Für Liberale ist der Staat mit seinen Gewalt- und Zwangsinstrumenten nur erforderlich, um den Frieden im Innern und nach außen zu sichern. „Das sind die Aufgaben, die die liberale Lehre dem Staat zuweist: Schutz des Eigentums, der Freiheit und des Friedens.“ So konzise formulierte Ludwig von Mises die Staatsaufgabe.
Das Wort Frieden stammt vom althochdeutschen Wort fridu und meint Schonung, Freundschaft. Es beschreibt einen heilsamen Zustand der Abwesenheit von Krieg, von Beunruhigungen, nach christlichem Verständnis einen Zustand der Ruhe und Stille. Das hebräische Wort für Frieden lautet Schalom. Ursprünglich meint das: Vervollständigung, später sicher und wohlbehalten sein sowie freundlich miteinander. Schalom resultiert aus Gerechtigkeit. Im Islam bedeutet salâm: Sicherheit, Unversehrtheit, Ganzheit, Frieden.
Das offenkundige Problem ist, dass von je her einige Menschen den Frieden brechen, den Hausfrieden stören, fremdes Eigentum trotz Einfriedung rauben, nach unrechtmäßiger Bereicherung streben und dafür List und Tücke, Zwang und Gewalt einsetzen. Hinzu kommt, dass ohne verbindlichen, friedenssichernden Ordnungsrahmen, der als Rechtsordnung auch durchgesetzt wird, eine Gemeinschaft regelmäßig in verfeindete Parteien zerfällt, die um die Herrschaft ringen. Das wirft die Frage auf: Wer sorgt für Frieden?
Der Staat und seine Vorläufer sind die historisch nahezu alternativlose Lösung; für Liberale ist der Staat zugleich das Problem. Ein Gewaltmonopol kann zwar für Frieden sorgen, aber auch Krieg und nutzlose Auslandseinsätze führen sowie seine Ausnahmemachtstellung missbrauchen. Die Zentralgewalt verursacht in den falschen Händen ein unvergleichbar schlimmeres Elend als es dezentral, geschweige denn ohne das Machtmonopol möglich erscheint. Das führt zu der Frage: Wer kontrolliert den Gewaltmonopolisten und wie ist ein wirksames Einhegen möglich?
Liberale verfolgen eine doppelte Strategie:
- Erstens soll das Machtmonopol so klein wie irgend möglich, d.h. Zuständigkeiten und Kompetenzen sollen minimal, das Eingreifen soll minimalinvasiv sein.
- Zweitens werden wirksame Checks und Balances angestrebt, darunter eine echte Gewaltenteilung, zudem der unblutige Austausch der Staatsführung und die Herrschaft des Rechts, dem sich gerade die Angehörigen des Staates unterwerfen müssen.
Liberale wissen, dass diese Lösung problembehaftet ist. Die von den Bürgern beauftragten Vertreter sollen nicht ihre persönlichen Interessen vertreten, sondern die Ordnung für alle gleich sichern. Sie verfolgen jedoch ihre eigenen Interessen und verfügen über eine herausragende Machtposition, die sie gegen die oder einige Bürger wenden können – das ist die von Wofgang Sofsky konzise herausgearbeitete Konstellation von „Macht und Stellvertretung“.
Die der Stellvertretung inhärente Tendenz, ihre Machtbefugnisse eigennützig auszuweiten, bedroht die liberale Ordnung unaufhörlich. „Ja, der Staat war einst für den Bürger da. Das hat sich geändert. Heute ist der Bürger für den Staat da!“ kritisierte Reinhard K. Sprenger. Aus diesem Widerspruch gibt es für Liberale allerdings keinen Ausweg. Nur zeitweise können dem mehr oder weniger erfolgreich Regeln, Verfahren, Überschaubarkeit und vor allem unabhängige Menschen entgegenwirken. Auch aus vorstaatlichen Formen haben sich Gewaltmonopole und Staaten gebildet. Das ist die unglückliche Situation, für die Liberale keine Alternative gefunden haben. Anarchistische Ansätze wie eine Privatrechtsgesellschaft verlagern in liberaler Perspektive lediglich zeitweise das Problem.
