Parteien und Politiker propagieren und beschliessen gerne Massnahmen, die angeblich im «öffentlichen Interesse» seien. Diese Interventionen dienten nichts ausser dem «Allgemeinwohl», weshalb sie gewissermassen «alternativlos» seien. Auch wenn das von Fall zu Fall auf den ersten Blick einleuchtend erscheinen mag, sollten Sie immer kurz innehalten, wenn jemand mit dem «Allgemeinwohl» und dem «öffentlichen Interesse» argumentiert. Denn meistens ist das ein billiger Trick, um Sonderinteressen zum Durchbruch zu verhelfen.
Zur Veranschaulichung des Problems wollen wir uns beispielhaft die politischen Reaktionen auf die Corona-Krise anschauen. Die allermeisten würden wahrscheinlich noch zustimmen, dass der Schutz der Gesundheit im öffentlichen Interesse liegt und es dem Allgemeinwohl diene, wenn möglichst viele Menschen gesund sind.
Doch die Herausforderung liegt nicht darin, Dinge ausfindig zu machen, die praktisch alle Menschen anstreben. Kandidaten neben der Gesundheit wären da z.B. Sicherheit, Glück und Freiheit. Kompliziert wird es vielmehr, wenn jemand die Gewichtung der einzelnen Werte untereinander für alle Menschen festlegen wollte, weil diese sich oftmals gegenseitig widersprechen.
Gesundheit ist wichtig, keine Frage. Doch muss sie deswegen für alle Menschen wichtiger sein als alles andere? Sollen alle eine Maske tragen, sich zuhause isolieren und auf soziale Kontakte verzichten müssen, um sich vor einer Ansteckung zu schützen? Können nicht auch der soziale Austausch, Berührungen und frische Luft ein ebenso wichtiges Grundbedürfnis darstellen? Sollen wir alle unsere verfügbaren Ressourcen auf die Gesundheitsförderung richten? Oder gibt es daneben noch Bereiche, für die ebenfalls Mittel zur Verfügung stehen sollten?
Risiken werden ignoriert
In politischen Debatten steht während kurzen Episoden oftmals ein einziges dominantes Thema im Vordergrund, wie eben z.B. die Bekämpfung eines Virus. Die Versuchung ist dann gross, fundamentale Realitäten zu ignorieren: nämlich, dass Ressourcen knapp sind und der gleiche Franken nur einmal ausgegeben werden kann.
Man kann nun dem Gesundheitswesen im Eifer des Gefechts viel mehr Steuergelder zukommen lassen und beschliessen, dass der Staat mehr Masken und Impfungen einkaufen solle. Doch das ist nur eine Seite der Medaille. Gleichzeitig müsste man dann auch sagen, wofür man gleichzeitig weniger Geld ausgeben will: Soll man anstatt dessen die Hilfe an den Armen und Behinderten zusammenstreichen? Oder vielleicht doch lieber den Pensionären weniger Rente auszahlen? Oder soll man bei den Krippenplätzen sparen?
Was man sieht, und was man nicht sieht
Die meisten Politiker tun so, als würde Geld auf den Bäumen wachsen. Sie tun so, als ob die Ressourcen endlos wären und wir im Paradies leben würden. Doch das sind verhängnisvolle Träumereien, die viel Schaden anrichten können.
Politiker sind Spezialisten darin, die Folgen ihres Handelns zu vertuschen und so zu tun, als könnten sie nur Nutzen bewirken, ohne dass jemand die Kosten tragen müssten. Doch in Wahrheit können sie nur Gelder verteilen, die zuvor jemandem unter Androhung oder Anwendung von Gewalt weggenommen wurden.
Diesen Nutzen, den die Politik angeblich stiftet, hatte der Aufklärungsphilosoph Frédéric Bastiat (1801—1850) als Ding bezeichnet, das wir sehen. Was er hier anspricht sind all die schönen Projekte, die Politiker auf den Weg bringen: den neuen Tunnel, den neuen Busbahnhof, die zusätzlichen Züge, das Schulhaus, die Erhöhung der Rente, die Aufstockung des Pflegepersonals etc.
Was wir hingegen nicht sehen, ist das, was wir uns durch die staatlichen Mehrausgaben in einem anderen Bereich nicht mehr leisten können. Wenn wir z.B. die Steuern erhöhen müssen, um mehr für den Gesundheitsschutz zu tun, so fehlt Privatinvestoren dadurch vielleicht gerade das nötige Geld, um eine bahnbrechende Innovation im Gesundheitswesen zu entwickeln, die viel mehr Leben gerettet hätte, als die zweiunddreissigste Präventionskampagne, die der Staat mit diesem Geld lanciert.
Der Mensch als einzigartiges Individuum
Verschiedene Menschen bewerten unterschiedlich, verfolgen Ziele, die sich von ihren Mitmenschen unterscheiden. Individuen sind nun einmal einzigartig. Auch wenn wir uns hinsichtlich unserer Grundbedürfnisse wie Nahrung, ein Dach über dem Kopf und Kleider sehr ähnlich sein mögen, heisst das nicht, dass wir dieselben Dinge gleich bewerten.
