Privat und öffentlich lassen sich seit der Antike als zwei Sphären strikt trennen. Das waren in einer Polis wie Athen die private Haus- und Gemeinschaftswirtschaft (Oikos) und die öffentliche Volksversammlung (Ekklesia). Für die Polis als einen über Dorfgemeinschaften hinausgehenden Stadtstaat besaß die Agora als Markt und Versammlungsplatz sowie zentraler Kultplatz identitätsstiftende Wirkung für die antike Gesellschaft. Mit der Neuzeit tritt zwischen der Sphäre des privaten Haushalts und der des öffentlichen politischen Raums immer stärker sichtbar die dritte hervor: die gesellschaftliche. Von Liberalen wurde die bürgerliche Gesellschaft als Gegensatz zur absolutistischen Fürstenherrschaft begriffen. Heute umfasst die Gesellschaft nicht zuletzt die Wirtschaft als ein arbeitsteiliges globales Netzwerk sowie (internationale) soziale Netzwerke mit gemeinsamen Interessen. Die drei Sphären können in einem Spannungsverhältnis stehen. Die Digitalisierung stellt gleichermaßen eine Entfaltungsmöglichkeit wie einer Herausforderung für die Privatsphäre dar, die für Liberale eine herausragende Bedeutung für ein gelingendes Leben besitzt.
„Daß Menschen eine eigene Sphäre beanspruchen, wird von der Macht nur selten respektiert.“ Deshalb liegt ein Schlüssel für die Begrenzung der Macht von Menschen über Menschen in der Privatsphäre. Wolfgang Sofsky wertet sie zur Privatheit auf. Privatheit wird zur „Zitadelle persönlicher Freiheit“.
Roland Baader sah sogar das einzig wahre Menschenrecht im Recht, in Ruhe gelassen zu werden. 1880 definierten die amerikanischen Rechtsanwälte Samuel Warren und Louis Brandeis die Privatsphäre als „das Recht allein zu sein“. In Diskussionen um die Freiheit im Netz, zuvor um Lauschangriffe auf die Wohnung und über das Bankgeheimnis, äußerte sich etwas Widerstand von Bürgern gegen das Überschreiten der Grenze zum Privaten durch den Staat, zunehmend auch von Großunternehmen und deren Datensammeln sowie gegen die von beiden betriebene Zensur.
Die Privatsphäre ist der Raum, in dem die freie Entwicklung und Entfaltung des einzelnen Menschen stattfindet – unbeobachtet und unbehelligt von jemand anderem. Gedanken- und Gewissensfreiheit haben hier ihren vornehmsten Platz. Darüber hinaus ist der Bereich der persönlichen Beziehungen unantastbar.
Der herrschaftliche Schutz der Privatsphäre reicht in England bis in das 13. Jahrhundert zurück mit Gesetzen zum Schutz vor Lauschern und Spannern. Auch der König von England durfte ohne Erlaubnis kein privates Haus betreten. Heute gilt das Recht auf Privatsphäre als Menschenrecht, das in allen Rechtsstaaten verankert ist.
Privatsphäre und Privatheit
Liberale betonen vor allem das Privateigentum als eine Säule der Freiheit. Ohne Privateigentum keine Freiheit, keine Marktwirtschaft, keine freie Gesellschaft. Das Eigentum einschließlich der Verfügungsgewalt ist das Fundament der Freiheit des Einzelnen. Die Aufhebung des Eigentums degradiert das Individuum zur öffentlichen Figur, der einzelne Mensch wird dann zur politisch-bürokratischen Verfügungsmasse. Im Eigentum hingegen manifestiert sich der Wille des Einzelnen. In gewisser, eingeschränkter Hinsicht gilt dann doch: Zeig mir, was Du hast, und ich kann erkennen, wer Du bist. Beim extremen Primat der Politik ist die Voraussetzung für Eigentum das Parteibuch.
Zugleich gibt es eine schützenswerte Sphäre, die über Dinge, die wir mein Eigen nennen, hinausreicht und nicht durch das Eigentum abgedeckt wird. Eine Privatsphäre hat jeder und schätzt jeder. Sie reicht vom eigenen Körper über private Räume und eben das Privateigentum bis zur persönlichen Daten- und Gedankenfreiheit. Der niedersächsische Soziologe und Philosoph Wolfgang Sofsky zeigt, dass Privatheit ein gleichermaßen weitreichendes wie begrenztes und damit defensives Konzept ist, mit dem Liberale die Freiheit verteidigen können. So umfasst Privatheit „nur“ die individuelle Sphäre. Privatheit bleibt auf das persönliche Umfeld des Menschen begrenzt, bedarf zunächst nicht einmal der Abgrenzung zur Privatsphäre eines anderen Menschen, anders als Kants Vereinigung der Freiheit respektive Willkür verschiedener Menschen unter allgemeinen Rechtsgesetzen.
