Der Freitag, 13. März 2009, ist für viele Liberale
als schwarzer Tag in die Geschichte der Schweiz
eingegangen. An diesem Tag hat die Schweizer
Landesregierung bekanntgegeben, dass sie künftig
bei ausländischen Bankkunden auf die Unterscheidung
zwischen Steuerhinterziehung und
Steuerbetrug verzichten werde. Damit wurde
ein Kernelement des helvetischen Bankkundengeheimnisses
über Nacht aufgehoben.
Für viele war dieser Entscheid nicht präzedenzlos.
Sie sehen darin lediglich einen weiteren
Schritt auf dem fatalen Weg in den allumfassenden
Bevormundungs- und Versorgungsstaat, dem
Ziel des — seinerzeit angekündigten! — Marsches
der «68er» durch die Institutionen. «Wir brauchen
wieder führungsstarke — und bürgerliche! —
Persönlichkeiten in der Politik, die die Entwicklung
der letzten zwanzig Jahre zurückdrehen» — so
oder ähnlich tönte und tönt es deshalb aus dem
bürgerlichen Lager. Eine solche Sicht ist aber
nicht nur historisch naiv, sie zeugt auch von einem
merkwürdigen bürgerlichen Staatsfetischismus.
Betrachten wir beispielsweise die AHV. Bei
dieser Institution liegt ähnlich viel im argen wie
bei der Institution des Bankkundengeheimnisses.
Unser auf einem Schneeballsystem (offiziell
spricht man von «Umlageverfahren») beruhendes
Rentensystem war eigentlich schon bei seiner
Einführung ein Rohrkrepierer. Durch die Entkopplung
von Beitrag und Leistungshöhe lebt angesichts
der aktuellen demographischen Entwicklung
die arbeitende Generation von gestern auf
Kosten jener von heute. Dabei verringern sich die
Chancen für jede neue Generation, in Zukunft in
den Genuss einer Rente ohne grössere Abstriche
zu kommen, bis dann die Neupensionierten irgendwann
mit leeren Händen dastehen werden.
Charles Ponzi und Bernie Madoff lassen grüssen.
Auf dem Weg dorthin führt die Teilverstaatlichung
der Altersvorsorge aber auch noch zu ganz
anderen Auswüchsen. Die Bevölkerungs- und Familienpolitik
etwa mit ihren Kinderprämien und
Staatskrippen gleicht eher einer Viehzucht mit
Frauen, die auf Gebärmaschinen reduziert werden,
als einer Politik, die ihre mündigen Bürger
frei über Kinderlosigkeit und Familie entscheiden
liesse. Und alle machen mit und werken an immer
neuen Revisionen und Reformen, weil alle
irgendwie von allen abhängig sind — die heutigen
Leistungsbezieher von den heutigen Beitragserbringern
und diese wiederum von den Berufstätigen
von morgen.
Kurzum, die AHV sollte eines jeden Liberalen
Albtraum sein. Aber wer hat sie erfunden?
Das Bundesgesetz über die Alters- und Hinterlassenenversicherung
wurde 1947 in einer Volksabstimmung
deutlich angenommen. Ausgearbeitet
wurde das Bundesgesetz von einer politischen
Führung, die noch um einiges bürgerlicher war,
als sie dies heute ist. Schliesslich war sie die spiessige
Elterngeneration der «68er».
Es lassen sich weitere Beispiele anführen. So
wurde bei den meisten Sozialversicherungen in
den 1970er und 1980er Jahren die Beitragspflicht
eingeführt. Man denke aber auch an die
Schulpflicht. Sie hat zwar vielen Ungebildeten zu
Bildung verholfen. Aber anderseits steckt sie die
eigentlich kreativen und neugierigen Kinder in
eine Einrichtung, wo ihnen jede Möglichkeit zu
eigenständigem Lernen verwehrt wird. Man zieht
es vor, sie in Konformismus und Mittelmässigkeit
zu schulen. Die Schulpflicht existiert in der Form
einer Primarschulpflicht bereits seit 1874 und gilt
als Vorzeigeobjekt der Bürgerlichen. Bildung für
alle ist zwar ein hehres Ziel — aber wird sie auch
jedem einzelnen gerecht?
Die Bürgerlichen sollten sich endlich von
der Vorstellung verabschieden, als ob es in der
Schweiz einen liberalen Urzustand gegeben hätte,
den es wiederherzustellen gälte. Was sich am
vergangenen 13. März ereignete, ist lediglich das
Ende einer Etappe auf dem Marsch zu mehr Staat,
Bevormundung und aufgezwungener Versorgung,
der 1848 begann. Die Bürgerlichen waren von
Anfang an dabei, mal in stärkerer Formation, mal
in schwächerer.
Weshalb also der Ruf der Bürgerlichen nach
einem Sturm auf Bundesbern? Ihnen mangelndes
Geschichtsverständnis vorzuwerfen, griffe hier
wohl zu kurz. Die Antwort ist vielmehr in ihrem
Staatsfetischismus zu suchen.
