Die Marxisten hatten stets einen vergifteten Pfeil im Köcher, der sie in jeder Debatte mit den Anarchisten obsiegen ließ: Sie behaupteten, eine wasserdichte Politökonomik im Tornister zu führen, die beweise, dass aus der freien (anarchischen) Vereinbarung, dem Markt, zuerst ökonomische Unterschiede, dann durch sie soziale Konflikte und schließlich Institutionen entstehen, mit deren Hilfe die Wohlhabenden sich gegen die von ihnen Ausgebeuteten absichern – und das sei der Staat.
Es dauerte lange, bis ich begriff und nachweisen konnte, dass dies nicht Marx ist,[1] obwohl bereits mein akademischer Lehrer Christian Sigrist drauf hinwies, diese ethnologisch-historisch gesehen falsche Theorie der Staatsentstehung gehe auf Engels, nicht auf Marx zurück.[2] Aber das beiseite.
Bis heute kehrte sich die frühere marxistische Behauptung um und reklamiert ebenfalls, marxistisch zu sein (allerdings ohne jede Marx-Kenntnis), nämlich der Staat sei das probate Mittel, um die in der spontanen Ordnung der Anarchie entstehende Ungleichheit auszugleichen. Bereits als Jugendlicher strich ich dick und doppelt an, was der russische Revolutionär und Anarchist Michael Bakunin 1871 gegen beide Versionen etatistischer Erzählung einwandte:
«Glauben Sie nicht, dass in Abmachungen, die außerhalb jeglicher behördlichen Aufsicht, vielmehr allein Kraft der Realitäten, herbeigeführt werden, die Stärksten, die Reichsten einen beherrschenden Einfluss ausüben. Der Reichtum der Reichen wird, falls er nicht mehr durch gesetzliche Institutionen abgesichert ist, aufhören, eine Macht zu sein. Die Reichen sind heute nur deshalb so einflussreich, weil sie, von Beamten hofiert, durch den Staat besonders geschützt werden. Sobald ihnen diese Unterstützung fehlt, wird auch ihre Macht verschwinden. […] Ich behaupte nicht, dass ein Land, das auf diese Weise von unten nach oben reorganisiert wird, auf Anhieb sich in eine ideale Organisation wandelt, die in allen Punkten mit der von uns erträumten übereinstimmt. Aber ich bin davon überzeugt, dass es eine lebendige Organisation sein wird, die als solche tausendmal besser dasteht wie das, was jetzt existiert.»[3]
Doch was richtete diese Überzeugung aus gegen marxistische Politökonomik? Es fehlte der ökonomische Unterbau für den Anarchismus. Allerdings lässt sich mit diesem Bakunin-Zitat bestens die üble Nachrede Wolfgang Harichs widerlegen, den Anarchismus kennzeichne eine «revolutionäre Ungeduld». Das Gegenteil ist der Fall: Es wird keine perfekte, vielmehr freie Organisation gefordert. Es geht Bakunin offensichtlich nicht darum, den Reichen ihren Reichtum abspenstig zu machen, sondern darum, ihnen den gesellschaftlichen Einfluss zu nehmen, den sie sich durch den Staat verschaffen. Jede Strategie des Terrors gegen die Reichen verbietet sich mit diesem Zitat.
Ökonomischer Unterbau
1980 entdeckte ich Murray Rothbard (1926-1995), als ich bei einem Aufenthalt in Kalifornien per Zufall im Ladenlokal des «Libertarian Party Radical Caucus» landete und freundlich von dem reichlich bekifften Justin Raimondo begrüßt wurde. Nachdem ich mich damals noch als deutscher Anarchokommunist geoutet hatte, stellte er sich vor das Bücherregal, zeigte auf die Werke Ludwig von Mises’ und rief verzückt: «He is our Marx and Engels, together!» Er erläuterte, wie Murray Rothbard (der Begründer des modernen Libertarismus, aber das wusste ich noch nicht) dessen Ökonomik des freien Marktes nutzt, um den Anarchismus als die nicht bloß moralisch und sozial, vielmehr darüber hinaus auch ökonomisch überlegene Form der gesellschaftlichen Organisation zu erweisen.