Spontane Ordnung und Staat
Die spontane Ordnung ist weitaus komplexer als jedes bewusst erdachte und geplante System. Die Fähigkeit zur Koordination ist unübertroffen. Der organisierende Staat unterliegt im Vergleich (fast) ausnahmslos. Kein Mensch besitzt die erforderlichen kognitiven Fähigkeiten. Alle verfügbaren Daten sprechen nicht für sich selbst. Erst die Handlungen der Menschen ergeben die nicht-planbaren Informationen. Der amerikanische Ökonom Israel Kirzner beschrieb die Unterlegenheit von Organisationen wie folgt: „Außerhalb des Marktkontextes gibt es im Rahmen der ökonomischen Theorie nichts, was verlässlich irgend einen systematisch ablaufenden Prozess wechselseitiger Entdeckungen erzeugt, der dazu tendieren könnte, durch schiere Unwissenheit verursachte Phasen sozialer Suboptimalität zu beseitigen.“
Das Zulassen von Komplexität, Vielfalt und unübersehbaren Entwicklungen als Entwicklungs-, Entdeckungs-, Versuchs- und Irrtumsverfahren sorgt für Vielfalt, Wohlfahrt, Wohlstand, Glück, lässt in einer spontanen Ordnung überholte Ideen, Verfahren und Produkte verschwinden. Die staatliche Organisation kennt keine Alternative. Das ist nicht verwunderlich, ähnelt die Staatsbürokratie doch eher einem hierarchischen Konzern als einer vielgestaltigen, komplexen Volkswirtschaft.
Friedrich August von Hayek hat spontane Ordnungen als Kosmos bezeichnet. Davon unterscheidet er Organisationen, die er mit dem Begriff der Taxis, der griechischen Schlachtreihe belegt. Der Staat ist eine gezielt errichtete Organisation mit festgelegten Zwecken und Verfahren. Die Gesellschaft – und als ein wesentlicher Bereich davon die Marktwirtschaft – folgt als spontane Ordnung weder einem Plan noch einem Entwurf. Eine offene Gesellschaft kennt keine festen Ziele, keinen guten oder idealen Endstatus. Das ist sogar ihr Wesen.
Vor 70 Jahren wies Hayek zudem auf einen folgenschweren Irrtum hin: Der Glaube, dass Entwicklungen die bewusst dirigiert werden denen einer spontanen Entwicklung überlegen seien. Vielfach löst die spontane soziale Interaktion Probleme, die sich niemand allein oder in einer Expertengruppe ausdenken kann. Tatsächlich laufen soziale Prozesse anders als soziales Handeln von Individuen per se unbewusst ab. Und jeder Versuch das Ergebnis einer solchen wahren sozialen Ordnung bewusst zu verändern erfordert Restriktionen sozialen Handelns.
Fast alles, was für das Zusammenleben von Menschen erforderlich ist, lässt sich aus liberaler Perspektive ohne den Staat regeln. Für die Masse der erforderlichen organisatorischen Tätigkeiten ist keine staatliche Bürokratie notwendig – die Aufgaben können privat organisiert und mit besserer Qualität erledigt werden. Das gilt besonders für Bildung, Infrastruktur, Geld, Gesundheit, Ver- und Entsorgung, Nahverkehr, Post, Rundfunk und Fernsehen – von vielen zu unterlassenden, ersatzlos entfallenden Staatstätigkeiten ganz zu schweigen. Das ist einer der Gründe, warum Liberale die Zwangsmaßnahmen einer Staatsführung auf ein Minimum beschränken wollen. Die Aufgabe des Staates soll sich demnach primär auf den Schutz der Privatsphäre jedes einzelnen Bürgers beschränken.
Diese zutiefst liberalen Grundsätze entsprechen nicht und entsprachen selten der herrschenden Meinung. Die soziale, demokratische Staatsauffassung ist geprägt von Anspruchshaltungen, die als positive Rechte formuliert werden und gesellschaftlichen Gruppen zugeschrieben werden. Der Staat wird zum Vermittler und Anwalt von Gruppen und ihren Ansprüchen sowie daraus resultierenden Konflikten (Stichwort „soziale Gerechtigkeit“). Folglich entsteht die Gesellschaft nicht aus einer spontanen Ordnung, sondern wird durch den politischen Willen der Herrschenden geformt. Die Freiheit des Einzelnen, sein Eigentum und seine Selbstverantwortung kommen so unter die Räder.
