Wesentliche Grundhaltungen und Anliegen des Liberalismus haben meines Erachtens ihre Wurzeln in der Reformation. Das wird besonders deutlich anhand des Schweizer Reformators Heinrich Bullinger, der als eine der einflussreichsten Persönlichkeiten des 16. Jahrhunderts gilt.
Aufwertung der Einzelpersönlichkeit
In der Reformation erfährt der einzelne Mensch in der Gemeinschaft und gegenüber der Gemeinschaft eine grosse Aufwertung.
«Hier stehe ich, ich kann nicht anders!» Indem sich Luther zu dem, was er aufgrund seines Bibelstudiums als erkannt hat, öffentlich und gegen allen Widerstand bekennt, erhebt er das persönliche Gewissen des Einzelnen zu einer wichtigen Instanz.
Sein Auftritt auf dem Reichstag in Worms kann als Geburtsstunde der Gewissensfreiheit gesehen werden.
Der einzelne Mensch ist aus reformatorischer Sicht in Glaubensfragen nicht in erster Linie anderen Menschen oder Autoritäten, sondern seinem Gewissen und damit Gott selbst direkt verantwortlich. Diese Auffassung beruht auf dem Glauben, dass Jesus Christus allein («solus Christus») uns in Kontakt mit Gott bringt. Alle Menschen sind auf ihn und somit auf Gottes Gnade («sola gratia») angewiesen. Somit sind vor Gott nicht nur alle Menschen gleich, sondern alle können auch einen direkten, von menschlichen Autoritäten unabhängigen Zugang zu Gott haben. Der einzelne Mensch, unabhängig von seinem Status, Bildungsstand, Geschlecht usw., wird so enorm aufgewertet. Mündigkeit und persönliche Verantwortung erhalten, vorerst im religiösen Bereich, einen zentralen Stellenwert.
Persönliches Eigentum
Im christlichen Kosmos agieren Personen, keine anonymen Kräfte. Darum sollen auch einzelne Personen über die Güter dieser Welt verfügen. Die Reformatoren setzen sich für ein persönliches Eigentumsrecht ein. (Sie sprechen von der «Eigenschaft der zeitlichen Güter». Der Begriff «Privateigentum» ist noch unbekannt.) Nur einzelne Personen sind mit einem Willen und einem Gewissen, mit Vernunft und bestimmten Gaben ausgestattet, nicht ganze Kollektive. Sie können sich zwar zu Kollektiven zusammenschliessen. Aber Kollektive können nach reformatorischer Auffassung und gegen die Meinung mancher Täufergruppen nicht als Gesamtheit über Güter verfügen.
Mit dem Verbot des Stehlens und des Begehrens soll das persönliche Eigentum geschützt werden. «Was könntest du einem stälen, wenn alles gemeyn wäre?» (Bullinger)
Idee der Handels- und Gewerbefreiheit
Bei Bullinger finden wir bereits den Gedanken der Handels- und Gewerbefreiheit. Wenn der einzelne Mensch auf religiösem Gebiet Gott selbständig und direkt verantwortlich ist, warum sollte das auf ökonomischem Gebiet nicht gelten?
Der Mensch hat nicht nur alle seine Bedürfnisse, sondern auch alle seine Begabungen von Gott, und diese sind sehr vielfältig. Andere Menschen können weder über die Bedürfnisse noch über die Begabungen einer Person adäquat urteilen. Deshalb sollen auch im wirtschaftlichen Bereich nicht Menschen über andere verfügen können. Jeder sollte selber, in Verantwortung vor Gott, bestimmen können, welchen Beruf er ergreifen, welche «Händel und Gwerb» er betreiben, was er kaufen und verkaufen will usw.
Die «Obrigkeit» soll solch vielfältige Wirtschaftstätigkeiten nicht verhindern oder behindern. Einzig Missbräuche, «Bschiss und Betrug», soll sie nach Möglichkeit unterbinden.
Förderung des allgemeinen Wohlstandes
Durch die Ermöglichung vielfältiger Wirtschaftstätigkeiten soll nach Bullinger der allgemeine Wohlstand gefördert werden. Wohlstand, Reichtum ist nicht «unchristlich», solange er in der Prioritätenordnung nicht an oberster Stelle steht. Und Armut ist keineswegs ein «gottgewolltes Übel in einer sündigen Welt». Im Gegenteil: Schon in dieser Welt sollen Gottes Grosszügigkeit und Fürsorge, seine Fülle und sein Segen allgemein sichtbar werden. Dazu sollen die Christen als Obrigkeit und Einzelpersonen aktiv beitragen. Gott dienen kann und soll man also nicht nur im religiösen Leben, sondern auch im Alltag, in Arbeit und Beruf.
