Die nachfolgende Rede mit dem Titel Hat jede Form des Liberalismus Aussicht auf Erfolg? – und was Max Frischs «Biedermann und die Brandstifter» mit der Antwort zu tun hat wurde von Prof. Dr. Thorsten Polleit an der LI-Freiheitsfeier vom 5. Dezember 2023 im Zunfthaus zur Saffran in Zürich gehalten. Sie kann auch hier als Podcast abgerufen werden.
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Ein grosser Dank an das Liberale Institut Zürich, an alle seine aktiven Mitstreiter und grosszügigen Förderer vor und hinter den Kulissen.
Sehr verehrte Damen, sehr geehrte Herren, sehr verehrte Frau Professor Sandoz,
wenn es das Liberale Institut nicht schon gäbe, dann müsste man es erfinden – und zwar sofort. Denn es ist ein weithin strahlender Leuchtturm der Freiheitslehre.
Das Liberale Institut steht nicht zuletzt auch für die Ideen und Werte, die die Schweiz so wohlhabend und so erfolgreich gemacht haben – Werte und Ideen, die jede Generation allerdings immer wieder von neuem lernen und verstehen muss, die vermittelt werden müssen. Das leistet das Liberale Institut in bewundernswert wirksamer Weise, und unser besonderer Dank sollte daher seinem Direktor, Olivier Kessler, und seinem grossartigem Team gelten! Lieber Olivier, euer aller Wirken gibt uns allen Mut und Zuversicht, auch in freiheitsfeindlichen Zeiten laut hörbar für die Freiheit einzutreten.
Doch damit genug der einleitenden Freundlichkeiten.
Niedergang des Liberalismus
Olivier Kessler hat mir die Frage gestellt «Hat jede Form des Liberalismus Aussicht auf Erfolg?» und mich gebeten, eine Antwort zu erarbeiten. Ich habe nur zu gern zugesagt, und ich habe mir erlaubt, einen Zusatz hinzuzufügen, und zwar die Worte: «und was Max Frischs «Biedermann und die Brandstifter» mit der Antwort zu tun hat». Was es damit auf sich hat, erschliesst sich ihnen spatestens gegen Ende meines Referates.
Der Liberalismus (oder: der klassische Liberalismus) ist die Lehre der individuellen Freiheit, des Eigentums, der Gleichheit vor dem Recht, des Friedens, des materiellen Wohlstandes, des kulturellen Fortschritts. Aus ökonomischer Sicht lässt sich zweifelsfrei zeigen, dass der Liberalismus (wie kein anderes Wirtschafts- und Gesellschaftskonzept) es den Menschen ermöglicht, friedvoll und produktiv miteinander zu leben, national wie international.
Und dennoch ist unübesehbar, dass der Liberalismus sich seit Jahr und Tag im Niedergang, sich mittlerweile sogar fast schon in einem Überlebenskampf befindet. Das Rückzugsgefecht hat schon im ausgehenden 19. Jahrhundert begonnen. Das 20. Jahrhundert war ein Zeitalter eines geradezu militanten Anti-Liberalismus. Man denke nur einmal an die erschreckenden Erfahrungen mit Sozialismus, Kommunismus, Faschismus, Nationalsozialismus, Totalitarismus.
Aber selbst wenn man auch diese extrem dunklen Phasen ausklammert, dann wird man immer noch erkennen, dass der Liberalismus in den letzten gut 100 Jahren im Trendverlauf an Boden verloren hat. Spiegelbildlich dazu ist der Staat (wie wir ihn heute kennen) immer grösser und mächtiger geworden zu Lasten der Freiheitsgrade von Bürgern und Unternehmern.
Wohin man auch blickt, der Staat dringt immer stärker und ungestümer in alle Wirtschafts- und Gesellschaftsbereiche vor: Erziehung (Kindergarten, Schule, Universität), Altersvorsorge, Gesundheit, Transport, Recht und Sicherheit, Geld und Kredit, Umwelt – überall ist der Staat zum dominanten Spieler aufgestiegen – Tendenz steigend.
Wie konnte es dazu kommen?
