Wilhelm Röpke gehört zu den grossen Liberalen des 20. Jahrhunderts. Freiheitliches Gedankengut stand für ihn im Zentrum seines wissenschaftlichen und publizistischen Wirkens und sein Name bleibt für Kenner der Ideengeschichte unauslöschlich mit dem Begriff des Neoliberalismus verbunden, auch wenn dieser Begriff heute in einer anderen Bedeutung im Umlauf ist, mit der sich Röpke kaum identifiziert hätte. Neoliberalismus war für ihn gerade nicht die vorwiegend im 19. Jahrhundert entwickelte Lehre vom Freihandel, von der durch Marktprozesse gewährleisteten Interessenharmonie und vom „Laissez-faire“, sondern ein an die Gegebenheiten und Widerwärtigkeiten des 20. Jahrhunderts adaptiertes Ordnungsprinzip, ein „Dritter Weg“ zwischen Moralismus und Ökonomismus. „Nationalökonomisch dilettantischerMoralismus ist genau so abschreckend wie moralisch abgestumpfter Ökonomismus, und leider ist das eine so verbreitet wie das andere“ („Wirtschaft und Moral“, in: Wort und Wirkung, Ludwigsburg 1964, S. 73). Röpke unterscheidet einen „unvergänglichen Liberalismus“, der für ihn als Idee „im Grunde das Wesen der abendländischen Kultur schlechthin ausmacht“ von einem „vergänglichen Liberalismus“, der als wirtschaftspolitische Doktrin aus dem letzten Jahrhundert seine Aktualität weitgehend eingebüsst habe.
Mehr als homo oeconomicus
Dem Konzept des allgegenwärtigen „homo oeconomicus“, der die ganze Welt nur unter dem Gesichtspunkt von Kosten und Nutzen evaluiert, stellte er das Konzept des „homo religiosus“ gegenüber, der Mensch, der zwischen Einbindung und Abgrenzung nach „Mass und Mitte“ strebt, der Mensch, dessen seelische Bedürfnisse in der säkularisierten Massengesellschaft zu kurz kommen. Dieses tiefe Unbefriedigtsein der Seele führt, so Röpke, zur Suche nach einem Glaubensersatz und „zur immer totaleren Ideologisierung und Politisierung unseres Lebens. Dieser Entwicklung kann man immer schwerer entrinnen, und vielleicht ist es sogar ein eigentlicher Fluch unserer Zeit, von der die Pest des Kommunismus nur ein besonders bösartiger Spezialfall ist. Beobachten Sie die pseudoreligiöse Inbrunst der Utopisten, der Weltverbesserer, die dann die Welt nur schlimmer machen und eigentlich Weltverschlimmerer heissen sollten“ („Wirtschaftspolitik im politischen Raum“, in: Wort und Wirkung, Ludwigsburg 1964, S.29).
Röpke ist 1966 im 67. Altersjahr viel zu früh gestorben. Er hat — anders als sein Jahrgänger Friedrich August von Hayek, dem er freundschaftlich verbunden war — weder den Wandel im sozialwissenschaftlichen Umfeld (70er Jahre) noch den Übergang von den Europäischen Gemeinschaften zur Europäischen Union (80er Jahre) noch den Konkurs des Sowjetkommunismus und den Zerfall des Sowjetimperiums (ab 1989) noch die „Neue Weltordnung unter der Vormacht
der USA“ miterlebt. Er hätte wohl kaum zu den voreiligen und zum Teil auch gefährlichen Optimisten und Enthusiasten gehört, die bei jedem Wandel gleich überall das Ende alles
Schlechten und den Anfang alles Guten wittern und die Macht der Altlasten sträflich unterschätzen. Wenn wir heute nach einem Adjektiv suchen, welches das Lebenswerk Röpkes besser charakterisiert als das heute missverständliche „neoliberal“, so ist es „wertkonservativ“.
Vieles bleibt aktuell
Vieles, was Röpke im Hinblick auf aktuelle Situationen und konkrete Probleme geschrieben hat, hat auch über die Jahre hinweg seinen Stellenwert bewahrt. Bei jeder Art des Publizierens stellt sich die Frage: Was bleibt, und was ist zeitgebunden? Die Engländer, die eine besondere Affinität und Begabung zu einem offenen Konservatismus haben, kennen ein treffendes Sprichwort: „Systems die, instincts remain“. Systeme, auch Denksysteme sind vergänglich, Instinkte, welche anthropologische Erfahrungen speichern, überdauern, auch wenn sie oft nur in den Traditionen und nicht in den Genen gespeichert sind. Röpkes bleibende Erkenntnisse entstammen eher dieser geistigen Instinktsphäre als einem wissenschaftlich erhärteten und kritisierbaren System. Der Begriff „Instinkt“ mag allzu biologistische Assoziationen wecken, möglicherweise
charakterisiert er aber recht zutreffend jene Einbindung in die Menschennatur und in die kulturgeschichtlich geprägte Tradition. Darin kommt zum Ausdruck, was für Röpke den „homo religiosus“ ausmacht, den er über den „homo oeconomicus“ und über den „homo politicus“ stellt. Im Zentrum seines Lebenswerks stand die freie Gesellschaft, die ihrerseits auf Privateigentum und Privatautonomie und auf einer „organischen Verbindung“ bewährter moralischer Verhaltensweisen beruht. Sein Denken lässt sich — wie übrigens bei allen liberal Konservativen — am ehesten ex negativo beschreiben. Er war anti-etatistisch, anti-zentralistisch, anti-totalitär, anti-rationalistisch, anti-materialistisch und anti-ökonomistisch (wenn man „ökonomistisch“ als Bezeichnung für ein vorbehaltloses Primat der Ökonomie verwendet).
