Was zeichnet eigentlich moderne Machtergreifungen aus? Vermutlich vor allem, dass sie nicht wie Machtergreifungen aussehen dürfen — und somit nur zwischen den Zeilen erkannt und erst in der Rückschau gänzlich verstanden werden können. Im aktuellen Meinungsklima gilt das mehr denn je. In einer Welt der weichgespülten Vokabeln, wie Anti-Aggression, Diversität, Achtsamkeit & Co., gibt es nur noch Sachzwänge und die Vernunft im Dienst der guten Sache, also unangreifbare Massstäbe, die alternativlose Entscheidungen «vorschreiben». Die Implikation für die Demokratie könnte gewaltiger nicht sein. Denn im Klartext hiesse das, dass in der Demokratie von heute nur noch der Schein der Demokratie erwünscht ist, aber keine echte Diskussion über Alternativen mehr, geschweige denn Protest.
Erst unverfänglich, jetzt übergriffig
Für viele mag das zu weit hergeholt klingen. Aber was auch immer es ist, was in das Zentrum der Macht als neuer dumpfer Koloss vorrückt, es kommt doch immer näher. Wie sagte doch Richard David Precht einmal in der Fernsehsendung «Sternstunde Philosophie»: «Gegen die Coronamassnahmen, die Migrations- oder Klimapolitik auf die Strasse zu gehen, zeugt von einer unmündigen und infantilen Trotzhaltung».
Der Kölner Germanist, der als Philosoph und Sachbuchautor seit Jahren den Diskurs des korrekten Lebens im deutschsprachigen Raum mitprägt, entpuppt sich in Zeiten von Corona als einer der vielen Vollender des «Reichs des Guten» von Philippe Muray, einem französischen Philosophen und geistigen Mentor Michel Houellebecqs, der im Jahre 1991 ein Buch mit gleichnamigem Titel veröffentlicht hatte.
Das Reich des Guten, was macht es aus und warum ist es heute besonders relevant? Im Kern bezeichnet das Reich des Guten eine Gesellschaft der Pharisäer, also von Menschen, die sich selbst im Gnadenstand der Erkenntnis des Guten und Richtigen glauben und daraus das Recht ableiten, massiv in das Leben anderer Leute einzugreifen. Diese neuen Pharisäer sind eine eigene Nomenklatura der Macht geworden, die stets vorgibt, im Sinne eines wolkigen gesellschaftlichen Konsenses zu den grossen Fragen der Zeit, wie Migration, Klima, Gender und Minderheitenrechte — und jetzt natürlich Corona — zu agieren.
Mit Corona wurde es totalitär
Doch spätestens mit Corona ist der korrekte Konsens nicht bei einer Ansichtssache über Sprachkosmetik und Gendersternchen geblieben. Murays «Reich des Guten» wäre dann in der Form der seit Jahren bekannten, medialen Tugendrepublik verharrt. Nein, das Reich des Guten könnte nur das Vorspiel für einen Systemwandel totalen Ausmasses gewesen sein, mit der Cancel Culture als Schneise, die sich durch alle gesellschaftlichen Bereiche zieht, und letztlich vor allem die Funktion hatte, Menschen voneinander zu trennen. In einem manichäisch geprägten Kampf «Gut gegen Böse» ist schliesslich jede Schattierung und Differenzierung störend; diese zerstört die dringend benötigten Feindbilder, die man als Pappkameraden nun mal für jeden Machtwechsel braucht.
Inzwischen sind aus den Pharisäern von damals handfeste Agenda-Treiber geworden, die sich auf den eintöniger werdenden Marktplätzen der veröffentlichten Meinung die Bälle zuspielen. Der Ausschluss Andersdenkender aus dem Diskurs, der an vielen Beispielen zuvor durchexerziert worden ist — Migrationskritiker sind Nazis, Klimapolitik-Skeptiker sind Leugner, Covid-Massnahmenkritiker sind Covidioten — flankiert spätestens mit der Covid-Pandemie nun auch eine nie dagewesene globale Machtkonzentration.
Egal ob Regierungen, Privatstiftungen, Grosskonzerne, Zentralbanken: Die Corona-Pandemie ist die allgemeine Herdplatte, auf der sich agendawillige Vordenker einer «Neuen Normalität» mit dem medialen Mainstream als Steigbügelhalter ihr Süppchen kochen können. Es ist, als würde durch Corona plötzlich eine neue Ebene der Macht sichtbar, die bisher unverfänglich agierte, aber zunehmend eine Deutungshoheit beansprucht und damit einen Machtanspruch markiert. Es war hier gerade Philippe Muray, der sich schon 1991 anlässlich des von der WHO eingeführten Nichtrauchertages die richtigen Fragen stellte, die heute von erschreckender Aktualität sind:
«Wer steckt eigentlich hinter der WHO? Habe ich persönlich die WHO um ihre Meinung gebeten? Was geht die das an? Hat mich die WHO mal gefragt, bevor sie über die Farbe meiner Tage entscheidet? Haben wir einen Vertrag unterschrieben? Und wo hält die WHO überhaupt ihre Besprechungen ab? Was ist das? Eine Sekte? Ein Konsortium? Ein allmächtiges Verbrechersyndikat? Eine anonyme weltweite Gruppierung? Der wirkliche Name von Big Brother?»
