Es gab mal ein Buch mit dem Titel «Menschen, die wissen, worum es geht» von Marion Gräfin Dönhoff. Wo sind diese Menschen heute hin? Es gibt nicht viele, die heute noch das Format haben, Wegweiser zu sein und die Verhältnisse schonungslos wie zeitlos offenzulegen. Doch es gibt sie. Einer von ihnen war Felix Somary, einen hellsichtigen Privatbankier aus Zürich mit österreichischer Herkunft, der 1956 gestorben ist.
Felix Somary war ein seltenes Phänomen. Ein Ökonom der österreichischen Schule, der seine Doktorarbeit bei Carl Menger geschrieben hat, einem Vordenker der Geldtheorie. Ein breit gebildeter Denker einer Epoche, die Stefan Zweig «Die Welt von gestern» nannte, wir befinden uns mit ihm im betonhart abgesicherten Bildungsbürgermilieu Österreichs zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Er war ein Vordenker seiner Zeit, der die Zukunft in den Knochen spüren konnte, der die Mächtigen beriet, der oft und gerne gehört, dessen Rat aber nur selten befolgt wurde. Ein wacher Geist, der daran verzweifelte, den Gang der Dinge zu erkennen aber machtlos dabei zuschauen zu müssen. Der Historiker und Diplomat Carl J. Burckhardt meinte einmal in der NZZ, dass Somary u.a. Dank seines Buches «Krise und Zukunft der Demokratie», irgendwann genauso hochgeschätzt werden würde wie Alexis de Tocqueville. Otto von Habsburg sah in ihm einen Universalgelehrten unserer Zeit, der mit seinem Wissen zudem keine Publicity suchte, sondern sich bescheiden im Hintergrund hielt.
Ein Augur ohne Sehnsucht nach Publicity
Somary hatte keine Zauberkräfte. Er hatte vielmehr ein Gespür für die inneren Vorgänge der Gesellschaft, die er lediglich mit früheren Mustern der Geschichte abgleichen musste, um sehen zu können, in welche Richtung eine Entwicklung wies. Mit dem zusätzlichen Wissen aus Ökonomie und Bankenwesen hatte er, wie ein Arzt, Einblick in die Eingeweide der Gesellschaft. Wer schuldete wem wie viel und wer vertraute wem oder auch nicht? Er las aus Geldflüssen, Zinsfüssen und Verschuldungsquoten schon vorab heraus, was später in der Zeitung stand, nachdem es sich ereignet hatte. Und sicher war auch der Kontakt zu führenden Köpfen (er kannte u.a. Max Weber und Joseph Schumpeter) und Entscheidungsträgern (er traf u.a. auf den österreichischen Staatspräsidenten Karl Renner, den Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht, General Ludendorff oder John Maynard Keynes) einer gewissen Weitsicht nicht abträglich.
1919 kam Somary, der inzwischen Banker geworden war und auch ein Buch über Bankenpolitik geschrieben hatte, unter abenteuerlichen Umständen — Deutschland war mitten im Revolutionsgewirr — nach Zürich. Er deponierte seine Habe erst einmal «im bescheidenen Stauraum» der Schweizerischen Nationalbank an der Bahnhofstrasse — und atmete tief durch. Bis 1926 leitete er die kleine Privatbank Blankart & Cie. am Paradeplatz. Mit dem Umzug in die Schweiz folgte er seinem eigenen Rat, denn er sah die Schweiz als einziges Land der Welt an, wo Vermögen noch vor Wertverlust geschützt war. Dies erreichte er auch für die Kunden, die auf ihn hören wollten.
Auch hier lag er richtig. Schon bald grassierte die Inflation in Deutschland und Österreich. Somary scheute sich im Vorfeld nicht, die Alarmglocke zu läuten — auch auf das Risiko hin, verlacht zu werden. Er sah in Österreich einen Staatsbankrott nahen, der nur entweder durch einen Schuldenschnitt oder durch eine massive Abwertung der Währung ausgeglichen werden würde. Der Ökonom Joseph Schumpeter selbst wollte ihm nicht glauben — und sah sich erst dann eines Besseren belehrt, als er seinen Posten im Finanzministerium aufgab und zu einer Bank wechselte — die alsbald kollabierte. Somary half hier wieder der Blick in die Geschichte. Jedes staatliche Geld ist irgendwann untergegangen. Während Rom noch 400 Jahre gebraucht hatte, um die eigene Währung zu ruinieren, genügten Deutschland und Österreich dafür neun Jahre, Russland schaffte es sogar in fünf. Doch Somary blickte schon weiter. Wer, wenn nicht autoritäre Kräfte, sollte nach der Inflation an die Macht kommen? Sowohl die Bolschewiken in Russland als auch Hitler bestätigten ihn letztlich in seiner Befürchtung, dass Inflation der ideale Nährboden für Gewalt- und Willkürherrschaft war.
