Seit dem Januar 1995 verbietet der Artikel 261bis STGB den öffentlichen Aufruf zum Rassismus und die öffentliche Leugnung von Völkermord. Es besteht kein Zweifel, dass Rassismus und Völkermord abscheuliche Übel sind, die von keinem vernünftigen Menschen gebilligt oder gar verteidigt werden. Sie gehören zu den Exzessen menschlichen Fehlverhaltens, die leider im Lauf der Menschheitsgeschichte nicht allzu selten vorgekommen sind.
Ob sie sich durch eine Einschränkung der Meinungsäusserungsfreiheit (die auch die Verbreitung von Lügen und groben Irrtümern einschliesst) wirksam bekämpfen lassen, ist indes zweifelhaft. Wer seinerzeit im Abstimmungskampf auf die Problematik dieser Normen hinwies, wurde sofort in den Dunstkreis der Befürworter von Rassismus und Genozid gerückt, und bis heute leidet die Diskussion an solchen perfiden Unterstellungen.
Halten wir zunächst fest: Man kann ein zutiefst überzeugter Gegner von Rassismus und Völkermord sein und trotzdem für die Aufhebung der vermutlich sogar kontraproduktiven Strafnorm plädieren. Was sie an zusätzlichen Problemen schafft, steht in keinem Verhältnis zur behaupteten präventiven Wirkung.
Die Antirassismus-Norm krankt daran, dass sie einen Begriff verwendet, der selbst Teil des Problems ist. Wer den Begriff «Rasse» definieren will, begibt sich nämlich selbst in den Dunstkreis wissenschaftlich überholter Rassentheorien. Auch das Delikt «öffentlicher Aufruf zur Diskriminierung» ist schwer abgrenzbar, weil man vernünftigerweise die öffentliche Äusserung von Hassgefühlen und den Appell an allfällige Mithasser gegen Personengruppen und Personen nicht nach ihren Motiven klassifizieren kann. Gehören Rapper, bei denen der öffentliche Appell an negative Emotionen Bestandteil der Kunstgattung ist, ins Gefängnis? Wo ist die Grenze zwischen geschmacklosen Witzen und dem «Aufruf zur Diskriminierung»?
Früher oder später wird man einsehen müssen, welch unlösbare Auslegungsprobleme man sich mit dieser Norm eingebrockt hat. Sie schürt das Grundübel letztlich mehr, als dass sie es verhindert, weil damit auch allfällige Ventile geschlossen werden.
Gleiches, ja noch Schlimmeres, lauert hinter dem Verbot der Völkermord-Leugnung. Völkermord gehört zu den Schattenseiten der Menschheitsgeschichte, und es muss nicht nur unter Historikern, sondern auch vor Völkerrechtstribunalen erlaubt sein, die Fragen nach der Tragweite und nach den Motiven in der ganzen Bandbreite öffentlich zu diskutieren.
Waren die von Stalin und Mao durch Straflager und Hunger vernichteten 30 Mio. bis 40 Mio. Menschen «Angehörige einer Rasse, Ethnie oder Religion»? Was wäre von einer Klage gegen Historiker zu halten, die sagen, diese Opfer seien eben für die Überwindung des Feudalismus unumgänglich gewesen? Die heute gängige Sprachregelung, die meines Erachtens die Opfer ebenfalls beleidigt, lautet, das seien die tragischen Begleiterscheinungen einer ursprünglich humanistischen Idee namens Sozialismus bzw. Kommunismus gewesen, und keine Genozide. Wer kanonisiert die welthistorischen Genozide als die echten und trennt sie von den unechten? Das Bundesgericht? Eine amtliche Kommission für historisch zulässige bzw. unzulässige Definitionen? Eine nationale oder internationale Historikerkommission? Oder eine nationale oder kantonale Exekutive?
Warum sagt niemand, man beleidige die Opfer des 11. Septembers 2001, wenn man behauptet, das World Trade Center sei von der Bush-Administration selbst gesprengt worden? Inzwischen glaubt das in Deutschland eine Mehrheit der Unter- Dreissigjährigen. Einen vernünftigen Grund, die Verbreitung solcher Meinungen unter Strafe zu stellen, gibt es meiner Meinung nach nicht. Wenn Genozid nicht verjährt, müsste man auch das Leugnen der Ausrottung der Indianer, der Ur-Australier, der Ur-Kanaaniten durch das damals eingewanderte Volk Israel unter Strafe stellen. Ich meine eher, man verletze den Prozess von Rede und Gegenrede, von Deutung und Widerlegung, von falschen und zutreffenden Aussagen, wenn man hier durch das Strafrecht Schranken aufstellt.
Der Einwand, man habe bisher die Norm restriktiv ausgelegt und bewusst auf zwei besonders grausame und unbestrittene Völkermord-Fälle eingeschränkt (Armenier und Juden), macht die Strafnorm nicht weniger fragwürdig. Gerade die Tatsache, dass heute kein seriöser Historiker den Genozid an den Armeniern und den Holocaust in Frage stellt, ist doch ein Argument dafür, dass man die Meinung der paar nationalistischen Extremisten und Aussenseiter, welche die Massentötung als Begleiterscheinung eines Bürgerkrieges oder eines Kriegs deuten und die Anwendung des Begriffs Völkermord auf die historischen Fakten ablehnen, nicht bestrafen sollte, sondern widerlegen.
Sperrt man sie ins Gefängnis, macht man deren Vertreter zu Märtyrern der Meinungsäusserungsfreiheit, und man nährt damit den spätern Verdacht, die offiziell vorherrschende Doktrin sei eben doch nicht über alle Zweifel erhaben gewesen. Lügen muss man — auch in der Geschichte und in der Politik — nicht bestrafen, sondern widerlegen, nötigenfalls immer wieder und mit immer besseren Argumenten.
Publiziert in St. Galler Tagblatt