine Ehe nicht mehr länger Sinn – man hat sich auseinandergelebt. Und wie es der Begriff der Eid-Genossenschaft ja schon sagt, handelt es sich um ein Bündnis, das man bei Unzufriedenheit auch wieder verlassen kann. So regelt es das Obligationenrecht. Man geht politisch getrennte Wege, bleibt aber in Freundschaft verbunden.
Die Freiheit neu denken – von Grund auf
Der Austritt aus der Eidgenossenschaft bietet die historische Chance, mit einem weissen Blatt Papier neu zu beginnen. Anstatt die unzähligen Vorschriften und Regulierungen aus Bundesbern, Brüssel und New York zu übernehmen, fragt sich der neue Sonderbund: Was braucht ein freies, friedliches und prosperierendes Gemeinwesen wirklich?
Natürlich werden zentrale Normen aus dem Obligationenrecht, dem Zivilgesetzbuch und dem Strafrecht übernommen. Die zehn Gebote – töte nicht, stiehl nicht, lüge nicht – bilden den moralischen Grundstock. Alles andere steht zur Diskussion. Was zählt, ist eine Ordnung, die die individuelle Freiheit ermöglicht und den Einzelnen vor Angriffen anderer schützt.
Das mag chaotisch wirken. Doch Chaos ist nicht zwangsläufig der Feind der Freiheit – oft ist es ihre Geburtsstunde. Es war nie der Staat, der die grossen Fortschritte brachte, sondern der Freiraum, der es den Menschen erlaubte, Verantwortung zu übernehmen. Aus dieser neugewonnenen Freiheit kann viel Positives entstehen. Die neue Schweiz wird zu einem regelrechten Anziehungspunkt für innovative Unternehmer weltweit, die Neues schaffen wollen, ohne von regulatorischen Fesseln daran gehindert zu werden.
Wie wird reagiert – und weshalb eine friedliche Lösung möglich ist
Die Reaktionen auf einen freiheitlichen Sonderbund wären vielfältig. Bundesbern würde empört reagieren, weil die dort herrschenden Bürokraten ihre Felle davonschwimmen sehen. Die staatstreuen Medien würden von «Separatisten» sprechen, von «Rückschritt», «Gefahr» und «Verfassungsbruch». Es würde juristische Drohungen hageln. Brüssel wäre alarmiert, weil das Beispiel Schule machen und Europa zu seinem einstigen Erfolgsmodell der vielen kleinen, im Wettbewerb miteinander stehenden Gebietskörperschaften zurückkehren könnte. Die UNO mitsamt WHO und anderen machtgierigen Unterorganisationen würde von «gefährlichem Nationalismus» sprechen, um von der noch viel gravierenderen Gefahr abzulenken, die von ihren Weltregierungsfantasien ausgeht.
Doch militärisch? Nein. Die Schweiz ist keine Militärdiktatur, die Panzer nach Luzern, Schwyz oder Zug schickt. Die Armee steht unter Milizkontrolle, ihre Mitglieder stammen aus denselben Tälern, die sich abspalten wollen. Ein militärisches Eingreifen wäre nicht nur undenkbar, es wäre selbst für Bundesbern politisch suizidal. In der Schweiz bleibt es friedlich.
Ein altes Versprechen wird eingelöst
Schon vor Jahren – im Jahr 2011 – trafen sich Vertreter der Innerschweiz auf dem Rütli. Dort wurde vereinbart: Sollte die Schweiz dereinst der EU beitreten, wird die Innerschweiz aus der Eidgenossenschaft austreten. Dieses Versprechen war kein PR-Gag, sondern Ausdruck einer tieferliegenden Überzeugung – dass es Grenzen gibt, bei denen man nicht mehr zurückweicht. Und der EU-Unterwerfungsvertrag, der Trick zur Ausheblung des Ständemehrs, aber auch das Abnicken der WHO-Diktatur durch Bundesbern, überschreiten zahlreiche dieser roten Linien.
Ein eigener Weg für Freiheitsfreunde
Ein freiheitlicher Sonderbund, der sich auf die ursprüngliche Idee der Schweiz besinnt, könnte für alle Menschen ein Magnet sein, die sich mit der politischen Entwicklung nicht mehr identifizieren können. Er könnte Investitionen und Talente anziehen sowie eine neue Gründerzeit einläuten. Ohne ideologische Regulierungswut, ohne Gleichmacherei, ohne fiskalische Gier – stattdessen mit Vertrauen in den Einzelnen.
Die Schweiz wurde nicht gross durch das Kopieren fremder Imperien, das Übernehmen zerstörerischer Regulierung und das Einknicken vor ausländischem Druck, sondern durch ihren Eigensinn, durch den Mut, Dinge anders zu machen. Vielleicht ist es an der Zeit, dass dieser Geist wieder aufersteht – nicht gegen die alte Schweiz, sondern für die Idee, die sie einmal war.
Olivier Kessler
Der Autor ist Direktor des Liberalen Instituts und Autor des neuerschienenen Romans «Befreiungsschlag: Hoffnungsschimmer für eine verloren geglaubte Welt». Dieser Beitrag ist in der Weltwoche erschienen.