Geschichte, die ungehörte Lehrmeisterin
Machtkonzentration, Revolutionsgewirr, Inflation, totalitäre Strömungen. Wie sich die toxischen Gerichte in der Hexenküche der Geschichte doch gleichen. Wenn alles ins Rutschen gerät, wenn alle Massstäbe sich auflösen, sich Gewissheiten verflüssigen, Institutionen auflösen, und zum Schluss auch noch das Individuum der Mut verlässt, ist das Chaos angerichtet, welches die Sozialingenieure der Welt seit jeher brauchten, um eine neue Suppe anzumischen. Das alte Material wird in neue Aggregatszustände übertragen, und dient als Material für ein neues System. Wer Somary heute liest, kann fast nicht anders, als die Gegenwart in der Vergangenheit zu lesen, mit allen Abstrichen und vernünftigen Einschränkungen, die man stets machen muss, denn Geschichte wiederholt sich nie, sie reimt sich höchstens.
Felix Somary dachte in zyklischen Geschichtsmustern, in Kategorien wie «Revolution und Restauration» sowie in Wirtschaftszyklen von «Hausse» oder «Baisse». In Zeiten der Restauration nimmt der Konformismus zu. Leben wir also gerade in Zeiten einer Restauration? Der Wiederherstellung einer neuen, alten Ordnung? Mit Somary kann man die Nachkriegszeit als Zeit der liberalen Revolutionen deuten. Was seit Terror-, Klima-, Corona- oder Kriegspanik passiert, ist die Rückkehr zu Feudalstrukturen. Diese Restauration passiert jedoch gerne auf höherer Ebene, wie Somary am Beispiel des Wiener Kongresses aufzeigt, dem politisch-gesellschaftlichen Spektakel der restaurativen Neuordnung nach dem Sieg über Napoleon. Heute ist die nächsthöhere Ebene ein Geflecht aus UNO-WHO-Strukturen, grossen Stiftungen, den Interessen der im WEF gebündelten Wirtschaftsmacht, des mit allen Strukturen verflochtenen Medienbetriebs, dem Geheimdienst- und Sicherheitsapparat, der NATO. Formel 1-Fahrer, Tennisspieler und Schauspieler sind mit von der Partie, Angelina Jolie wirbt inzwischen für Insekten als Nahrungsmittel. Es entsteht ein restaurativer, machtkonzentrischer Korporatismus globalen Ausmasses als nächster Dreh- und Angelpunkt der Welt. Hätte Somary dieser Analyse zugestimmt?
Vielleicht ja, vielleicht nein. Sein Denken war stets das in grösseren Zusammenhängen. Ausgehend vom Befund der zunehmenden Machtkonzentration, den Somary schon für seine Zeit stellte, formuliert er in den 50er Jahren seine «20 Sozialgesetze» oder «Gesetze der verkehrten Proportion». Aus Machtkonzentration entsteht demnach ein Sog, der sich auf alle anderen Lebensbereiche auswirkt und seltsame Folgen hat.
Die 20 Sozialgesetze der verkehrten Proportion
Das erste «Gesetz» lautet zum Beispiel: «Je stärker Gewalt zentriert wird, desto geringer ist die Verantwortung.» Und er erlaubt sich den Zusatz: «Je höher der Platz auf der hierarchischen Stufenleiter, desto unzulänglicher wird er ausgefüllt» — ein wohl eherner Grundsatz jeder Organisationsform, der später als sogenanntes «Peter-Prinzip» bekannt wurde, die zwangsläufige Beförderung der Unfähigen. Wir leben heute geradezu in einem Zeitalter der Verantwortungsverpuffung. Rücktritte sind selten geworden. Dafür schaffen es verstärkt sowohl persönlich als auch fachlich gänzlich überforderte Politiker bis in die Spitzen der Ministerämter. Vielleicht gehört auch dies zum Wesen einer Restauration: Sie muss sich auf ein Personal stützen, das seiner Aufgabe nicht ganz gerecht werden kann, das notwendigerweise blind für das ganze Bild ist und damit als willfähriges Werkzeug im Gesamtpanorama der neuen Machtelite in Frage kommt. Braucht nicht jede Machtkonzentration ihre Erfüllungsgehilfen und nützlichen Idioten der Scheinermächtigten?