Mit einem Schlage begriff ich, dass ich den Unterbau der Ökonomik für den Anarchismus gefunden hatte, obwohl es mit der positiven Besetzung der Begriffe «(freier) Markt» und «Kapitalismus» zwei semantische Kröten zu schlucken galt. Eigentum als anarchistische Kategorie war mir von Max Stirner her geläufig. Gottseidank hatte ich auch meinen Proudhon so intus, dass mich Adam Smith nicht schreckte, und erinnerte mich, dass Paul Goodman Adam Smith zu den Anarchisten zählte. Adam Smith? Justin Raimondo verzog das Gesicht. Der war an allem schuld, nicht Marx, der war dessen falscher Fährte nur gefolgt. Ich sah, da galt es einiges zu lernen, packte Human Action (Ludwig von Mises) und For a New Liberty (Murray Rothbard) ein, verschwand und – studierte.
Der freie Markt ist keine Ausbeutung
Wer etwas auf dem Markt verkauft, sei es Ware, Dienstleistung oder Arbeit, muss damit auf ein Bedürfnis des Käufers treffen, muss einen Wunsch erfüllen. Der Markt realisiert einen gegenseitigen Vorteil, kann mithin keine Ausbeutung sein. Es gibt eine formale Gleichheit, und wenn es eine materielle Ungleichheit gibt, so ist sie beiderseitig gewollt und nichts kann moralisch gegen sie eingewandt werden.
Die Probleme oder Konflikte entstehen, wenn in diesen Prozess der Freiwilligkeit Gewalt interveniert. Das kann schlicht der Raub oder der Zwang sein. Wie auf Basis der Freiwilligkeit hiermit umzugehen wäre, ist Thema im folgenden Abschnitt. Die Analysen Rothbards – auf Vorarbeiten von Ludwig von Mises fußend – zeigen eins ums andere, dass die organisierte (strukturelle) Gewalt des Staats den durch Arbeit geschaffenen Wohlstand umverteilt, und zwar von unten nach oben. Jede staatliche Intervention hat den Zweck, den Markt zugunsten derjenigen zu manipulieren, die den Staat für ihre ökonomischen Zwecke instrumentalisieren (was könnte marxistischer sein, als diese Formulierung? – Marxisten ist sie leider fremd geworden).
Wir müssen Bakunins Statement dahingehend präzisieren, dass es zum einen die Reichen gibt, die auf dem Markt reich geworden sind, indem sie die Wünsche ihrer Mitmenschen bestmöglich erfüllen. Sie einzuschränken, ruiniert den Wohlstand: Gerade Arme leiden unter derartigen Interventionen. Zum anderen gibt es Reiche, deren Reichtum auf Raub beruht. Sie sind die Ausbeuter, die Herrschenden. Ihr Reichtum wird in sich zusammenfallen, wenn man sie ihres Instruments (der Staatsgewalt) beraubt. Sie müssen sich darauf besinnen, ihren Mitmenschen zu dienen, anstatt sie zu hintergehen, auszutricksen und zu überwältigen.
Das Geldmonopol als zentrales Mittel für die staatliche Ausbeutung
Eins der zentralen Werkzeuge für die staatliche Ausbeutung ist nach der Analyse von Rothbard das Geldmonopol. Erst das Geldmonopol macht die allgemeine Besteuerung durch den modernen Staat möglich, denn ohne es fehlt der einheitliche Maßstab zur Wertmessung von Einkommen, Kapitalerträgen und Umsätzen; ohne es verbleibt die Besteuerung nämlich auf der Ebene von Naturalwirtschaft.