Der zentrale Grund für den Rückbau des (klassischen) Liberalismus ist – und hier schliesse ich mich der Analyse des Philosophen und Ökonomen Hans Hermann Hoppe (* 1949) an –, dass dem klassischen Liberalismus ein fataler «Fehler» innewohnt, der ihm nun zum Verhangnis zu werden droht.[1] In der Zeit der Monarchien im 19. und anfangenden 20. Jahrhundert ist dieser Konstruktionsfehler nicht in Erscheinung getreten. Doch in den modernen Demokratien wirkt er geradezu tödlich für den Liberalismus. Dazu gleich mehr.
Feinde des Liberalismus
Zunachst möchte ich jedoch unsere Aufmerksamkeit auf den Feind des Liberalismus richten. Wer glaubt, der Sozialismus-Kommunismus hatte mit dem Zusammenbruch der Sovjetunion und des Ostblocks Ende der 1980er Jahre aufgehört zu existieren, der sitzt einem folgeschweren Irrtum auf.
Diejenigen, die dem Sozialismus-Kommunismus anheimgefallen sind, ihn in die Welt bringen wollen, haben erkannt, dass die zentrale Idee des Sozialismus, also die Verstaatlichung der Produktionsmittel, nicht funktioniert, den Menschen Armut, Chaos und Gewalt bringt. Daher haben sie ihre Strategie gewechselt. Sie setzten jetzt voll und ganz auf den Interventionismus.
Interventionismus bedeutet, dass der Staat (wie wir ihn heute kennen) fallweise, gemass tagespolitischen Wunschvorstellungen, in das Wirtschafts- und Gesellschaftsleben eingreift – durch beispielsweise Ge- und Verbote, Gesetze, Regulierungen, schuldenfinanzierte Konjunkturprogramme, Ausgabe von neuem Geld, Manipulationen des Zinsmarktes.
Der Ökonom Ludwig von Mises (1881-1973) hat bereits 1929 deutlich gemacht, dass der Interventionismus ins Unheil führern muss.[2] Warum? Der Interventionismus erreicht entweder die Ziele, die er vorgibt erreichen zu wollen, nicht und verursacht dabei auch noch Schäden, die vorher nicht da waren, oder er verschlimmert bereits bestehende Schäden; oder wenn er die vorgegebenen Ziele erreicht, dann nur, indem er bestehende andere Übel beförderft oder neue Missstände auslöst.
Sie wünschen ein Beispiel zur Illustration? Denken Sie nur einmal daran, dass der Staat die Geldproduktion monopolisiert hat und dafür sorgt, dass neues Geld per Bankkreditvergabe ausgegeben wird (man spricht auch von Fiatgeld), Geld, dem keine echte Ersparnis gegenübersteht, Geld, das sprichwörtlich herbeigeschwindelt wird. Das Fiatgeld verursacht notwendigerweise Störungen im Finanz- und Wirtschaftssystem, die zu immer dramatischeren Krisen führen. In der Not der Stunde, wenn Rezession und Bankenpleiten drohen, wird den Menschen eingeredet (vor allem von staatsbezahlten Hauptstromökonomen), die freien Märkte hätten versagt, und der Staat beziehungsweise Nettosteuerzahler müssten zur Rettung eilen: schwankende Banken herauspauken (die Schweiz hat das jüngst in ganz grossem Stil erst erfahren), gebeutelte Firmen subventionieren.
Der Interventionismus sorgt so für Interventionismusspiralen: Weil er nicht funktioniert, wird Staatseingriff auf Staatseingriff provoziert, und über kurz oder lang ist das gesamte Wirtschafts- und Gesellschaftssysstem in der Hand des Staates, ist der Staat derjenige, der diktiert, wer was wann und unter welchen Bedingungen erzeugen, und wer was wann und wie viel konsumieren darf.
Der Interventionismus ist der Gehilfe der Sozialisten-Kommunisten. Er verwandelt die Volkswirtschaften in sogenannte Befehls- und Lenkungswirtschaften, in Kommandowirtschaften. Die Eigentümer der Produktionsmittel bleiben zwar formal Eigentümer, in der Praxis sind sie aber nicht mehr viel mehr als Betriebsführer, die ihre Anweisungen vom Staat bekommen. In diesem Stadium ist es nicht mehr weit, der Sozialismus ist fast errichtet.