Im Zentrum der ordnungspolitischen Diskussion steht heute nicht mehr die Frage „Marktwirtschaft oder Kommandowirtschaft?“. Von höchster Aktualität ist und bleibt jedoch die These „Marktwirtschaft ist nicht genug“. Die Ergänzungsbedürftigkeit der Marktwirtschaft wird heute — anders als bei Röpke — allerdings mehrheitlich beim politischen System angesiedelt. Dem Staat wird — vor allem von linker Seite — die Aufgabe zugewiesen, sogenanntes „Marktversagen“ zu kompensieren. Er soll die Wirtschaft durch Vorschriften und Steuern „sozialer machen“. Das Primat der Wirtschaft wird einem Primat der Politik gegenübergestellt und Marktgläubige fechten gegen Politikgläubige.
Ruf aus einer andern Welt
Röpkes Postulat nach einem Primat der Moral erscheint in diesem Diskurs als Ruf aus einer andern Welt. Moral wird zwar von Etatisten durchaus gepredigt und vor allem „von den andern“ in Form von Solidarität gefordert, nötigenfalls unter Nachhilfe durch staatlichen Zwang und wohlfahrtsstaatliche Umverteilung. Aber auch das moralische Defizit, das „Moralversagen“, soll aus dieser
etatistischen Sicht durch staatliche Vorschriften ausgeglichen werden. Diese Tendenz steht im Widerspruch zu dem, was Röpke als „Dritter Weg“ vorschwebte. Die Hoffnung, man könne „mehr Moral“ durch „mehr Staat“ herbeizwingen, dürfte sich als gefährliche Illusion erweisen.
Möglicherweise ist der Fortschrittsskeptiker Röpke gegenüber dem Verhältnis von Markt und Moral zu pessimistisch gewesen. Er hat die Chancen des Übergangs von der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft gegenüber den Gefahren der Vermassung in der Konsumgesellschaft meines Erachtens unterschätzt. Der Markt kann zwar auch in einer Dienstleistungsgesellschaft ohne moralische Basis nicht funktionieren, aber vieles deutet darauf hin, dass Märkte und vor allem Dienstleistungsmärkte, im Wettbewerb nicht primär die Aggressivität fördern, sondern die Fähigkeit, sich in die Bedürfnisse anderer einzufühlen. Sympathie wird — auch wirtschaftlich — lohnend, moralische Verhaltensweisen werden vom Markt nicht nur benötigt und genutzt, sondern auch generiert. Dies gilt zwar nicht in allen Fällen, aber in der Tendenz. Moral steht prinzipiell nicht im Widerspruch zum Wirtschaftlichen, selbst wenn dieses — wie bei Röpke — in einem engeren, vorwiegend an materielle Bedürfnisse anknüpfenden Sinn definiert wird.
Zahlreiche Angriffsflächen
Röpke bietet zahlreiche Angriffsflächen für Kritik. Seine Skepsis gegenüber der anonymen kapitalistischen Grossgesellschaft und gegenüber der technischen Zivilisation in Verbindung mit der Massenproduktion und dem Massenkonsum hat ihm den Ruf eines romantischen Fortschrittsskeptikers eingetragen. Auch dass er aus seiner
Sicht wesentliche Bereiche der Gesellschaft „Jenseits von Angebot und Nachfrage“ ansiedelte, steht im Widerspruch zur in den USA entwickelten Public-choice-Theorie, die sämtliche Lebensbereiche unter dem Gesichtspunkt des Austauschs betrachtet und damit zu einem viel weiteren Begriff von Wirtschaf gelangt. Ökonomie wird aus dieser Perspektive zu einer umfassenden Sozialwissenschaft, die weite Bereiche des Sozialen, des Psychologischen und des Politischen miteinbezieht. Röpke ist aus dieser Sicht alles andere als veraltet, und es spricht eigentlich für ihn, dass viele Fragestellungen, die er ursprünglich ausserhalb seines Fachs angesiedelt hat, heute innerhalb seiner Disziplin liegen. Auch sein Konservativismus ist inzwischen nicht obsolet geworden, und er hat als politische Strömung — vor allem im Zusammenhang mit traditionellen Werten — keineswegs ausgedient. Die Wertediskussion, die Frage nach dem Stellenwert der Moral, bleibt mindestens so aktuell, wie die Frage nach der produktivsten und effizientesten Form des Wirtschaftens. Vor allem bleibt die Herausforderung bestehen, sich weiterhin mit den komplexen Zusammenhängen und Spannungsfeldern zwischen Markt und Moral und zwischen Fortschritt und Tradition zu befassen, für die uns Röpke in mehrfacher Hinsicht sensibilisiert hat.
Dieser Text ist eine ergänzte und überarbeitete Fassung eines vervielfältigten „Rundbriefs“, der 1999 zum Anlass des 100. Geburtstags von Wilhelm Röpke für die „Stiftung für abendländische Ethik und Kultur“ verfasst worden ist.