Vor allem aber erlaubt das Geldmonopol dem Staat die Manipulation der Währung. Von alters her war die sogenannte «Münzverschlechterung», also die Senkung des Edelmetallanteils in dem ursprünglich nach Gewicht definierten Zahlungsmittel, die Methode des Monopolisten, um sich zu bereichern (oft um Krieg zu finanzieren): Aus der gleichen Menge Edelmetall ließen sich mehr Münzen prägen, deren Kaufkraft jedoch zunächst noch dem alten Wert entsprach. Nach und nach merkten die Handelnden aber den Betrug und passten die Preise an – das ist die Inflation. Die Inflation ist demnach die Anpassung der Märkte daran, dass der Monopolist sich unrechtmäßig Werte aneignete, die Andere produziert haben.
Nach der Abkoppelung der Währung vom Edelmetall lässt die Inflation sich noch versteckter vollziehen. Neben der simplen Steigerung der vom Staat ausgegebenen Währungseinheiten dient die Kreditexpansion dem gleichen Ziel: Die Banken werden vom Staat privilegiert, mehr Kredite auszuteilen, als Werte vorhanden sind (Teilreserve-System). Staat und die von ihm privilegierten Banken bilden von Beginn an das Duo der Ausbeutung; auch Marx hatte das bereits gewusst, wenngleich er die Mechanismen noch nicht so im Detail verstand.
Das Geldmonopol als zentrales Mittel der ökonomischen Ausbeutung durch den Staat entspricht ganz der Analyse von Proudhon (Vater des europäischen Anarchismus) und von Josiah Warren (Vater des US-amerikanischen Anarchismus), obwohl in den Feinheiten der Ökonomik starke Differenzen vorhanden sind.
Die bei Ludwig von Mises vorgefundene Ökonomik baute Rothbard systematisch aus und wandte sie vor allem auf eine Klassifizierung der Staatstätigkeit an. Das Ergebnis fällt eindeutig aus: Alle Interventionen der Staatsgewalt in den Markt dienen speziellen ökonomischen Interessen, die sich mit ihrer Hilfe an den Früchten der Arbeit Anderer bereichern wollen.
Mit diesem ideologiekritischen Befund machte Rothbard sich daran, über seinen Lehrer hinausgehend die Geschichte zu analysieren. Hervorzuheben sind seine fünfbändigen Studien zu den nordamerikanischen Kolonien bis zur Verfassung der USA, seine Untersuchung der Großen Depression der 1930er Jahre, seine Darstellung der «Progressive Era», das heißt der Etablierung des US-amerikanischen Sozialstaats Anfang des 20. Jahrhunderts, sowie seine zweibändige Geschichte des ökonomischen Denkens von Aristoteles bis Marx (geplant war die Geschichte bis heute fortzusetzen, jedoch starb Rothbard vor der Vollendung).
Wie wehrt man sich in einer freien Gesellschaft gegen Übergriffe?
Mit seiner Ökonomik ergänzt Murray Rothbard die Theorie des klassischen Anarchismus und korrigiert sie um ihren sinnwidrigen Antikapitalismus. Der Schritt, den ich Erwachsenwerden des Anarchismus nenne, besteht in der Korrektur einer alten anarchistischen Naivität. Diese Naivität lautete, in einer freien Gesellschaft werde man sich mit Kriminalität nicht groß herumschlagen müssen. Wenn alle Menschen frei sind und es in der Gesellschaft gerecht zugeht, wer wird dann Gewalt anwenden? Wer wird noch den Nächsten ausbeuten, betrügen, drangsalieren, unterjochen oder versklaven wollen?[4]
Dies ist reichlich naiv. Wenn es sich so positiv entwickelt, um so besser. Aber wir können bei allem, was wir über Menschen und menschliche Gesellschaft wissen, nicht davon ausgehen, dass Kriminalität einfach verschwindet. Wie wehrt man sich in einer freien Gesellschaft gegen Übergriffe? Wie kann man sich und seine Gemeinschaft schützen?