Neuer Sozialismus durch die Hintertür
Die westliche Welt befindet sich seit Jahrzehnten im Würgegriff des Interventionismus, die USA genauso wie Europa oder Japan, ganz zu schweigen von China.
So überrascht es nicht, dass die Befürworter der sogenannten «neuen Weltordnung», des Great Reset, auf den Interventionismus setzen. Sie behaupten, die drängenden Probleme auf der Welt – wie Finanz- und Wirtschaftskrisen, ungleiche Einkommensverteilung, Seuchen, Ressourcenverknappung und Klima – liessen sich nur noch durch staatliches Eingreifen bewältigen.
Sie fordern, dass die Menschen auf diesem Planeten ihre Geschicke nicht (mehr) in einem System der freien Märkte organisieren sollen, sondern dass sie fortan von zentraler Stelle – einem Rat der Erleuteten, einer Weltregierung, einem Weltstaat – anzuweisen sind, was zu produzieren und konsumieren ist.
Der Staat soll allmächtig werden! Die Menschen sollen einen digitalen Impfpass erhalten, eine digitale ID bekommen und künftig mit digitalem Zentralbankgeld bezahlen. Das sind die Steine, aus denen sich die Mauer für ein Weltgefängnis bauen lässt, in dem das Individuum nichts, der Staat (beziehungsweise die, die ihn repräsentieren) alles sind. Wenn das nicht auf einen neuen Sozialismus-Kommunismus durch die Hintertür hinausläuft
Recht und Sicherheit
Die Frage, die sich hier aufdrängt, lautet: Wie kann es sein, dass der Liberalismus (als Freiheitslehre, als Blaupause für eine freie Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung) derart unter die Räder kommen konnte? Kann es sein, dass der Liberalismus gar nicht funktioniert? Hat der Liberalismus überhaupt eine Zukunft, oder ist der Zug abgefahren?
Um Antworten zu finden, lassen Sie uns mit dem Hinweise auf die Einsicht beginnen, dass der Mensch nun einmal ist, wie er ist; und da wir alle keine Engel sind, müssen wir erkennen, dass es beim Miteinander mit anderen immer wieder Konflikte gibt. Vor allem gibt es immer wieder Personen, die sich nicht an Regeln halten, die betrügen, stehlen, rauben, zwingen und morden. Die also das Eigentum (und damit die Freiheit) der anderen zerstören. Soll eine Gesellschaft funktionieren, braucht man die Güter Recht und Sicherheit, mit denen Regelverstösse (in Form von Verletzungen der Eigentumsrechte) verhindert, beziehungsweise, wenn sie dennoch eintreten, sanktioniert werden können.
Das ist spätestens der Punkt, an dem die Idee des Staates auf der Bühne erscheint. Die heutzutage weithin vorherrschende Meinung ist, dass man den Staat brauche, damit er zumindest für Recht und Sicherheit sorgt; und das sehen auch die meisten Liberalen wohl so.
Geht es nach dem klassischen Liberalismus, soll der Staat die Güter Recht und Sicherheit bereitstellen. Der Staat soll dabei allerdings nur so etwas wie ein Nachtwächterstaat, ein Minimalstaat sein: das Eigentum der Menschen schützen gegenüber Übergriffen von innen und aussen, für alles andere (wie Arbeits- und Sozialversicherung etc.) ist er nicht zustandig.
Der Webfehler des Ordoliberalismus
Nun kann man sicherlich nicht allen Liberalen vorwerfen, sie seien naiv oder kurzsichtig, wenn es um den Staat und seine Rolle geht. Insbesondere die sogenannten Ordoliberalen (die in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg hervortraten, und zu denen Namen zählen wie Walter Eucken und Wilhelm Röpke) hatten sehr genau erkannt, dass der Staat selbst zu einer Bedrohung der Freiheit werden kann, dass sich der Staat als Freiheitsschützer nur allzu leicht in einen Freiheitszerstörer verwandeln kann.