Privatheit bezeichnet also das eigentliche, das primäre und unabdingbare Gebiet menschlicher Freiheit. Dazu gehört zunächst die Grenze zwischen privat einerseits und öffentlich und gesellschaftlich andererseits, woraus sich dann der persönliche Raum ergibt, darin der menschliche Körper mit innerer Freiheit, darunter das Denken und Fühlen. Hinzu kommen die äußere, körperliche Freiheit und Unversehrtheit. Bestandteil der Privatheit sind offensichtlich die Freiheit der Gedanken und des Gewissens sowie des Geschmacks. Zur Entfaltung der Persönlichkeit als Teil der Privatheit gehört schließlich, aber nicht abschließend, die Freiheit sein Leben nach eigenen Vorstellungen zu planen und zu verfolgen. Das ist zugleich wahre Autonomie, ein alternativloser Baustoff freier Gesellschaften.
Liberale sind überzeugt, dass mit John Stuart Mill gilt: „Jeder schützt seine eigene Gesundheit, sei sie körperlicher, geistiger oder seelischer Art, am besten selbst.“ Das schließt die eigenverantwortliche Versicherung gegen Lebensrisiken ein. Die freie Entfaltung der Persönlichkeit, die proportionierlichste Bildung der Kräfte, erfordert eine private Sphäre, in die man sich zurückziehen kann und dort unbehelligt bleibt. Die Originalität des Individuums macht für Liberale die wahre Größe des Menschen aus. Nach ihr sollte ein jeder streben können. Eine private Sphäre ist dafür unverzichtbar.
Ihr voraus geht die Integrität des Menschen verstanden als Unantastbarkeit oder Unberührtheit. Die Unverletzlichkeit eines Menschen beginnt mit der Unantastbarkeit der Haut. Über die Haut nehmen wir Gefühle wahr wie Schmerz, Schaudern, aber auch elektrisierte Freude und Lust, Geborgenheit und Verbundenheit. Die Haut ist daher eine lebende Grenze der Privatheit, sie zu berühren bedeutet ein Eindringen in die Privatheit.
John Stuart Mill drückte das in „Über die Freiheit“ wie folgt aus: „Über sich selbst, über seinen eigenen Körper und Geist ist der einzelne souveräner Herrscher.“ Privatheit bezeichnet in dieser Sicht das kleine Königreich eines jeden Menschen.
Bedrohungen der Privatheit
Privatheit ist vom Individuum aus gedacht und macht zunächst nicht einmal das Recht, geschweige denn Gesetze erforderlich. Vielmehr reichen Konventionen wie Anerkennung, Respekt und Rücksicht aus. Dem kann jedermann im eigenen Interesse zustimmen. Bereits mit der gegenseitigen Anerkennung des Eigentums garantieren die Bürger zugleich ihre eigenen Privatsphären.
Heute werden auch die persönlichen Daten, die wir online und offline an Organisationen bewusst und vor allem unbewusst weitergeben als Teil der Privatsphäre betrachtet. Dementsprechend bedrohen staatliche und private Maßnahmen zum Sammeln und Auswerten von Daten die Privatsphäre, darunter Marktforschungsmaßnahmen, Kunden- und Kreditwürdigkeitsprofile sowie Aufenthaltsorte, ferner Belästigungen und Betrug durch Spam und Phishing sowie Möglichkeiten des Trackings und (einfachen) Hackens.
Längst ist Information die „zentrale Machtquelle des modernen Verwaltungsstaates“. Sicherheit beruht auf der Kontrolle der Untertanen und der Transparenz ihrer Lebensverhältnisse. Das gilt nicht zuletzt für ihre finanziellen Angelegenheiten. Der steuerlich gläserne Bürger ist das Resultat eines in all seinem Handeln verdächtigen, betrügerischen Bürgers – aus Sicht des Staates. Zugleich ist bekannt, dass die Bereitschaft Steuern und Abgaben zu zahlen steigt, sobald Beträge sinken. Privatheit ist auch hier eine Schutzzone. Dieser Schutz gilt auch gegenüber Nichtregierungsorganisationen: „Das Recht auf Privatheit schiebt dem Imperialismus der Religion einen Riegel vor.“ urteilt Wolfgang Sofsky. Religion meint nicht nur Glauben, sondern schließt zunehmende säkulare Ersatzreligionen und ihre Vorstellungen über ein gutes Leben ein.