Ein «Fenster der Möglichkeiten»
Es ist mehr als bezeichnend: Während die Welt im Frühjahr 2020 zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit das Wegsperren von gesunden Menschen im Rahmen einer Pandemie erlebte («Lockdown»), schrieb der Chairman des Weltwirtschaftsforums, Klaus Schwab, an seinem Buch «The Great Reset» — deutsch: «der grosse Neuanfang oder Umbruch». Es ist kein Buch über die Bewältigung einer globalen Gesundheitskatastrophe. Nein, das Buch handelt von einem «Fenster der Möglichkeiten», das sich durch Corona gerade eröffne, um systemische gesellschaftliche Veränderungen durchzuführen.
Die Pandemie als Gelegenheit, die es zu ergreifen gilt. Das Wording vom «Great Reset» wurde u.a. vom UN-Generalsekretär, der Präsidentin der EU-Kommission und der Präsidentin des Internationalen Währungsfonds im Munde geführt. Das Time-Magazin widmete der Agenda im Herbst 2020 eine Titelgeschichte, angesichts derer man sich fragen muss: Was wächst im Windschatten von Corona heran? Und was kommt nach Beendigung der Pandemie? Die Profiteure der Pandemie, welches Interesse haben Sie überhaupt an der Beendigung der Pandemie? Wenn Notfälle zu einer Machtkonzentration und zur freiwilligen Selbstaufgabe von Freiheiten führen, entsteht so nicht ein Anreiz für wen auch immer, neue Notlagen auszumachen?
Zugegeben, schon heute ist das eine rhetorische Frage, es sei denn man betrachtet Naivität als oberste Bürgerpflicht. Der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach (im deutschen Bundestag bisher eher ein belächelter Hinterbänkler, aber dank Corona in Talkshows omnipräsent) brachte schon Ende 2020 die mögliche Verlängerung von Corona-Massnahmen im Einsatz für den Klimaschutz zur Sprache. Im März 2021 stellte das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil teils massive Freiheitseinbussen zum Schutz des Klimas in Aussicht. Für manche Politiker las sich das wohl wie eine Steilvorlage für immer exzessivere Vorschläge. Im Juni 2021 legte der Grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann mit dem Satz nach:
«Wir sollten also einmal grundsätzlich erwägen, ob wir nicht das Regime ändern müssen, sodass harte Eingriffe in die Bürgerfreiheiten möglich werden, um die Pandemie schnell in den Griff zu bekommen.»
Man kann und muss solche Aussagen wohl als Tests werten, die messen, wie hoch das Erregungspotential einer seit Monaten am Angsttropf hängenden Bürgergesellschaft ist, die entweder keine roten Linien mehr kennt oder jede rote Linie (egal ob Lockdowns, Maskenpflicht im Freien, de facto Impfpflicht, Passierscheine in Form von Zertifikaten) bei Näherkommen zu einem zarten Rosa verblassen lässt. Die Frage ist mehr als berechtigt: Welcher Protest hatte bisher die Massnahmen und staatlichen Exzesse gestoppt? Angst ist nun mal der natürliche Widersacher der Freiheit. Erst sie und nur sie macht aus dem individuellen Souverän eine modellierfähige, schweigende Masse, die man in sämtliche Richtungen manövrieren kann.
Erst Willensbeugung, dann Willensbrechung
Auch Demokratien manipulieren die Hirne der Bürger, wusste schon der französische Adelige Alexis de Tocqueville, der vor gut 200 Jahren die Neue Welt bereiste, um über «Demokratie in Amerika» zu berichten. Wer führt uns in die «Neue Normalität» ein, wie Tocqueville es feingliedrig für die Grundsätze der Volksherrschaft getan hat? Wie mit einer Macht umgehen, die nicht mit Repression und Zwang, sondern mit der Modellierung des Denkens arbeitet, die man früher Manipulation, und heute im Propagandasprech eben Anreizsystem und «Nudging» nennt?
Es gehört zu den Grundzügen totaler Herrschaft, wie sie Hannah Arendt beschreibt, dass Propaganda weniger vorschreibt, was man zu denken hat, sondern woran man zu denken hat. Der Geist soll sich aktuell gerade in einer «woken» Themenwolke von klimagrün über LGBTQ, Migrationsfreundlichkeit und Corona bewegen. Ob einzelne Massnahmen Sinn ergeben, soll dabei nicht hinterfragt werden, denn sobald es um knallharte Fakten, um wissenschaftliche Evidenzbasiertheit, Schlüssigkeit oder einfach nur Logik geht, wird im Zeichen «des Guten» auf weiche Faktoren umgeschaltet, wird auf wolkige «Wieselworte» (Hayek) wie Solidarität und die Moral ausgewichen, die jeden Reflex des Denkens in ihrer wohlwollenden Plüschigkeit ersticken will.