Für den Staat gelten Ausnahmeregeln
Der Staat beruht auf Privilegien, die nur die Angehörigen des Staates genießen, nicht aber die übrigen Bürger. Das gilt besonders für Beamte, Angestellte und Politiker sowie offenkundig für Soldaten. Der Staat steht über den Bürgern, allerdings soll er das nur, um ihnen zu dienen. Leider gilt Lord Actons zeitloses Diktum: Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert absolut.
Liberale betonen immer wieder: Der Staat funktioniert nach dem Prinzip der Organisation – anders als die Gesellschaft und ihre spontane Ordnung. Organisationen sind das Ergebnis menschlicher Planung oder menschlichen Entwurfs. Der Staat ist als Bürokratie selbstbezogen. Die auf Tausch beruhende Marktwirtschaft beruht auf der Notwendigkeit, anderen einen Nutzen zu stiften.
Bürokratien sind nach genauen Regeln und Vorschriften organisiert, die von übergeordneten Personen festgelegt werden und die Freiheit, das, was nach eigener Überzeugung am Besten zu tun ist, einschränken. Nach dem Weisungsprinzip werden Aufgaben gegliedert, zugewiesen und von zuständigen Organisationsbereichen (Behörden und ihren Untergliederungen) bearbeitet. Die Kernaufgabe der Verwaltung ist das Normieren, Standardisieren und das Vermeiden von Normabweichungen, die sanktioniert werden müssen. Leistungsfähigkeit, Effizienz und Innovationskraft sind dementsprechend im Apparat minder entwickelt oder können sich minder entfalten im Vergleich mit vielen privaten Unternehmen auf Wettbewerbsmärkten. Unternehmen mit schlechten Produkten und Dienstleistungen oder ungenügendem Management verschwinden vom Markt, Behörden praktisch niemals. Das fällt in einer immer komplexeren und dynamischen Welt stärker denn je auf.
Koordinationssklerose
Liberale wissen woran das liegt. Werden Tätigkeiten von der Gesellschaft auf den Staat übertragen, ändert sich damit Grundlegendes: Die Bürokratie arbeitet selbstbezogen nach Zuständigkeiten, die privaten Organisationen und Unternehmen hingegen außenbezogen. Das staatliche Wissen ist das der vorhandenen Experten und Sachbearbeiter. Motivation und Ziele von Beamten und Staatsangestellten einschließlich Soldaten und Polizisten sowie deren Koordination folgen anderen Grundsätzen als das bei Unternehmern, Angestellten, Bürgern im freien Austausch und ehrenamtlich tätigen Menschen der Fall ist. Die Bürokraten tragen nicht die Schuld daran, dass sie ihre Aufgaben nach dem Prinzip der Verwaltung erledigen. Das ist ihre Pflicht, ihr Job. Viele wissen selbst um die Unzulänglichkeiten.
In einer Bürokratie gibt es keine Preise und somit keine vergleichbare Koordination – weder von knappen Ressourcen noch von verstreutem Wissen. Mangels Maßstab (d.h. Preis) ist keine Kosten-Nutzen-Rechnung möglich. An ihre Stelle tritt (allenfalls) das möglichst genaue Einhalten der Vorschriften. Das macht den Staatsapparat schwerfällig und wirft vielfach die Frage nach der Realitätsnähe auf. Das gilt besonders dann, wenn die Staatsbürokratie einer noch dazu wechselnden politischen Agenda unterworfen wird.
Sobald der Staatsapparat konkrete Ziele, zumal mit festgelegten Mittel verfolgt, verdrängen diese auch geeignetere Alternativen. Es gibt keinen Konkurrenten zum Staat, der diese ausprobieren könnte. Zudem sind die staatlichen Beziehungen zu den Abnehmern der Leistung grundsätzlich anonymer und ebenfalls durch Vorschriften geleitet, weniger primär durch das Streben nach erfolgreichen Lösungen oder persönlicher Anteilnahme. Bürokratien fehlt das Märkten und Gesellschaften innewohnende Entdeckungs- und Entmachtungsverfahren. Das liegt am System, nicht an den Menschen. Und das System wurde mit Absicht so errichtet.