Zu behaupten, Gesundheit sei wichtiger als sozialer Austausch und Freiheit und zu verlangen, dass wir letztere deshalb zugunsten von erstem opfern müssten, ist eine arrogante Anmassung, die von sich selbst unzulässigerweise auf alle anderen schliesst. Von sich selbst kann das jemand natürlich behaupten, aber er kann nicht in Anspruch nehmen, für die ganze Gesellschaft zu sprechen.
Wer politische Massnahmen mit dem Euphemismus des «Allgemeinwohls» oder des «öffentlichen Interesses» legitimieren will, begeht einen Denkfehler oder handelt bewusst manipulativ, um seine eigenen Interessen durchzusetzen.
Als wäre die Abwägung zwischen einzelnen Werten nicht schon kompliziert genug, kommt auch noch die Frage nach dem Wie hinzu. Selbst, wenn sich alle einig wären, dass Gesundheit der wichtigste aller Werte wäre: Wie soll man die Gesundheit nun konkret fördern, wenn z.B. ein Virus die Runde macht? Durch Angst- und Panikmache, Lockdowns, Kontaktverbote, Masken- und Impfzwang? Oder indem wir Ruhe bewahren und unser Immunsystem nachhaltig stärken, indem wir weiterhin an die frische Luft gehen, uns gesund ernähren, uns bewegen, unsere Grundbedürfnisse wie den sozialen Austausch beibehalten, damit wir uns auch seelisch wohl fühlen? Soll die Politik die Fitnesscenter schliessen? Oder richtet man damit noch mehr Schaden an, weil die Leute so weniger Sport treiben und damit ungesunder leben? Und soll man alle über den gleichen Kamm scheren? Oder sich an individuellen Charakteristiken orientiere, wie Vorerkrankungen, Alter und das Ausleben glücklich machender und damit oft auch gesundheitsstärkende Vorlieben?
Problematisches «Allgemeinwohl»
Bei all diesen Überlegungen wird klar, dass die Begriffe des «öffentlichen Interesses» und des «Allgemeinwohls» hochproblematisch sind. Jene, die behaupten, dass es ein öffentliches Interesse gäbe, tun so, als würden alle Menschen die exakt gleichen Ziele verfolgen und dafür die exakt gleichen Mittel bevorzugen.
Doch die Realität sieht anders aus. Die Gesellschaft besteht nun einmal nicht aus uniformen, gleichgeschalteten Menschen. Es handelt sich bei ihr vielmehr um ein komplexes, ungeplantes System, das keinen gemeinsamen Zweck verfolgt. Menschen ticken unterschiedlich und haben unterschiedliche Werte. Die Kunst besteht darin, diese friedlich aufeinander abzustimmen, damit jeder nach seinem individuellen Glück streben kann. Wer hingegen seine Eigeninteressen zum Allgemeinwohl hochstilisiert, diese gewaltsam (mit Hilfe des staatlichen Gewaltmonopols) durchzusetzen will und damit andere Werte unterdrückt, der übt lediglich Macht aus und handelt nicht im Sinne des Allgemeinwohls.
Weil jeder unter dem Allgemeinwohl wieder etwas anderes versteht, wäre eine liberale Ordnung mit ihrem Schutz individueller Abwehrrechte am besten geeignet, die verschiedenen Interessen friedlich unter einen Hut zu bringen. Weil so niemand zu irgendwelchen Handlungen gezwungen werden darf (ausser er tritt zuvor selbst als Aggressor auf, was ihn zu Schadenersatz verpflichtet), ist sichergestellt, dass jeder auf seine individuelle Weise nach seinem persönlichen Glück streben darf und dabei von niemandem behindert wird. Und wenn möglichst viele Einzelne glücklich werden dürfen, so geht es auch der Gruppe, der Gesellschaft, der Allgemeinheit besser, weil „die Gesellschaft“ nun einmal aus einer Summe von Individuen besteht.
Das bedeutet nicht, dass diese Gesellschaft in atomisierte Individuen versprengt wäre, die nur noch auf sich selbst schauten, wie bestimmte Kreise immer einwerfen. Denn das persönliche Glück der meisten wird auch dadurch erhöht, indem für das Wohlergehen seiner Mitmenschen gesorgt wird. Der Mensch ist schliesslich ein soziales Wesen. Seinen Liebsten, Freunden und Bedürftigen in Notlagen zu helfen, ist ein wesentliches Bedürfnis von vielen, sodass auch in einer liberalen Gesellschaftsordnung für die Bedürftigen gesorgt wäre.
Olivier Kessler ist Direktor des Liberalen Instituts in Zürich.
Dieser Beitrag ist zuerst in der Epoch Times erschienen.