Die Profiteure der Pandemie sind nicht schwer zu erkennen:
- Zentralbanken machen das, was sie seit Jahren am besten können: Noch mehr Geld drucken und die Bilanzen aufblähen, die schleichende Enteignung des Bürgers wird vorangetrieben.
- Big Tech weitet die Abhängigkeit des Einzelnen von der virtuellen Welt aus, während die analoge Welt eingedampft wird.
- Regierungen bekommen noch mehr Kontrolle und Überwachungsmöglichkeiten, jeder Schritt des Bürgers wird dokumentiert, sei es im virtuellen Zahlungsverkehr (bald auch durch digitales Zentralbankgeld) sowie durch neue Identifikations-Apps und Passierschein-Systeme im Reiseverkehr.
- Grosskonzerne können pleite gegangene Mittelständler günstig aufkaufen und wettbewerbsverzerrende Positionen weiter ausbauen. Das WEF nennt die Dezimierung des Mittelstands zum Vorteil der Grossen euphemistische eine «K-förmige» Wirtschaftserholung.
- Technokraten aller Welt vereinigen sich: Verantwortliche von UN-Einrichtungen, NGOs, grossen Stiftungen und Vereinen weiten ihren Einflussbereich aus und kreieren ein System des «soft power leaderships», welche Hayeks Vorstellung einer Sonderinteressen verpflichteten «Schacherdemokratie» weit in den Schatten stellen dürfte. Was zum Beispiel 1991 der Nichtrauchertag war, ist heute die Deutungshoheit der WHO über pandemierelevante Informationen auf sozialen Netzwerken und Videoplattformen geworden.
- Stärker werdende internationale Akteure, wie China, erweitern ihren Machtanspruch, propagieren Lockdowns und ein Bonus-System-Modell, welches inzwischen unverblümt als Szenario in Studien über «Zukunft der Wertvorstellungen in unserem Land» vorgestellt wird, die vom deutschen Ministerium für Bildung und Forschung mit Steuermitteln im Auftrag gegeben werden.
- Die Interessenslage von Big Pharma erklärt sich wohl von selbst (und falls nicht, hilft ein Blick ins Forbes-Magazin weiter).
Wieso sollte es aufhören?
Was also kommt nach Corona? Die Frage könnte schon falsch gestellt sein. Was, wenn es gar kein «nach Corona» gibt? Was, wenn es ein ewiges Corona gibt, ein sich Entlanghangeln von einer Mutante zur nächsten, von Sars-Cov-2 zu Sars-Cov-3, 4, 5 bis unendlich und dann das gleiche nochmal mit MERS und Ebola, verschränkt mit immer neuen «guten und alternativlosen» Politikinhalten? Ja, es klingt beunruhigend, aber warum sollten sich Politiker so leicht eine Krise entgehen lassen?
Das Reich des Guten ist nun da und es ist tatsächlich ein «Reich», ein Imperium, welches sich die Verteidigung des kollektiven Wohlbefindens auf die Fahnen geschrieben hat, unter Opferung des individuellen Wohlergehens. Dass das eine schlechte Idee ist, wissen wir aus dem Prozess, der mal einem grossen Errichter eines Tugendkults zum Ende der französischen Revolution gemacht wurde, Maximilian de Robespierre. In den angefertigten Akten wundert sich der Abgeordnete Courtois 1795:
«Wir hatten vergessen, dass sich das öffentliche Glück nur aus dem individuellen Glück zusammensetzt, und haben das individuelle Glück zugunsten des öffentlichen Glücks abgetötet.»
Muray kommentiert diese Stelle lakonisch: «Wir hatten ‚vergessen‘? Wer´s glaubt!»
Die Welt der neuen Normalität wird durchgeimpft sein, nachhaltig, grün, divers, gerecht und vor allem gesund. Das Reich des Guten verklammert einen technokratischen Ökosozialismus mit den Massnahmen einer Gesundheitsdiktatur. In der Welt der Zukunft wird einem nichts mehr gehören, aber man wird glücklich sein, weiss das World Economic Forum bereits. Die Gefühlslage dieses Menschen der Zukunft hat niemand besser beschrieben als Friedrich Nietzsche:
«Alle sehr gleich, sehr klein, sehr rund, sehr verträglich, sehr langweilig. Ein kleines, schwaches, dämmerndes Wohlgefühl über alle gleichmässig verbreitet, ein verbessertes und auf die Spitze getriebenes Chinesentum.»
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Hayek-Feder, der Publikation des Hayek-Club Zürich und auf dem Blog «Freischwebende Intelligenz».
Milosz Matuschek ist promovierter Jurist und Publizist. Er war mehrere Jahre NZZ-Kolumnist, war stv. Chefredaktor des Schweizer Monats und ist Autor von sechs Büchern.