Schließlich ändert sich mit der Verlagerung der Tätigkeiten auf den Staat wer entscheidet: „Die wahren Herrscher im kapitalistischen System der Marktwirtschaft sind die Verbraucher. Sie entscheiden – indem sie kaufen oder von einem Kauf absehen – wer das Kapital besitzen und wer die Fabriken leiten soll. Sie legen fest, was und in welcher Menge und Qualität produziert werden soll. Ihre Ansichten bestimmen Gewinn oder Verlust des Unternehmers. Sie machen Arme reich und Reiche arm.“ urteilte Ludwig von Mises. Wann war der Bürger jemals der wahre Herrscher der Bürokratie?
Diesem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bottom-up-Ansatz steht der staatliche Top-down-Ansatz gegenüber. Im bürokratischen System des Staates herrschen gut vernetzte Machtpolitiker und führende Beamte. Sie entscheiden, indem sie anordnen, wer gewinnt und wer verliert, indem sie verteilen, vor allem Steuergelder und Privilegien. Die Ansichten dieser wenigen Angehörigen des Staates bestimmen über rechtliche, soziale und ökonomische Folgen für sehr viele Menschen. Ihre Fehler haben weitreichende Folgen. Ohne institutionelle Konkurrenz lassen sich diese zudem schwer korrigieren.
Liberale haben immer und immer wieder aufgezeigt:
- Die Koordination des Wissens und das Messen der Ergebnisse unterscheiden sich in beiden Sphären.
- Es gibt keine Mischung von Ordnungsregeln und staatlichen Organisationsregeln ohne gravierende Schäden.
Unbeabsichtigte Folgen
Der Staat erzeugt mit seinen Eingriffen regelmäßig Chaos, verschlechtert die Lebenssituation vieler und privilegiert wenige. Erstere bleiben meist unsichtbar, letztere werden präsentiert. Regelmäßig sollen unliebsame Ergebnisse, die die vielen Marktteilnehmer erzielt haben, nach den Maßstäben der wenigen Staatsvertreter und der mit ihnen verbundenen politisch relevanten Lobbygruppen geändert werden. Die groben Maßnahmen und die strukturelle Unfähigkeit, die Gegenreaktionen zu antizipieren, sorgen dann für weitere Eingriffe und eben Chaos, darunter Arbeitslosigkeit, relative Verarmung und verminderte allgemeine Wohlfahrt sowie soziale Spaltung. Es gehört zu den großen Irrtümern, dass insbesondere zentrale politische Lenkung einen ökonomischen oder gesellschaftlichen Fortschritt befördert. Das Gegenteil ist grundsätzlich und weit überwiegend der Fall. Bei autoritären Systemen ist das anerkannt, bei demokratischen eher nicht. Die fundierte Kritik an Interventionen in die Wirtschaft füllt Regale, wenn nicht Bibliotheken. Liberale bedauern die Folgenlosigkeit.