Bei Bakunin findet man erste, noch ganz rohe Ideen, Gustave de Molinari hatte die Machbarkeit privater Polizei skizziert, Benjamin Tucker diese Idee aufgegriffen; aber erst Rothbard formuliert eine konsistente Theorie: Es kann und es wird spezialisierte und miteinander konkurrierende Dienstleister geben, die eine Regelung von Konflikten anbieten. Man mag sie im Einzelfall anrufen und bezahlen oder Mitglied werden wie in einer Versicherung, um einen dauerhaften Schutz zu gewährleisten. Diese Lösung steht im Einklang mit der Arbeitsteilung, aber wer Arbeitsteilung nicht mag, dem steht es in einer freien Gesellschaft frei, selber für seine Sicherheit zu sorgen.
Die landläufige Angst, private Dienstleister der Sicherheit und Konfliktlösung würden ihrerseits übergriffig werden, ist ein Reflex auf die erfolgreiche Propaganda der Staatsgewalt, aber eine Umkehrung der Tatsachen. Wer schlechte Brötchen bäckt oder schlechtes Bier braut, wird wenig verkaufen. Wer gar schädliches Zeug anbietet, begeht Betrug. Auf dem Markt tendieren solche Produkte zwar zu verschwinden, dennoch kommt Betrug vor. So ist es naiv, anzunehmen, dass es bei allen Sicherheits-Dienstleistern immer mit rechten Dingen zugeht.
Aber wer als Sicherheits-Dienstleister Konflikte heraufbeschwört statt zu lösen, wer statt Schutz zu bieten selbst übergriffig wird, dem können die Kunden kündigen und gegebenenfalls einen anderen Sicherheits-Dienstleister zu Hilfe rufen. Anders sieht es bei der monopolisierten Sicherheits-Dienstleistung aus, die die Staatsgewalt anbietet. Wenn der Staat selber kriminelle Akte begeht – er kann nicht anders, denn bereits Steuereintreibung ist organisierter Raub –, gibt es niemanden, an den man sich wenden kann, um Schutz zu erlangen. Es ist eine Welt ohne Asyl, wie Goodman sagte.
Was ist mit einem minimalstaatlichen Monopol auf Polizei und Justiz?
Apropos Konkurrenz. Was ist denn dann, wenn ein Sicherheits-Dienstleister sich durchsetzt und schließlich als der alleinige Anbieter auf dem Markt für Sicherheit etabliert ist? Kann der nicht ungestraft übergriffig werden? Der (liberale) Philosoph Robert Nozick baute diese Argumentation aus und meinte, man könne also gleich dazu übergehen, ein minimalstaatliches Monopol auf Polizei und Justiz einrichten.[5]
Er macht dabei drei Fehler. Zunächst ist es schon merkwürdig, wenn man, weil man eine Monopolisierung befürchtet, vorauseilend Monopolisierung einzurichten trachtet. Sofern die Monopolisierung auf dem Markt schlecht ist, warum ist sie dann als staatliche Institution nicht mehr schlecht?
Überdies unterscheidet ein Alleinanbieter auf dem Markt sich von einem staatlich privilegierten Monopolisten. Der Alleinanbieter auf dem Markt hat seine Position mit guter Dienstleistung erreicht. Wenn er seine Position erhalten will, muss er gute Dienstleistung auch weiterhin liefern. In dem Moment, wo er sich auf seinen Lorbeeren ausruhen und den Lohn des Monopols einstreichen will, wird Konkurrenz entstehen. Die Analyse der Monopolisierung Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts ergibt genau das: Ein Monopol lässt sich ohne staatliche Unterstützung nicht aufrecht erhalten, meist nicht einmal erreichen. Bei dieser Analyse konnte Rothbard die Vorarbeiten ausgerechnet des marxistischen Historikers Gabriel Kolko zu Rate ziehen.[6]
Und schließlich lässt sich der Staat entgegen dem Nozick-Modell (das in diesem Punkt fatal dem Konstrukt des Rousseauschen «Gesellschaftsvertrags» entspricht) nicht vor dem Hintergrund einer Tabula rasa auf dem Reißbrett planen und schon gar nicht zum anständigen Minimum verpflichten. «Staat» ist der Schnittpunkt von den ökonomischen Interessen, die sich gewaltsam der Arbeitsfrüchte Anderer bemächtigen wollen. Fragen von Legitimität oder Rationalität spielen eine untergeordnete, vornehmlich rein ideologische Rolle.