Ein Dilemma entsteht also aus Sicht der Ordoliberalen: Einerseits sieht man den Staat als hilfreich an, um die Freiheit der Menschen zu sichern, gleichzeitig weiss man, dass der Staat auch zur Gefahr für die Freiheit der Menschen werden kann. Wie löst man dieses Dilemma?
Die Ordoliberalen schlagen als Lösung vor, die Macht des Staates an die Kette zu legen, mit Verfassungsregeln dafür zu sorgen, dass der Staat nur das Gute, nicht aber das Schlechte tut; eine Idee, die auch bei klassischen Liberalen auf Zustimmung stösst.
Und genau hier, sehr verehrte Damen, sehr geehrte Herren, liegt der grosse Fehler, der tragische Webfehler im klassischen Liberalismus und Ordoliberalismus. Denn der Staat (wir ihn heute kennen) lässt sich nicht einhegen, er sprengt jede Grenze, zerreist jede Fessel, die man ihm anlegt. «Selbst ein Minimalstaat wird früher oder später zu einem Maximalstaat», um Hans-Hermann Hoppe zu zitieren.[3] Das ist vermutlich eine Aussage, die für viele von Ihnen verstörend ist. Ich kann sie Ihnen nicht ersparen, will sie aber so gut ich eben kann naher zu erläutern versuchen.
Was ist der Staat?
Fragen wir: Was ist das, der Staat?
Für die einen steht der Staat für so etwas wie «Wir alle», für andere ist er «Vater Staat», für wieder andere Schutzpatron und «wohlmeinender Diktator», und wiederum andere sehen im Staat ein notwendiges Übel, das man hinzunehmen habe, weil es ja ohne den Staat nicht gehe.
Ökonomisch gesehen ist der Staat der territoriale Zwangsmonopolist mit der Letztentscheidungsmacht über alle Konflikte auf seinem Gebiet, und der Staat nimmt sich zudem das Recht zur Besteuerung.
Wenn wir diese positive Definition des Staates akzeptieren, dann stellt sich die Frage: Wie konnte denn so ein Staat entstehen?
So viel steht fest: Der Staat ist nicht durch eine freiwillige vertragliche Übereinkunft entstanden, die alle Beteiligten unterzeichnet hatten. Weder Sie noch ich haben unsere Unterschrift unter einen solchen Vertrag geleistet, und auch unsere Vorväter haben keinen solchen Vertrag freiwillig unterschrieben. Niemand hat so einen Vertrag je gesehen!
Um es kurz zu machen: Der Staat (wie wir ihn heute kennen) ist durch Zwang und Gewalt entstanden, und sein Fortbestand ruht auch auf Zwang und Gewalt. Mit Freiwilligkeit (einem zentralen Prinzip des liberalen Denkens) ist er nicht vereinbar.
Blickt man in die Geschichte, so zeigt sich, dass irgendwann einmal die gerade Herrschenden (Fürsten, Könige, Kaiser oder Parlamentarier), ob sie nun in die Herrscherposition gebeten worden waren oder sich durch Zwang und Gewalt dorthin gebracht hatten, ihre Stellung durch Zwang und Gewalt zementiert, ein Zwangsmonopol errichtet haben, den Staat, wie wir ihn heute kennen, aus der Taufe gehoben haben.
Warum der Staat immer weiter expandiert
Man muss kein Hellseher sein (oder Volkswirtschaftslehre studiert haben), um zu erkennen, was der Staat als Zwangsmonopolist (wie soeben definiert) machen wird beziehungsweise diejenigen machen werden, die über das staatliche Zwangsmonopol verfügen (heutzutage sind es vor allem Politiker und Bürokraten).
Sie erhöhen die Preise für ihr Monopolangebot (also für die Güter Recht, Sicherheit und anderes mehr) und senken gleichzeitig deren Leistungsqualitat ab – auf diese Weise bleibt mehr Geld für diejenigen Personen, die die Staatsmacht qua Amt ausüben (für das eigene Portemanaie, den Hofstaat, die Flugreisen, die Pensionen und kriegerische Abenteuer).
Doch damit nicht genug. Der Staat (wie soeben beschrieben) wird sich auch ausdehnen, wird immer grösser und machtiger – auf Kosten der Bürger und Unternehmer. Vor allem in Demokratien ist das zu beobachten, und der Grund dafür liegt auf der Hand.