Privatheit und Selbstbestimmung
Zur Privatsphäre gehört für Liberale, dass wir Bürger selbst bestimmen, wer über uns welche Informationen sammeln darf. Sowohl die Art und Menge der erhobenen, verbreiteten und verarbeiteten Daten als auch deren Speicherung. Zugleich besitzt hierbei die Grenzziehung zwischen dem privaten Raum und dem Aufenthalt in einem öffentlichen Raum grundlegende Bedeutung. In politischer Hinsicht geht es darum, die bürgerlichen Freiheiten aufrechtzuerhalten – gegen die Einschränkungen von individuellem Wohl zugunsten kollektiver Wohlfahrt, ob im Namen einer Volksgemeinschaft, Klasse, Kaste oder unspezifischer Formen eines sogenannten Gemeinwohls.
Privatheit weist darauf hin, dass die Gesellschaft nicht für den Einzelnen und der Einzelne nicht für die Gesellschaft verantwortlich und ihr auch nicht rechenschaftspflichtig ist. Letzteres gilt nur dann, wenn andere geschädigt werden, der Einzelne also seine Privatheit verlässt.
Ludwig von Mises formulierte es unmissverständlich: „Der Liberalismus fordert Toleranz aus Grundsatz und nicht aus Opportunität. Er fordert Duldung auch offenbar unsinniger Lehren, wahnwitzigen Irrglaubens und kindlich-blöden Aberglaubens.“ Warum? Weil „nur die Duldung den gesellschaftlichen Friedenszustand schaffen und bewahren kann“.
Die Einmischung des Staates
Privatheit steht nicht primär und nicht allein in einer konfrontativen Stellung zum Staat. Allerdings stellt das Vordringen des Staates in die Privatsphäre eine stetig wachsende Bedrohung dar. Der Staat enteignet private Handlungs- und Entscheidungsspielräume und das regelmäßig bis ins Absurde gesteigert wie Teile der realitätslosen, konstruktivistischen Pandemie-Politik, aber auch die Beseitigung des Bankgeheimnisses und die sukzessive Abschaffung des Bargelds alltäglich dokumentieren. Das gilt jenseits des Sicherheitssektors längst für die sogenannte Gendergerechtigkeit und die Förderung von Gruppen, die einen Opferstatus zugeschrieben bekommen. Mit einer Sexualisierung von Sprache und der Vorgabe anzustrebender Lebensentwürfe dringt der Staat ins innerste der Privatsphäre und der Privatwirtschaft vor. Der Staat hat vom liberalen Standpunkt aus betrachtet hier nichts verloren.
Hinzu kommen Meinungsüberwachungsgesetze wie das Netzwerkdurchsetzungsgesetz, mit dem Meinungen kontrolliert und eingeschränkt werden, wobei die Zensur auf private Unternehmen verlagert wurde. Die veröffentlichte Meinung, die in der Gesellschaft tonangebend ist, befeuert die Zensur und das Sagbare. Längst haben sich wesentliche Teile der Medien in politische Transmissionsriemen verwandelt, die nicht mehr informieren, sondern schlecht informiert manipulieren.
Die Meinungsfreiheit war ein Meilenstein in der Geschichte der Befreiung von Obrigkeiten. Blockwarte und Denunzianten haben in Deutschland für die staatliche Meinungsüberwachung bis tief in die Privatsphäre hinein gesorgt und so Herrschaft stabilisiert. Wer einen unabhängigen Charakter besitzt, kann nach wie vor vieles sagen. Dazu gehört auch, dass ihn die Ideologie und Moral Andersdenkender nicht interessieren.
Soziale Bedrohung
Nicht nur auf dem Land besteht eine große Bedrohung der Privatheit in der neugierigen Nachbarschaft. Ohnehin gehen die Lebensumstände und Handlungen von Privatleuten die Öffentlichkeit nichts an, weshalb sich die Medien aus der Privatsphäre herauszuhalten haben. Wer sich den (sozialen) Medien allerdings öffnet, der muss sich nicht wundern, wenn er Privatheit einbüßt. Und wer den Ruhm der Öffentlichkeit wählt, muss mit dem gesteigerten persönlichen Interesse eben der Öffentlichkeit umgehen.
Mit John Stuart Mill können Liberale noch deutlicher werden und vor der sozialen Tyrannei der Mehrheit warnen, die fürchterlicher als andere Arten politischer Bedrückung sein kann. Unangetastete Privatheit bietet einen Schutzraum gegen die Einmischung der öffentlichen Meinung in die persönliche Unabhängigkeit. Das kann heilsam auf die Öffentlichkeit ausstrahlen: „Originalität ist stets die Frucht der Unabhängigkeit“ urteilte treffend bereits Benjamin Constant. Das gilt auch für den Konformismus gezielt geschürter politischer Korrektheit, der in die Privatsphäre vordringt, sich in die selbstbestimmten Präferenzen und Ansichten der Bürger einnistet mit der Absicht, ihn zu dressieren, um einen Buchtitel von Reinhard K. Sprenger zu bemühen.
