Der Nährboden des Pluralismus
Das christliche Glaubenssystem war, einigen notorisch gegenteiligen Auffassungen zum Trotz, zugänglich für eine dem Wirtschaftswachstum und den politischen Freiheiten förderliche Entwicklung. So entwickelte sich im Glauben der Christen allmählich die Ansicht, dass jede rechtmässige Regierung auf der Zustimmung der Regierten zu gründen habe; des weiteren entwickelte die Kirche die Praxis der Einberufung repräsentativer Räte, die viele Entscheide der Kirchenpolitik zu treffen hatten — eine Praxis, die dann direkt auf die weltliche Politik übertragen worden ist. Indessen waren es besonders die einzigartigen institutionellen Bedingungen in Teilen des Europa des Mittelalters und der Frühneuzeit, die als Katalysator die Wahrnehmung solcher Errungenschaften beschleunigten.
Dadurch, dass nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches während geraumer Zeit ein Vakuum an grossmassstäblicher politischer und wirtschaftlicher Ordnung herrschte, war der Boden für eine gedeihliche Entwicklung von Politik und Wirtschaft vorbereitet. In diesem auf Wettbewerb eingestellten, dezentralisierten Milieu wurden viele Alternativlösungen gesucht, da sich jede Gesellschaft dem jeweils allein auf sie zugeschnittenen äusseren Umfeld gegenübergestellt sah. Einige dieser Alternativen, wie jene der Niederlande und Englands, funktionierten, etliche, wie die von Spanien und Portugal gewählten, schlugen fehl, und wieder andere, wie jene Frankreichs, hielten sich in der Mitte der beiden Extreme. Aber den Schlüssel zum Erfolg lieferte die Vielfalt der eingeschlagenen Wege und die Wahrscheinlichkeit, dass unter diesen einige das Ziel einer wirtschaftlichen Entwicklung erreichen würden (eine Wahrscheinlichkeit, die unter der Voraussetzung bloss einer einzigen, zentralisierten Politik weit geringer gewesen wäre). Sogar die relativen Fehlschläge spielten eine wichtige Rolle in der Wirtschaftsgeschichte Westeuropas, das also letztlich wegen des Wettbewerbsdruckes besser abschnitt als andere Weltregionen.
Ein kreatives Umfeld
Dieser Punkt verdient besondere Aufmerksamkeit. Die dynamischen Folgen des Wettbewerbs unter den aufgeteilten politischen Körperschaften schufen ein besonders kreatives Wirkungsfeld. Europa war politisch zwar aufgesplittert, doch waren Teile insofern miteinander vereint, als es sowohl über eine gemeinsame, vom Christentum hergeleitete Wertestruktur als auch über integrierte Informations- und Transportverbindungen verfügte, was zum Ergebnis führte, dass sich wissenschaftliche, technologische und künstlerische Errungenschaften des einen Landes schnell auf die ganze Region ausbreiten konnten. Beispielweise die Niederlande und England als Erfolgsgeschichten zu behandeln und dabei den Stimulans aus dem übrigen Europa — und zu einem geringen Grad aus dem Islam und China — nicht zu berücksichtigen, hiesse einen vitalen Teil der Erklärung vernachlässigen. Die italienischen Stadtstaaten, Portugal und die deutschen Fürstentümer fielen alle hinter die Niederlande und England zurück; aber das Bankwesen, die künstlerische Entwicklung, Verbesserungen in der Schifffahrt oder der Buchdruck waren nur einige der offensichtlichsten Beiträge dieser Staaten zum europäischen Fortschritt.
Dieser Text ist ein Auszug aus: Douglass C. North, «Die Bedeutung von Konkurrenz, Nachahmung und Werten beim Aufstieg der westlichen Welt, erschienen in: «NZZ», 223, 25./26. September 1993, S. 83.