Um in Amt und Würden zu gelangen, müssen hier Politiker Mehrheiten hinter sich versammeln. Wie geschieht das? Ganz einfach: Indem Politiker ihren Wählern Wohltaten zuschanzen (Schwimmbäder, Schulen, Klimaschutz etc.), die die Wähler nicht selbst bezahlen können oder wollen, Wohltaten, die von «anderen» bezahlt werden sollen.
Der Staat wird auf diese Weise immer grösser und machtiger, erhöht die Steuern, verschuldet sich, um seinen unstillbaren Hunger nach Kredit und Geld zu stillen, überzieht die Volkswirtschaft mit immer neuem Zwang – in Form von Verordnungen, Gesetzen und Steuern.
Der Staat monopolisiert insbesondere das Recht, stellt Richter und Staatsanwälte ein, bezahlt sie (mit Steuergeld). Das führt dazu, dass gerade in wichtigen Streitfällen, die an die Existenz des Staates (wie wir ihn heute kennen) rühren, der Staat immer und ausnahmslos die Oberhand gegenüber seinen Untertanen behält. Das Recht wird zur undurchdringbaren Rüstung zum Schutze der staatlichen Interessenlage
Demokratie als Schutz vor dem Überborden des Staates?
Unschwer erkennbar ist, dass der Staat (wie wir ihn heute kennen) ungehemmt auf Expansionskurs geht. Nun könnte man denken: Nun ja, auch wenn der Staat immer grösser wird (und ja, das ist auch überall zu beobachten), so wird er in Demokratien ein ertragliche Mass doch nicht überschreiten. Denn wenn hier der Staat zu gross werden sollte, die Wirtschaft nicht mehr richtig funktioniert, die Wahlbürger unzufrieden sind mit dem Staat, dann wird ja eine neue Regierung gewählt, die es besser macht, die den Staat wieder auf eine akzeptable Grösse gesundschrumpft.
Das ist leider eine naive Sichtweise. Der deutsch-italienische Soziologie Robert Michels (1876–1936) offenbarte in seinem Buch Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie aus dem Jahr 1911 das «Eherne Gesetz der Oligarchie». Michels arbeitete heraus, dass sich Demokratien in Oligarichien (was bedeutet: «die Macht der wenigen über die vielen») verformen, in denen die Parteien sich dann vom Wählerwillen abkoppeln und ihre ganz eigene, nicht selten wählerfremde, Agenda verfolgen.
Wenn man Michels Arbeiten weiter denkt, dann kann man zu einem Szenario gelangen, in dem sich die Demokratie durch ihre Oligarchisierungtendenz selbst umstürzt, in ein autoritäres, vielleicht totalitares System umschlägt, dass also nicht garantiert ist, dass die Demokratie ihre Fehler korrigiert und sich erhält.
Robert Michels «Ehernes Gesetz der Oligarchie» warnt uns also vor der Idee, der moderne Staat (wie wir ihn heute kennen), und wie ihn die klassischen Liberalen und Ordoliberalen empfehlen, werde ein ertragliches Grössen- und Machtmass nicht übersteigen. Diese Erwartung ruht auf tönernen Füssen, wenn nicht gar ist sie eine Illusion.
Sezessionsrecht
Es drängt sich die Frage auf: Was ist zu tun? Wie kann der Niedergang des Liberalismus aufgehalten und umgekehrt werden? Wie können Freiheit und Wohlstand der Menschen erhalten und befördert werden? Alles lauft meiner Meinung nach auf die Frage hinaus: Wie lässt sich das Staatsproblem lösen?
Ludwig von Mises machte im Jahr 1927 dazu einen auch heute noch praktikablen Vorschlag. Seine Idee war, die Zwangsmonopolstellung des Staates zu entschärfen beziehungsweise aufzuheben, indem jeder Region, im Grunde jeder einzelnen Person, ein Austrittsrecht aus dem Staat zugesprochen wird.
