Anfang Jahr liess der Bundesrat verlauten, dass es keine Massnahmen mehr brauche, wenn sich bis im Juli alle Impfwilligen geimpft hätten. Dies war im Juli längst der Fall, worauf etwa die stark rückläufigen Impfzahlen trotz intensiver Impfkampagne hindeuteten. Doch die Massnahmen halten weiter an. Auch betonte der Bundesrat mit Nachdruck, dass es niemals zu einer Impfpflicht kommen würde, weil dies ein persönlicher Entscheid sei. Auch diese Ankündigung wurde durch die Einführung des Covid-Zertifikats und die forcierte Ausgrenzung von Ungeimpften mehr als relativiert.
Trotz dieser leeren Versprechen scheinen viele nach rund eineinhalb Jahren der willkürlichen Aussetzung von Grundrechten hingenommen zu haben, dass heute nicht mehr alle frei und gleich an Rechten leben dürfen. Lehnten etwa im November 2020 noch 59 Prozent der Schweizer eine Sonderbehandlung für Personen mit Nachweis eines Covid-Zertifikats ab, befürwortete eine Mehrheit im April 2021 gemäss einer Comparis-Umfrage neu eine solche Zweiklassengesellschaft.
Sind die Bedürfnisse anderer wichtiger als die eigenen?
Dieser Meinungsumschwung scheint hauptsächlich dem penetranten Appell geschuldet zu sein, wonach man seine eigenen Bedürfnisse im Namen der Gesundheit zugunsten jener anderer zurückzustellen habe. Das Impfen wurde nicht mehr als eine Frage des Selbstschutzes behandelt, sondern als einen altruistischen Akt der individuellen Aufopferung zum angeblichen Wohle der Allgemeinheit. Der Kollektivismus als neuer ethischer Imperativ in der «aufgeklärten» Welt jener Individuen, die sich vor noch nicht allzu langer Zeit ihrer «selbstverschuldeten Unmündigkeit» (Kant) losgesagt hatten.
War es einst eine Selbstverständlichkeit in der «freien Welt», dass das Recht auf Privatsphäre seine schützende Hand um den Bereich der persönlichen Gesundheit legte und diese in der Eigenverantwortung jedes Einzelnen lag, wurden diese Grundsätze im Namen der Solidarität plötzlich in ihr Gegenteil verkehrt. Neu muss jeder regelmässig Auskunft über seinen Gesundheitszustand gewähren, während man gleichzeitig für die Gesundheit aller anderen verantwortlich gemacht wird, was mit einer freien Gesellschaft völlig inkompatibel ist. Denn die Grenzen der Freiheit jedes Einzelnen werden durch diese Absolutsetzung des Gesundheitsschutzes so eng gezogen, dass von individueller Freiheit überhaupt keine Rede mehr sein kann.
Diese wiederaufgewärmte Ideologie des Altruismus stiess auch deshalb auf breite intuitive Akzeptanz, weil sie immer noch tief in unseren Genen verankert ist: Das Überleben der überschaubaren Gruppe in der Stammesgesellschaft unserer Vorfahren hing stark von der Selbstaufopferung ab: Wer sich den Bräuchen und Traditionen des Stammes nicht unterwarf, wurde oft einen Kopf kürzer gemacht. Versucht man dieses altruistische Prinzip hingegen der heutigen anonymen Grossgesellschaft überzustülpen, wird man notwendigerweise scheitern, wie uns auch die vielen sozialistischen Experimente schmerzhaft vor Augen geführt haben.
Missbrauch des Solidaritätsbegriffs
Eine schlagkräftige Waffe im Arsenal der Kollektivisten ist der Solidaritätsbegriff, welcher im Zuge der Covid-Massnahmen bis zur Unkenntlichkeit verzerrt und missbraucht wird. «Solidarität» beschreibt genau genommen das unbedingte Zusammenhalten mit jemandem aufgrund gleicher Anschauungen und Ziele oder Sympathie. Dies impliziert, dass die gewährte Unterstützung oder das Eintreten für jemanden aus freien Stücken zu erfolgen hat — und nicht aufgrund der Nötigung in Form eines politisch angedrohten Ausschlusses aus der Gesellschaft: Nichts anderes stellt die exklusive Vergabe von Grundrechten an Zertifizierte dar. Natürlich erklärt es sich von selbst, dass gesunder Menschenverstand und gegenseitige Rücksicht ebenfalls eng mit einer freien Gesellschaft verbunden sind, weshalb man es beispielsweise unterlässt, seinen Mitmenschen ins Gesicht zu husten.
Jedes Mal, wenn als Rechtfertigung für politische Zwangsmassnahmen die Solidarität ins Feld geführt wird, stellt dies einen Versuch dar, Sonderinteressen von einigen auf Kosten anderer durchzusetzen, indem man die Interessen der einen zum Allgemeinwohl hochstilisiert und die Interessen der anderen als «egoistisch» brandmarkt. Dabei gibt es viele Gründe, die für oder gegen eine Impfung sprechen können — in beiden Fällen aus egoistischen und altruistischen Überlegungen, zumal es keinen wissenschaftlichen Konsens im Bezug auf die Wirkung der neuartigen Impfstoffe gibt.
Für eine Impfung könnte aus egoistischer Sicht der Selbstschutz sprechen, wenn man von einer positiven Nutzenbilanz der Impfung auf die eigene Gesundheit ausgeht, aus altruistischer Sicht der Gedanke, dass man damit andere vor Ansteckungen besser schützen könnte, sofern die Impfung die Ansteckung Dritter verhindert. Gegen eine Impfung könnte aus egoistischer Sicht ebenso der Selbstschutz sprechen, weil die langfristigen Folgen auf die eigene Gesundheit unklar sind und die Impfschäden jener einer Erkrankung überwiegen könnten. Wenn dem so ist, dann wäre eine altruistische Motivation beispielsweise, seine eigene Gesundheit nicht schwächen zu wollen, weil man entweder anderen nicht zur Last fallen will oder man damit auch seine solidarische Verantwortung gegenüber schwächeren Mitmenschen unter Umständen nicht mehr wahrnehmen könnte, etwa gegenüber seinen Kindern, betagten Eltern und Freunden.
Alleine diese kurze Reflexion belegt bereits, dass der moralisierende Fingerzeig völlig unangebracht ist und in keiner Weise dafür taugt, eine Apartheid-Politik zu legitimieren, welche die Menschheit in zwei Klassen aufteilt und eine davon anprangert, ausgrenzt und entrechtet. Liberale sollten sich einem solchen menschenverachtenden Unrechts-Regime entschlossen entgegenstellen, denn es bedroht nicht nur die stigmatisierten Minderheiten, sondern auch die liberale Idee als solche.
Dieser Beitrag ist am 18. August 2021 in etwas kürzerer Form in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen.
Olivier Kessler ist Direktor des Liberalen Instituts in Zürich.