Im Fünften Gesetz zeigt Somary den Machtverlust des Bürgers jenseits lokaler Strukturen auf: «Je grösser und vielseitiger der Staat, desto einflussloser das Volk». Dieser Befund dürfte heute umso mehr noch für die EU oder UNO gelten, wohin sich die Machtzentren zunehmend verschieben. Auf EU-Ebene kann gerade eine Gruppe von EU-Parlamentariern die Impfstoff-Politik der EU-Kommission als “grössten Korruptionsskandal der Welt” versuchen zur Sprache bringen, ohne dass die europäische Öffentlichkeit davon gross Notiz nimmt. Immerhin ermittelt jetzt die «Europäische Staatsanwaltschaft». Von der Existenz einer solchen Behörde dürften die meisten Bürger nicht mal etwas wissen.
Sehr erhellend ist auch das sechste Gesetz: «Je stärker der Druck der Regierung, desto geringer der Widerstand der Massen». Der stärkste Druck, der die Lebensgewohnheiten radikal ändert, wird demnach eher als Schicksal empfunden, der Kampf dagegen als aussichtslos angesehen. Politiker leiten daraus die Regel ab: «Wenn du drücken musst, drücke zu Beginn und drücke hart». Seit den Corona-Massnahmen und der schweigsamen Folgsamkeit der Mehrheit scheint sich dieses Gesetz zu bewahrheiten. Bürger revoltieren eher gegen schwache Regierungen als gegen autoritäre. «Je mehr Tyrannen, desto weniger Opposition», lautet passend dazu das dreizehnte Gesetz: «Ein Tyrann erregt Widerstand, mehrere erregen Nachahmung.»
Das vierzehnte Gesetz fasst perfekt zusammen, wie inzwischen Politik gemacht wird:
Je weniger eine Sache begründet ist, desto leidenschaftlicher wird sie verteidigt.
Werbung, Moral und Emotion ersetzt Argumentation, Probleme werden weder gelöst noch diskutiert, sie werden personalisiert, emotionalisiert und moralisiert. Oder wie Somary schreibt:
Es gibt keine Fanatiker der Mathematik oder Astronomie, wohl aber der Politik und Theologie. Man stirbt nicht, sagt Renan, für Wahrheiten sondern für Meinungen.
Wer gerade staunend auf die Baupläne für ein neues Kanzleramt in Berlin für 777 Millionen Euro schaut, den wird schliesslich das 19. Sozialgesetz interessieren: «Je schwächer die Staatsfinanzen, desto höher die Ausgaben». Dazu Somary:
Nie baut man so luxuriöse Amtsgebäude wie in der Zeit vor dem Bankrott; zu keiner anderen Zeit wächst der Parasitismus so wild in die Höhe. In solchen Tagen beginnen die seltsamsten Geldquacksalbereien zu wuchern. Das einzige Heilmittel ist das restlose Auslaufen des Geldes, das dann zur Besinnung zwingt.
Das zwanzigste Gesetz ist schliesslich das eherne Prinzip der Machtkonzentration: «Je grösser Reichtum und Macht, desto geringer die Sättigung». Macht- und Geldkonzentration sind nicht nur ein ungünstiger Zustand für die Freiheit des Einzelnen, sie sind eine schiefe Ebene zu immer noch mehr Konzentration. Sie ist letztlich eine Gewaltspirale.
Somary war nie eine Stimme für die Massen, sondern wurde immer nur von wenigen gehört und gelesen. Das war schon zu seinen Lebzeiten der Fall und wäre es wohl auch heute, wenn man ihn in der breiten Öffentlichkeit neu entdecken würde. Die schonungslos ehrliche Auseinandersetzung mit der Zeit macht zu allen Zeiten einsam.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Blog «Freischwebende Intelligenz».
Milosz Matuschek ist promovierter Jurist und Publizist. Er ist Weltwoche-Kolumnist, war mehrere Jahre NZZ-Kolumnist, war stv. Chefredaktor des Schweizer Monats und ist Autor von sechs Büchern.