Warum schlug Mises ein solches Sezessionsrecht vor? Mit der Option, aus dem Staat austreten zu können, gibt es einen grosssen Anreiz für die Mehrheit, die Interessen der Minderheit nicht aus dem Auge zu verlieren. Die Mehrheit muss die Minderheit vielmehr gut behandeln, sonst verlässt diese den Club. Mises‘ Sezessionsrecht ist so gesehen ein Rezept für ein friedvolles und produktives Zusammenleben, ein Rezept, dass den Missbrauch mit dem Staat klein hält beziehungsweise verhindert.
Die Weiterführung von Mises‘ Idee besteht in der Aufspaltung der grossen politischen Einheiten in kleine politische Einheiten – also sprichwörtlich eine Welt von hunderten von Schweizen oder Liechtensteins zu schaffen. Denken sie nur: Die wohlhabenden und friedvollen politischen Einheiten sind klein – man denke nur einmal an die Schweiz, Liechtenstein, Monaco, Hong Kong, Singapur. Das kann nicht überraschen. Denn kleine politische Einheiten sind nicht autark, sie müssen auf freie Märkte setzen, sie müssen offen und freundlich sein. Sie dürfen ihre Bewohner nicht übergebührlich besteuern und gängeln, denn sonst wandern sie ab, und es kommen keine Talente und kein Kapital ins Land. Kleine politische Einheiten müssen die Freiheit des Individuums schützen.
Dass an dieser Idee etwas dran ist, zeigen die Vereinigten Staaten von Amerika. Hier gibt es die Diskussion seit Langem, und sie hat kürzlich wieder an Fahrt gewonnen: und zwar die USA aufzuspalten in blaue und rote Staaten, weil die Menschen in den blauen Staaten ihre Freiheit übergebührlich durch die Menschen in den roten Staaten eingeengt sehen (und umgekehrt gilt vermutlich das Gleiche). Oder man denke an die Sezessionsbestrebungen Kataloniens, sich von Spanien zu trennen. Auch wenn man kein Sezessionsbefürworter ist, so kommt man doch um eine Einsicht nicht umhin: Eine friedvolle Scheidung ist eine Möglichkeit, andernsfalls gewalttätige Auseinandersetzungen zu verhindern.
Libertarismus als konsequente Weiterentwicklung des Ordoliberalismus
Die Idee, den Machtmissbrauch mit dem Staat zu verhindern und die Einsicht in das Staatsproblem führt uns geradewegs zur Weiterentwicklung des Liberalismus-Ordoliberalismus, hin zu einer konsistenten und konsequenten Freiheitslehre, und sie heisst Libertarismus.
Der Libertarismus zeichnet sich durch das Nicht-Aggressionsprinzip aus. Akzeptal, gut und richtig ist, freiwillig miteinander in Verbindung zu treten: Ich lade dich zum Essen ein, und du sagst zu oder auch nicht, wie es dir eben passt.
Inakzeptal, schlecht und falsch sind hingegen ungebetener Zwang und ungebetene Gewalt. Gewalt darf nur eingesetzt werden zur Verteidigung und Wiedergutmachung für begangene Straftaten.
Im Libertarismus gilt für alle das gleiche Recht. Für dich und für mich gilt das Privatrecht. Niemand steht darüber oder daneben – es gibt kein öffentliches Recht. Folglich gibt es auch keinen Zwangsmachtmonopolisten, die Güter Recht und Sicherheit werden wie alle anderen Güter im Zuge freiwilliger vertraglicher Einigungen, über Marktlösungen bereitgestellt.
«Biedermann und die Brandstifter»
Sehr verehrte Damen, sehr geehrte Herren,
Ihre und meine, unser aller Freiheiten sind unverkennbar auf dem Rückzug. Die Corona-Virus-Episode (mit gefängnisartigen Lockdowns, Aufhebung von Vertrags- und Versammlungsfreiheiten, Zwangsimpfplänen, Vorschlägen für einen digitalen Impfpass und einen digitalen Identitätsausweis) ist lediglich das jüngste Indiz dafür.