Vorstaatliche Konfliktlösung
Rothbards Theorie der privaten, auf dem Markt konkurrierenden Sicherheits-Dienstleister ist weitgehend unhistorisch. Es gibt eine vage Gründung im angelsächsischen Gewohnheitsrecht und den knappen Hinweis auf vor-staatliches Recht bei den Kelten.[7] Aus der Ethnologie, gelesen mit von Christian Sigrists «Regulierter Anarchie»[8] geschulten Augen, kann ich ergänzen, dass es eine lange positive Erfahrung der Menschheit mit vor-staatlichem Recht und vor-staatlicher Konfliktlösung gibt. Aus der jüdischen und christlichen Tradition bekannt ist noch das salomonische Urteil, welches sich dadurch auszeichnet, dass alle beteiligten Parteien mit dem Ergebnis einverstanden sind. Salomon war zwar bereits ein König, aber als Richter entsprach er noch genau dem vor-staatlichen Ideal des Richters als Friedensstifter. Richter, die keine staatliche Monopolstellung haben und deren Urteile nicht per Staatsgewalt durchgesetzt werden, werden zu besten Spezialisten darin, Konflikte friedlich zu regeln.[9]
Laut Christian Sigrist hielten vor-staatliche Gesellschaften die Herrschaftslosigkeit aufrecht durch die Institution der «segmentären Opposition»: Vermöge der Homöostase, die sich durch die verwandtschaftliche Beistandspflicht ergibt, treten bei Konflikten immer gleich starke Segmente gegeneinander an. Da in solchen Konflikten niemand die andere Seite unterjochen kann, ergibt sich ein starker Anreiz, Konflikte durch Mediation schlichten zu lassen. Diese Institution, die über Jahrtausende Herrschaftslosigkeit unter Menschen garantiert hat, stößt dann an ihre Grenzen, wenn die Reichweite der menschlichen Gesellschaft die Begrenzung auf miteinander verwandte Gruppen übersteigt.[10] Die anarchokapitalistischen konkurrierenden Dienstleister der Sicherheit sind Wiederbelebung dieses uralten Prinzips der segmentären Opposition unter den Bedingungen einer globalisierten, arbeitsteiligen Ökonomie.
Legitimes und illegitimes Eigentum
Die Theorie des Anarchismus wird seit ihren Anfängen bei Proudhon vom Problem des Eigentums begleitet. Auf der einen Seite standen die herrschenden Eigentumsverhältnisse, kodifiziert im Staatsrecht, die teils noch aus Feudalzeiten stammten, teils durch staatliche Subventionen oder andere materielle und rechtliche Protektionen geschaffen wurden; auf der anderen Seite stand die mehr oder weniger explizit ausgesprochene Ansicht, dass Eigentum als Grundvoraussetzung der Möglichkeit der Selbstbestimmung zu gelten habe.
Wie scheidet man das illegitime vom legitimen Eigentum?
Rothbards Antwort entstammt zunächst ganz der klassisch-liberalen Tradition: Aneignung durch Bearbeitung schafft legitimes Eigentum. In der liberalen Tradition wurde diese Formel freilich allzu oft ideologisch eingesetzt, um die herrschenden Eigentumsverhältnisse zu rechtfertigen. Rothbard dagegen nutzt sie genau umgekehrt, um zu analysieren, welch ein staatsrechtlich sanktioniertes Eigentum Eigentum sei und welch Eigentum geraubt sei: Der Großgrundbesitz, entstanden aus der Umwandlung von Feudalbesitz in Eigentum, war ebenso Diebstahl wie die Ländereien, die der Staat den Eisenbahngesellschaften zugeschanzt hatte, um die Entwicklung der Industrie zu stimulieren. (Beides sind nur Beispiele unter etlichen anderen.)