Woran liegt das? In der Marktwirtschaft gilt, dass Kapital in Branchen gebunden ist und sich nicht einfach in eine andere Branche transferieren lässt, zumal das Kapital mit spezifischem Wissen verbunden ist. Das trifft auch auf Menschen zu, die an ihren Beruf und ihre Heimat gebunden sind. Ein Beispiel:
In einem Fischerdorf ist die Arbeit der Fischer hart. Sie mögen sich selbst für ihre Kinder wünschen, dass diese aufsteigen und ein angenehmeres Leben führen. Der Staat möchte relative Armut bekämpfen und z.B. Bildungsprogramme auflegen. Damit beginnt ein facettenreicher Wandel mit vorteilhaften und nachteiligen Wirkungen: Manche Menschen möchten nichts lieber als in der Geborgenheit ihrer Heimat leben. Andere brechen in die Ferne auf, studieren, möchten zurückkommen und das Dorfleben bereichern. Was nützt indes ein Studium der Literaturwissenschaften oder des Ingenieurwesens in dem Fischerdorf? Investieren wohlhabende Menschen von außerhalb im Fischerdorf, kaufen sie sich dort eine Wohnung oder ein Haus, dann bringt das Kapital, aber keine Arbeit in der Tradition des Dorfes. Ein Strukturwandel nimmt Formen an. Die Mieten steigen. Exklusivere Geschäfte ziehen nach. Der Wohlstand ist gestiegen. Fischer verlieren mitunter ihr Zuhause. Nun befürworten politische Initiativen vielleicht die Durchmischung von Wohngebieten und verpflanzen Fischer in die Nachbarschaft von Investmentbankern. Der Strukturwandel soll staatlich gesteuert oder verzögert werde. Selbst wenn sich die Investmentbanker indes um die eingepflanzten Seeleute kümmern, ist eine Koexistenz des Fischer- und des Investmentbanker-Lifestyles kaum möglich. Also wird sich die Minderheit anpassen müssen oder ein Fremdkörper bleiben.
Diese und viele ähnliche Entwicklungen sind derart facettenreich, dass sie bisher weder durch eine zentrale Staatsmacht erkannt wurden, noch angeordnet werden sollten. Liberale wissen, Fortschritt gelingt, aber inkremental, emergent, von unten nach oben, und keineswegs, weil er beabsichtigt und angeordnet wurde. Konflikte sind eine fortwährende Begleiterscheinung und Teil der Lösung.
Vor diesem Hintergrund sollte nachvollziehbar sein, warum nach liberaler Auffassung die Aufgabe des Staatsapparates einzig und allein der Schutz von Leib, Leben und Eigentum der Bürger ist, während alle weiteren Tätigkeiten schon aufgrund der Fülle unvorhergesehener und unbeabsichtigter Konsequenzen hoch problematisch sind. Hinzu kommt, dass ein ausgreifender Staat mit seiner Bürokratie wenig Eigenständigkeit der Bürger übriglässt, zumal nicht mental. Der Staat wendet sich gegen die Gesellschaft, blockiert Lernen, reformiert selbst die Gesellschaft, statt sich an ihr zu orientieren, und zerstört in riesigem Ausmaß Sozialkapital, um mit dem Staatsrechtlers Karl-Heinz Ladeur zu sprechen.
Liberale betrachten Politik mit mehr Misstrauen als die Masse der Beobachter, Kommentatoren und Praktiker, die Politik vor allem mit Hoffnung verbinden oder politische Versprechen als bare Münze ansehen oder die Gesellschaft nach ihrem persönlichen Weltbild gestalten wollen. Ersteres ist aus liberaler Perspektive eine realistische Haltung, letzteres gegen die Erfahrung aufrecht erhaltenes Wunschdenken und die Ausübung von Herrschaft über Menschen. Versprechen sind Absichtserklärungen, aber keine Realität. Nie wird bekanntlich so viel gelogen wie nach der Jagd und vor Wahlen.
In den USA war während und lange nach der Gründungszeit den Menschen noch bewusst, dass man den mit Zwangsmitteln ausgestatteten Angehörigen des Staates kaum Vertrauen entgegenbringen durfte und sich sogar immer wieder vor ihnen schützen musste. Der Staat war ein notwendiges Übel. In Italien geht man damit pragmatisch um, genauso wie mit der EU und ihren Verordnungen.
Schützender Staat
Der Ökonom und Nobelpreisträger James Buchanan unterscheidet drei verschiedene Formen des Staates:
- Protective State, das ist der schützende Rechtsstaat, der für Sicherheit sorgt.
- Productive State, das ist der wirtschaftende Staat, und schließlich der
- Redistributive State oder Umverteilungsstaat.
Letzterer kann die Form eines Predatory State annehmen, das ist der räuberische Staat, der sich in seiner milden Form in das Leben der Bürger einmischt und ihnen und Unternehmen einige Tätigkeiten und Produkte ihrer Arbeit wegnimmt, während in der schärferen Variante der Predatory State die Bürger für seine politischen Zwecke ausnimmt und einspannt.