Der Liberalismus, der Ordoliberalismus sind daran nicht unschuldig. Sie haben sich zwar bemüht, die Lehre der Freiheit hochzuhalten. Aber sie haben den Staat (wie wir ihn heute kennen) akzeptiert, hofiert, ihn empfohlen, zwuweilen auch sich mit ihm gemein gemacht, haben gedacht, man könnte das Missbrauchspotential, das der Staat mit sich bringt, bezwingen, einhegen, neutralisieren. Ein leider fataler Irrtum.
Die Liberalen und Ordoliberalen haben mit ihrer Akzeptanz des Staates (wie wir ihn heute kennen) einen so etwas wie perfekten Inkubator geschaffen, in dem der Staat sich ungeniert vergrössern kann.
Der Staat, wie wir ihn kennen, als Zwangsmonopolist, lasst sich nicht kleinhalten, begrenzen, eindammen. Das ist kein Willkürurteil, es lasst sich vielmehr ökonomisch begründen.
Wenn ihnen jetzt Max Frisch einfällt mit seinem Werk Biedermann und die Brandstifter, dann ist das kein Zufall. Wie Sie sich vielleicht erinnern, lässt in diesem Drama der gute Herr Biedermann die Brandstifter in seinem Haus auf dem Dachboden einziehen. Doch Biedermann will jeden Beweis, dass er Brandstifter im Hause hat, nicht sehen und hören.
Als dann sogar die Brandstifter Benzinfässer die Treppe zum Dachboden hinaufbefördern, und als sie dann auch noch nach Streichhölzern fragen, weigert sich Biedermann weiter, die Realität zu sehen, wie sie ist. Die Angst vor der eigenen Courage kommt ihm teuer zu stehen. Am Ende setzen die Brandstifter Biedermanns Haus in Flammen.
Aus analytischer Sicht des Libertarismus ist der Staat (wie wir ihn heute kennen) ein Brandsatz, eine explosive Kraft, die die freie Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu Fall bringt. Nicht sofort und unmittelbar, aber nach und nach, es ist keine Frage des Ob, sondern nur des Wann – wie die Entwicklungen in der westlichen Welt in den letzten Jahrzehnten in aller Klarheit bereits andeuten, und wie es Biedermann, wenn er sich nicht der Realitat verweigert hatte, leicht hätte erkennen können.
Systemfehler kann behoben werden
Sehr verehrte Damen, sehr geehrte Herren,
ich will mit optimistischen Gedanken enden, denn dazu gibt es gute Gründe.
Der Liberalismus ist die einzige Form des friedvollen und produktiven Zusammenlebens der Menschen, national wie international. Daher gibt es auch gute Gründe, alle unsere Kräfte beherzt einzusetzen, um den Liberalismus zu erhalten, verlorenes Terrain wiederzurückzuerobern.
Der Systemfehler, unter dem der Liberalismus-Ordoliberalismus leidet, kann behoben werden – und zwar durch eine offene, ungeschmickte Nennung des Problems, durch mutige Aufklärung – wie sie der Königsberger Philosoph Immanuel Kant formuliert hat. Es gilt, die libertäre Einsicht auszustreuen, dass der Staat (wie wir ihn heute kennen) unvereinbar ist mit dem Erhalt der Freiheit.
Und wenn das verstanden wird, und sich auch die Einsicht verbreitet, dass es für die Freiheit unumgänglich ist, dass wir alle zum eigenen Denken zurückfinden, dass wir unsere Feigkeit und Faulheit überwinden und selbst denken müssen, dann wird auch die Freiheit siegen gegen alle Widerstände!
Ich bedanke mich für die Gelegenheit, dass ich heute Abend einen Beitrag zum Kampf für die Freiheit leisten durfte, vor allem aber für Ihr Interesse und Ihre Geduld. Vielen Dank!
[1] Hoppe, H.-H. (2007), On the Errors of Classical Liberalism and the Future of Liberty, in: Democracy. The God That Failed. The Economcis and Politics of Monarchy, Democracy, and Natural Order, Transaction Publishers, New Brunswick (U.S.A.) and London (U.K.), S. 221–238.
[2] Hierzu siehe Mises, L. v. (1976 (1929)), Kritik des Interventionismus, Wissenschaftliche Buchhandlung, Darmstadt.
[3] Siehe hierzu Hoppe (2009), S. 229.