Allen Vertretern einer liberalen Philosophie ist
gemein (oder müsste es sein, sofern sie «Liberale»
sein wollen), dass sie den Staat beschränken und
in den Dienst der Bürger stellen möchten, anstatt
das Individuum als Ressource zu sehen, über das
die Regierung frei verfügen kann. Bürgerliche
können grob in zwei Typen eingeteilt werden: in
die widerwilligen Liberalen und in die enthusiastischen
Bürgerlichen.
Widerwillige Liberale findet man unter den
Vertretern des Anarchismus, des Nachtwächterstaats
wie auch des Neoliberalismus. Sie sind Liberale
aus Verlegenheit. Für sie ist der Liberalismus
die schlechteste Ideologie, mit Ausnahme all
jener anderen, die es sonst noch gibt. Eigentlich
würden sie gerne auf eine politische Ideologie
verzichten, würden sich am liebsten gar nicht mit
Politik beschäftigen müssen. In einer unvollkommenen
Welt kommen die widerwilligen Liberalen
aber leider nicht darum herum, eine politische
Position zu vertreten. Diejenigen, die dabei dem
Staat Legitimität zusprechen, tun dies ohne Enthusiasmus
und mit dem Wissen, dass jeder noch
so beschränkte Staat stets die Saat seines exzessiven
Wachstums in sich trägt.
Ganz anders die enthusiastischen Bürgerlichen.
Sie haben im Liberalismus, welcher Couleur
auch immer, und im liberalen Staat Identifikationsobjekte
gefunden. Sie sind überzeugt, dass
beim Regieren nichts schiefgehen kann, wenn nur
die richtigen Politiker am Drücker sind. Sie sehen
es als Pflicht, gar als Ehre an, sich am politischen
Prozess zu beteiligen. Sie glauben, dass immer Liberales
herauskommen muss, wenn Bürgerliche
am Werke sind. Manche sehen im Zusammenspiel
von Politik und Wirtschaft sogar eine Erweiterung
der marktwirtschaftlichen Arbeitsteilung,
quasi eine riesige public private partnership. Ihre
Traumkarriere ist eine dreifache in Wirtschaft,
Politik und Militär. Sie sind bürgerliche Staatsfetischisten.
Inwiefern sich die widerwilligen Liberalen von
den enthusiastischen Bürgerlichen konkret unterscheiden,
zeigt sich derzeit wohl am besten in
ihrer jeweiligen Reaktion auf den aktuellen führungsschwachen
Bundesrat. Während beide dem
Bankkundengeheimnis nachtrauern, schöpfen
widerwillige Liberale Trost aus der Tatsache, dass
Politiker, die ausländischem Druck nicht standhalten
können, wohl auch innenpolitisch nicht
allzuviel Schaden anrichten. Eine führungsstarke
und effiziente Regierung ist nicht ihr Wunsch;
denn sie wissen, dass im politischen Kontext Stärke
und Effizienz stets grosse Gefahren bergen.
Damit sind die widerwilligen Liberalen freilich
in der Minderzahl. Sie werden übertönt von den
enthusiastischen Bürgerlichen, die wieder starke
Männer (und, wenn es heutzutage nicht anders
geht, auch Frauen) nach Bundesbern schicken
wollen. Sie sollen auf Biegen und Brechen erreichen,
was der Bankenplatz allein nicht schafft.
So ist womöglich auch die AHV entstanden, die
den Arbeitgebern vermeintlich Lasten abnimmt,
wenn die Arbeitnehmer eine bessere Altersvorsorge
fordern.
Die Forderung nach mehr Politikern nennt
man in der Argumentationstheorie ein non sequitur.
Aus der Tatsache, dass im zivilen Bereich ein
Problem auftritt, folgt nicht, dass der Staat angerufen
werden muss. Dieser Fehlschluss passiert
nur, wenn man — uneingestanden oder unbewusst
— an die Allmacht des Staats glaubt. Wenn schon
Kooperation nötig ist, wieso dann nicht versuchen,
diese ohne Staat durchzuführen? 1947 hätte
man private und auf dem Kapitaldeckungsverfahren
beruhende Vorsorgefonds gründen oder
stärken können. Und heute könnten die Banken
sich schlichtweg weigern, die Informationen ausländischer
Kunden an deren Regierungen herauszurücken.
Gewiss, dies wäre ein steiniger Weg, vielleicht
sogar ein hoffnungsloser. Mehr Hoffnung in
private Initiative zu setzen als in den Staat mit
seiner Bilanz an Fehlschlägen, ist immerhin eine
Tugend der widerwilligen Liberalen. Während ihr
Glaube an den Staat enge Grenzen hat, so glauben
sie mit viel Enthusiasmus an die Fähigkeit
des Menschen, zu kooperieren und auf freiwilliger
Basis Richtiges zu tun.
In diesem Sinne wäre der Schweiz zu wünschen,
dass sie von mehr widerwilligen Liberalen
bevölkert wäre. Oder drückt dieser Wunsch
bloss blauäugigen Idealismus aus? Dieses Thema
wäre zweifellos eine weitere Erörterung wert. Ein
Blick in die Geschichte der Eidgenossenschaft
zeigt aber, dass der bürgerliche Staatsfetischismus
mindestens ebenso naiv ist.
Dieser Artikel wurde in den Schweizer Monatsheften publiziert.