Der schützende Staat ist das, was Liberale als Minimalstaat bezeichnen. Die spontane Ordnung dient keinem spezifischen Zweck. Der Minimalstaat schützt die spontane Ordnung. Der Minimalstaat sichert den Frieden nach außen und den Frieden im Innern, das ist das Handeln der Menschen. Den selbst wirtschaftenden und den umverteilenden Staat lehnen konsequente Liberale ab. Liberale wollen, dass der Staat tut, was das Wenige Seine ist, und lässt, was das Viele der Bürger ist. Wo Staat und Wirtschaft eng verbunden sind, werden beide korrumpiert. Das ähnelt Kartellen, die sich zulasten Dritter verabreden.
Zeitlos und wieder aktuell begründeten die deutschen Neoliberalen 1932 die Notwendigkeit eines Minimalstaats oberhalb der Partikularinteressen; sie lehnten den Wirtschaftsstaat mit seinen punktuellen Eingriffen ab. Der linke Neoliberale Alexander Rüstow forderte: „einen starken Staat, der über den Gruppen, über den Interessenten steht, einen Staat, der sich aus der Verstrickung mit den Wirtschaftsinteressen, wenn er in sie hineingeraten ist, wieder herauslöst. Und gerade dieses Sichbesinnen und Sichzurückziehen des Staates auf sich selber, diese Selbstbeschränkung als Grundlage der Selbstbehauptung, ist Voraussetzung und Ausdruck seiner Unabhängigkeit und Stärke. Nur so kann er wieder kraftvoll, kann er wieder eigenständig, kann er wieder neutral im Sinne des höheren Ganzen werden, überlegen nicht durch Gewalt und Herrschaft, sondern durch Autorität und Führertum.“
Allerdings sahen die Neo- und Ordoliberalen viele Staatsaufgaben vor und praktizierten in der Gründungsphase der Bundesrepublik eine Politik, die in klassischer Perspektive mehr als neoliberales Marketing denn Prinzipientreue gelten kann.
In Übereinstimmung mit dem liberalen Manifest, dass in dem Buch „Freiheit, die unbequeme Idee“ abgedruckt ist, herausgegeben von Detmar Doering und Fritz Fliszar 1995, würden viele konsequente Liberale einem Verbot wirtschaftlicher Tätigkeiten des Staates zustimmen und zugleich die Abschaffung des privilegierten öffentlichen Dienstes begrüßen.
Liberale können der Vorstellung etwas abgewinnen, dass die Staatsaufgabe dem eines Wartungstrupps in einer Fabrik entspricht. Der Staat selbst soll keine Güter und Dienstleistungen für die Bürger produzieren, sondern vielmehr dafür sorgen, dass die spontane Ordnung und die sie begründenden Regeln einwandfrei funktionieren. Der Minimalstaat ist ein Rechtsstaat, kein Machtstaat.
Rechtsstaat, nicht Machtstaat
Felix Somary verdeutlichte den Unterschied zwischen Rechts- und Machtstaat auf prägnante Weise: „Die Grundgesetze des Rechtsstaates präzisieren die Rechte der Bürger, die des Machtstaates die Pflichten. Auch der Rechtsstaat verlangt von seinen Bürgern Leistungen, aber sie sind gesetzlich begrenzt; die Pflichten im Machtstaat sind ‚ungemessen’.“ und er fährt fort: „Ein Gentleman, so lautet die schöne englische Definition, ist ein Mann, der von seinem Recht nie hundertprozentigen Gebrauch macht. … Den Rechtsstaat charakterisiert die Begrenzung, das Maß; den Machtstaat die Unbegrenztheit, das Totale. Total ist alles, was er angreift: der Krieg, die Wirtschaftsführung, die Unfreiheit der eigenen und der unterworfenen Völker, die Enteignung, die Rechtlosigkeit.“
Offenkundig konzentriert sich im Machtstaat die Gewalt. Die Gewaltenteilung wird aufgehoben. Schneller, alternativloser Pragmatismus gewinnt die Oberhand. Die Politik muss handeln. Von ihr werden Entscheidungen erwartet. Die Massen und die Medien erwarten Handlungsfähigkeit, Geschlossenheit, Einheitlichkeit, Durchsetzungsstärke. Alternativen werden als Abweichler, Störenfriede, Kriminelle, Leugner, Radikale gebrandmarkt. Politisches Handeln wird zur Wettkampfarena, in der sich der Stärkste, Geschickteste, Gewiefteste durchsetzt. Das Gemeinwohl ist die letzte Instanz, darüber inzwischen noch die globale Klimarettung. Große Männer und Frauen sollen über große Themen entscheiden, Krisen bewältigen. Bezeichnenderweise werden Fragen von großer Tragweite tatsächlich schnell und einseitig entschieden. Hingegen schleppen sich alltägliche Routineangelegenheiten dahin.