Die Rolle öffentlicher Bedienstete, die beim und für den Staat arbeiten, kann als ambivalent wahrgenommen werden. Einerseits verfügen sie über potenziell weitreichende Mittel, um in die Privatsphäre einzudringen. In Deutschland arbeiten sie dabei unter beträchtlichen rechtsstaatlichen Beschränkungen. Sie haben bei Delikten das Recht und die Pflicht, das Privatleben zu durchforschen. Zugleich sind sie mit der staatlichen Aufgabe des Schutzes sowie der Gewährleistung der Privatsphäre beauftragt. Sie müssen, wenn gerechtfertigt und geboten eingreifen, aber ungerechtfertigte Eingriffe unterlassen. Sie müssen die Privatsphäre vor Verletzungen Dritter schützen, insbesondere vor nicht-staatlichen Dritten, und schließlich Institutionen gewährleisten, die etwa wirksame Beschwerden ermöglichen und den Datenschutz sicherstellen. Gesetze wie die Unverletzlichkeit der Wohnung, des Post- und Fernmeldegeheimnisses sowie das Bundesdatenschutzgesetz bilden eine Handlungsgrundlage.
Privatheit als Freiheitszitadelle
Liberale warnen immer wieder: In totalitären Regimen ist niemand nirgendwo sicher. Nicht nur in der DDR war der Inlandsgeheimdienst Bestandteil der Familie. Deshalb ist Privatheit als Schutz gegen Eingriffe ein so bedeutendes Prinzip. Das gilt aber auch für die Abwehr wohlfahrtsstaatlicher Übergriffe. Das individuelle physische oder moralische Wohl berechtigt ohne Einwirkung Dritter keinesfalls zu einem obrigkeitlichen Eingreifen.
Der Kampf um die Privatheit ist der Kampf um Freiheit, denn Freiheit bedeutet, sein Leben auf eigene Weise führen zu können, ohne unerbetene Einmischung von Dritten. Wo Privatheit herrscht, dort ist die Macht in die Schranken gewiesen. Privatheit gleicht einem Nutzungsausschluss, der für die Sphäre des Einzelnen gegenüber den Mitbürgern und dem Staat gilt. Diese aufrechtzuerhalten liegt im Interesse einer friedlichen Gesellschaft und aller ihrer Mitglieder.
In gleichem Maße, wie die Kontrolle des einzelnen Menschen der Herrschaftssicherung und Gestaltung der Gesellschaft nach engen Vorgaben dient und dazu ein Eindringen in die Privatsphäre notwendig ist, gilt umgekehrt: Privatheit entmachtet und sorgt über individuelle Eigenheit für gesellschaftliche Vielfalt. Wolfgang Sofsky konstatiert: „Nur wenn private Angelegenheiten den Menschen selbst überlassen bleiben, kann sich eine Vielfalt von Lebensformen entwickeln, die einer Gesellschaft Farbe und Dynamik verleihen.“ Liberale schätzen Vielfalt, Unterschiede und Ungleichheit. Liberale möchten, dass es den Menschen gut geht.
Bedenkenswert erscheint, dass weder das Recht noch der Rechtsstaat die Freiheit des Privaten gewährleisten können, sondern das letztlich nur die „reale Geheimhaltung“ des Einzelnen vermag, also dessen Privatheit. Deshalb ist Privatheit die „Zitadelle der persönlichen Freiheit“.
Bereits vor über 200 Jahren wies Benjamin Constant darauf hin, dass es gefährlich wäre, wenn sich die Menschen ausschließlich auf ihre private Unabhängigkeit konzentrieren würden. Das Recht auf die politische Teilhabe ist zur Sicherung von Privatheit und Freiheit bedeutsam und heute in einer Gesellschaft mit Millionen Menschen nicht ganz einfach zu realisieren. Auch Wolfgang Sofsky betont, paradoxerweise bedarf die Verteidigung der Freiheit der Öffentlichkeit. Schließlich ist es nicht dem Einzelnen, sondern erst der Masse möglich, Privatheit gleichsam auf der Makroebene politisch zu erringen und zu verteidigen. Hier scheint die Ambivalenz des Staates auf. Damit werden Unterschied und Nexus von Privatheit und öffentlicher Sache deutlich. In der res publica ist der übliche Schritt der von Konventionen zum Recht.
Die erste und letzte Linie, um die Freiheit zu erhalten, sie gar zu retten, ist die Verteidigung des Privaten.
Dieser Beitrag von Michael von Prollius ist ein Auszug aus seinem Buch Ein liberales Manifest: Sieben Prinzipien und einige Klarstellungen (edition g). Die Veröffentlichung beim Liberalen Institut erfolgt mit freundlicher Genehmigung.