Als Zwingli nach Zürich kam, zählte man unter den 5000 Einwohnern 214 Geistliche. Das ergibt, auch wenn nicht alle pausenlos Seelsorge leisteten, eine Betreuerdichte von 1:25. Auf dem Land, damals ebenfalls dünn besiedelt, kamen 1400 Kirchen, 54 Kapellen und 20 Brüder- und Schwesternhäuser sowie zwölf Klöster hinzu.
Die Reformation brachte unter anderem eine Reduktion des kirchlichen Personals und damit eine Entlastung der Bürger und Handwerksbetriebe. Die vielen Priester hatten keineswegs zu besseren Zuständen geführt. Im Gegenteil: Oft waren Geistliche an Keilereien und Ehebrüchen beteiligt. Die Betreuerdichte diente vorwiegend materiellen Zwecken. Sie verschaffte einer Minderheit Pfründen auf Kosten arbeitender Menschen. Vom Evangelium her war eine solche Ordnung am allerwenigsten zu begründen, denn Jesus hatte ja das Priesterwesen als Vermittlung zwischen Mensch und Gott aufgehoben und proklamiert, jeder Mensch könne selber vor Gott treten. Das erkannte auch die katholische Kirche und straffte nach der Reformation ihren Priesterstand.
Zwischen einem wahrhaft freiheitlichen System und einer Despotie liegt eine Bandbreite mit vielen Mischformen. Pendelausschläge in die eine oder andere Richtung sind normal. Geht der Trend über mehrere Generationen in die gleiche Richtung, so müssen die Alarmlampen blinken. In der Schweiz legt die Staatsquote seit drei Generationen pausenlos zu, und seit 15 Jahren ist dieser Trend stärker als in den meisten OECD-Ländern. Das freiheitliche System befindet sich in einer Metamorphose Richtung Despotie. Das ist nicht ohne weiteres erkennbar. Despoten treten nie mit offenem Herrschaftsanspruch auf, sondern locken mit Bewahrung, Umverteilung und Sicherheit. Auf diese Angebote sind die meisten Menschen anfällig, speziell wenn das herkömmliche System enttäuscht. So war es auch im Alten Israel: Als der Richter Samuel alt war, gelang es nicht mehr, das Richteramt seriös zu besetzen (1. Samuel 8). Seine Söhne waren korrupt, sodass das Volk einen König begehrte, „so wie es bei anderen Nationen auch ist“. Dieses Nicht-Argument überdauerte die Jahrtausende und wird heute von den Dienstboten der EU verwendet.
Das irrationale Phänomen der wuchernden Staatsquote hat eine ganz rationale Triebfeder: Es geht um Mandate, Pfründen und Jobs. Votieren Staatsrechtsprofessoren gegen die Volksinitiative zur Einschränkung des Verbandsbeschwerderechts, so spekulieren sie auf Mandate für sich und ihre Juristenzunft. Dramatisieren der Nationalfonds oder Umweltverbände die ökologische Lage, so läuft das auf mehr Pulte, Sitzungen und Bürokratie hinaus. Die Erziehungsdirektorenkonferenz ihrerseits hat in echt despotischer Manier Eingriffe in die Kindererziehung in die Wege geleitet, mit der Tausende von neuen Jobs und Abhängigkeiten generiert würden. Werden am andern Ende der Jugendjahre Ausbildungsgänge dauernd verlängert, so dürfte das gleiche Motiv zugrunde liegen. Und das grösste Risiko der gegenwärtigen Finanzkrise liegt wohl darin, dass sich die Staatsbürokratien neue Handlungsfelder erschliessen.
Die Despotie beginnt auf leisen Sohlen. An kleinen Staatswesen lässt sich studieren, wie der Point of no Return überschritten wird. In Basel-Stadt, wo der Kanton 20.000 Arbeitsplätze bei 185.000 Einwohnern bietet, lebt (auch wenn ein Teil der Beschäftigten ausserkantonal wohnt) faktisch die Hälfte der Stimmbürger von der öffentlichen Hand. Hinzu kommt die Anziehungskraft solcher Gemeinwesen für Sozialbezüger, die den Trend an der Urne unterstützen. In solchem Klima machen auch „liberale“ Parteien inhaltliche Anleihen beim Etatismus. In Deutschland scheint sich die Waagschale bereits grossflächig auf diese Seite gesenkt zu haben.
Wer sich in solchen Strukturen einzurichten weiss, ist kein Unmensch, sondern macht sich das System sowie Trägheit und Gutgläubigkeit zunutze. Er legitimiert sich vorzugsweise quasi-religiös und moralisch: Welt erhalten, Menschen verbessern, Gesundheit schützen. Schon die persischen Kaiser und ägyptischen Pharaonen gaben sich als Schutzgötter aus. Die römischen Kaiser erklärten sich — viel raffinierter — zu Stellvertretern der Götter, ein Anspruch, der mitsamt der Führungsstruktur pfannenfertig an die Kirche überging. Inzwischen sind die Kirchen entmachtet. An ihrer Stelle bauen Menschen- und Weltretter sowie Ethikexperten die moderne Despotie.
Nicht mehr das Gottesgnadentum, dafür angeblicher Rettungsbedarf legitimiert die Aushebelung von Individual- und Freiheitsrechten. Die Trümpfe heissen sozial, ökologisch, gerecht, tier- und naturschützend. Da eigenständiges Denken die Despotie hemmt, passt auch der Niedergang des Bildungswesens gut zum Trend. Ähnlich wie im Mittelalter weite Teile der Geistlichkeit vordergründig diszipliniert, tatsächlich jedoch nach dem Lustprinzip lebten, geben sich heute Tausende von staatlichen und parastaatlichen Bürokraten als Sachwalter des Guten aus, obwohl sie genau so gut und schlecht sind wie diejenigen, die sie belehren und lenken wollen. Tröstlich immerhin, dass auch Despoten und Despötchen ein Verfalldatum haben, und dass Zivilcourage und Freiheitsdrang mitunter so überraschend ausbrechen wie der Wetterwechsel oder der Börsencrash.
Peter Ruch ist Pfarrer und Mitglied des Stiftungsrats des Liberalen Instituts. Dieser Artikel wurde in der NZZ am Sonntag publiziert.