Für Liberale ist der Machtstaat ein Graus. Freiheitsfreunde sind sensibel für machtpolitische Weichenstellungen. Friedrich August von Hayek hat in seiner „Verfassung der Freiheit“ hervorgehoben, dass die Freiheit unter dem Gesetz durch die Befolgung allgemeiner, abstrakter Regen gekennzeichnet ist, die uns nicht dem Willen eines anderen unterwerfen. Die Allgemeinheit und Abstraktheit führe dazu, dass das Recht nicht willkürlich sei: „So wie ein echtes Gesetz keine partikulären Umstände anführen soll, so sollte es insbesondere keine bestimmten Personen oder Gruppen herausgreifen.“
Der Westen befindet sich mit seiner aufgeblähten, (hyper)inflationären Gesetzgebung von Deutschland über die EU bis zu den USA auf einem abschüssigen Pfad und ist auf ihm bereits weit vorangeschritten. Heute sind die Bedingungen für einen auf ein Minimum reduzierten Staat indes gut:
- Wir leben in einer globalisierten Welt, arbeitsteilig, mit wirtschaftlichen und sozialen Netzwerken sowie internationaler Kooperation, für deren Intensivierung die Staaten lediglich staatliche Barrieren beseitigen müssen.
- Der Wohlstand war nie so groß wie heute. Der drastische Rückgang der Armut und die Zunahme der Weltbevölkerung sind Folge der spontanen Ordnung, der Bemühungen von Millionen Menschen ohne gemeinsames Ziel.
- Die Erkenntnis, dass Märkte die beste Lösung für Entwicklung und für saubere Umwelt sind, selbst gegen Terror, sind vorhanden, wenn auch noch nicht nachhaltig verankert.
- Das multiple Staatsversagen ist nicht nur bei Kriegen und bewaffneten Konflikten, sondern auch in der Bildung, bei der Corona-Politik und der Infrastruktur sowie der Energiepolitik und der Bekämpfung von Finanzkrisen unübersehbar geworden. Die Kosten-Nutzen-Bilanzen sind dramatisch.
All das macht die Rückbesinnung und volle Konzentration auf hoheitliche Aufgaben notwendig und möglich: den Schutz von Leib, Leben und Eigentum.
Fazit und Ausblick zum Minimalstaat
Der Minimalstaat schützt das Privateigentum und die Privatheit. Dafür werden einheitliche Regeln durchgesetzt, die die Freiheit schützen und Kooperation stärken. Der Minimalstaat ist für den Schutz der „Privatrechtsgesellschaft“ (Franz Böhm) da. Das öffentliche Recht dient nur der Regelung des Minimalstaats und darf auf keinen Fall erneut das Privatrecht der Gesellschaft durchdringen und überlagern. Sonst werden Ordnungsregeln durch Organisation, die Regeln eines gerechten Zusammenlebens durch Verwaltungsvorschriften sowie Vorstellungen über ein vermeintlich richtiges Leben ersetzt.
Friede, Gerechtigkeit und Freiheit, das sind die drei großen Aufgaben des Minimalstaates.
Dieser Beitrag von Michael von Prollius ist ein Auszug aus seinem Buch Ein liberales Manifest: Sieben Prinzipien und einige Klarstellungen (edition g). Die Veröffentlichung beim Liberalen Institut erfolgt mit freundlicher Genehmigung.