Bullinger bezieht die obersten Gebote der Christenheit (das Liebesgebot und die «goldene Regel» aus der Bergpredigt) auf alle Lebensbereiche, so auch auf die Wirtschaft: «Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten!» (Matthäus 7,12). Sinn und Zweck der Wirtschaft ist es also, diesen Willen Gottes zu verwirklichen und sich gegenseitig Gutes zu tun. So wächst das Reich Gottes auf dieser Welt. Wer also irgendwelche wirtschaftlichen Aktivitäten verbieten oder behindern will, der handelt gegen Gottes Willen und hemmt die Ausbreitung seines Reiches!
Aufgrund solcher Überlegungen gelangt Bullinger auch zu einer grundsätzlich positiven Einstellung Geld- und Kreditgeschäften gegenüber. Wenn in einem Geschäft beide Seiten profitieren und niemand geschädigt wird, soll es erlaubt sein. Das Zinsverbot soll nur noch bei Geschäften mit Abhängigen oder Sozialfällen gelten. So erlaubt Bullinger als erster Reformator mit gutem Gewissen bereits 1531 das Nehmen von Zins innerhalb eines von der Obrigkeit festgelegten Rahmens.
Reformatorische Theologie, besonders die Theologie Bullingers, schafft also ein wirtschaftsfreundliches Klima, und es ist wohl kein Zufall, dass Städte, in denen ein reformierter Einfluss nachzuweisen ist, bis heute zu den grossen Finanzplätzen der Welt gehören: London, Frankfurt am Main, New York (neu Amsterdam) und Zürich.
Vertragsfähigkeit und Menschenwürde
Heinrich Bullinger gilt als Begründer der sogenannten «Bundes- oder Föderaltheologie». Sie geht davon aus, dass Gott seine Beziehungen zu den Menschen durch Bünde, Verträge gestaltet. Das heisst: Der Mensch wird als vertragsfähiges Wesen betrachtet, als mündiges und urteilsfähiges Gegenüber Gottes. Somit wird er von Gott mit höchster Würde behandelt, mit grossem Respekt und Achtung seiner Persönlichkeit.
Eines der obersten Gebote aufgrund dieser Theologie ist die Vertragstreue: «Verträge sind einzuhalten» — weil Gott dies auch tut. Vertragstreue bewirkt gegenseitiges Vertrauen, Sicherheit und Stabilität — Vertragsbruch führt zu Misstrauen, Unsicherheit und Zerstörung.
Ich denke, dass nicht zuletzt auch solches Vertragsdenken eine wesentliche Grundlage bildet für die Freiheit, die Stabilität und den Wohlstand unserer Gesellschaft.
Literatur
Werke von Heinrich Bullinger:
- Fründtlicher berycht / vonn dem handel der Zynsen. In: Von dem unverschämten Frevel der Wiedertäufer, Zürich (Froschauer) 1531, Bogen CXLIIII — CLXXII.
- Von dem einigen vnnt ewigen Testament oder Pundt Gottes. Heinrichen Bullingers kurzer Bericht, Zürich 1534. In heutigem Deutsch in: Heinrich Bullinger Schriften I, TVZ Zürich 2004, S. 49—101.
Predigten 21 und 22 aus den Dekaden (1549 — 1551) nach der deutschen Übersetzung von Johannes Haller, Zürich 1558:
- Die Ein vnd zwentzigste Predig. Von dem vierdten gebott der anderen Tafel / welches in der Ordnung der Zehen gebotten das achtet ist/ Du solt nit stälen. Bey wölchem geredt wirt von der eygenschafft zeitlicher güetteren / vnd wie man die recht vnd mit Gott überkommen sölle. Auch von mancherley geschlächten vnd gattungen dess diebstals.
- Die Zwey vnd zwentzigste Predig. Von dem rechten brauch zeitlicher güeteren…
Baker, J. Wayne, Heinrich Bullinger and the Idea of Usury. In: Sixteenth Century Journal, Volume V, Number 1, April 1974, S. 49—70.
Hohl, Martin, Heinrich Bullinger (1504 — 1575) und seine Bundestheologie, Reformatorischer Verlag Beese (RVB), Hamburg 2001.
Jetzler, Peter, Von den Guten Werken zum reformatorischen Bildersturm — Eine Einführung. In: Bildersturm. Wahnsinn oder Gottes Wille? Katalog zur Ausstellung, NZZ-Verlag, Zürich 2000, S. 20—27.
Locher, Gottfried Wilhelm, Der Eigentumsbegriff als Problem evangelischer Theologie, Zürich und Stuttgart 1962.
Schulze, Wilhelm A., Die Lehre Bullingers vom Zins. In: Archiv für Reformationsgeschichte Jahrgang 48, 1957, Heft?, S. 225—229.
Dr. theol. Martin Hohl ist Pfarrer in der Gemeinde Bretzwil (BL).