Sollte das mit staatsrechtlicher Sanktion geraubte Eigentum enteignet werden? Das kommt sicherlich auf die Umstände an, unter denen eine Veränderung in Richtung Freiheit stattfindet. Bei einem friedlichen Übergang wird es weniger um Enteignung gehen als darum, die staatliche Protektion, die die Konzentration von Eigentum begünstigt, aufzuheben. Und es war niemand Geringerer als Bakunin, der, wie eingangs in diesem Kapitel zitiert, meinte, nichts als diese Aufhebung sei notwendig, um dem Reichtum den Stachel der Macht zu nehmen. Die Ökonomik von Mises-Rothbard liefert hierfür den theoretischen Hintergrund.
Auch fragt sich, wie in einer anarchistischen Revolution die Enteignung sinnvoll ablaufen könne; der staatssozialistische Weg der Überführung in Eigentum des Staats fällt definitiv aus. Beim Bodenbesitz war die Antwort einfach: Den Boden eignen diejenigen sich an, die ihn bearbeiten, und behalten ihn als Eigentum. Was ist mit illegitim entstandenen Unternehmen? Die traditionelle anarchosyndikalistische Antwort lautete ganz angelehnt an den Umgang mit dem Boden: Die Arbeiter dieser Unternehmen eignen sie sich an, sie übernehmen sie und führen sie in Selbstverwaltung fort. Das mag die in einer revolutionären Situation praktikabelste Lösung sein. Allerdings ist sie vom Standpunkt der Legitimität nicht ganz astrein. Ein Betrieb, der mit Steuergeldern errichtet oder aufrecht erhalten wurde, gehört nicht (nur) der Belegschaft, sondern (auch) allen übrigen Steuerzahlern. Hier wäre eine Umwandlung des gesamten Staatseigentums in eine Aktiengesellschaft denkbar, deren Aktien an alle Bürger ausgegeben werden. Wem aber stehen welche Anteile zu? Nach Maßgabe der nominellen Steuerzahlung zu verfahren, wäre ebenfalls ungerecht, da erst ermittelt werden müsste, wie die Steuerbilanz für jeden Einzelnen aussieht (d.h.: gezahlte Steuern in der Relation zu den vom Staat erhaltenen Leistungen; zudem müssten die durch den Staat zugefügten Schäden mit in die Steuerbilanz einfließen, wenn zum Beispiel jemand aufgrund der staatlichen Regulierungen arbeitslos geworden oder geblieben ist). Eine solche Steuerbilanz für jeden Einzelnen zu erstellen, ist nahezu unmöglich.
Eine gleichmäßige Ausgabe der Anteile am ehemaligen Staatsbesitz wäre vermutlich eine praktikablere Lösung. Vermutlich wäre es jedoch am friedenstiftendsten, die Anteile den Rentnern zu geben, weil die staatliche Versicherung mit ihrem Umlageverfahren aufgelöst werden muss (und die Versicherung nicht über den Kapitalstock verfügt, die zugesagten Leistungen zu bezahlen, wenn sie nicht mehr auf die Zwangsbeiträge der nachrückenden Generationen zugreifen kann).
Zusammenfassend ist wesentlich die Unterscheidung von illegitimem und legitimem Eigentum und nicht die Kritik an einzelnen Formen oder Verfahrensweisen in einer Situation, in der illegitimes und legitimes Eigentum durcheinander gemixt vorliegt. Legitimes Eigentum muss ohne Wenn und Aber geschützt werden, sofern wir ein friedliches und produktives Leben anstreben; illegitimes Eigentum dagegen gehört abgeschafft und nicht nur durch halbherzige Reformversuche in der verderblichen Wirkung eingeschränkt – Reformversuche, die vermutlich immer genau das Gegenteil dessen erreichen, was (angeblich) gedacht war.
Rothbard: Der Bakunin des 20. Jahrhunderts
Was Rothbard zu dem Bakunin des 20. Jahrhunderts macht, ist seine Begründung des modernen Libertarismus. Als (im europäischen Sinn) liberal und (im US-amerikanischen Sinn) konservativ orientierter Student der Ökonomik stand Rothbard Ende der 1940er, Anfang der 1950er Jahre «rechts» im US-amerikanischen politischen Spektrum. Rothbard jedoch radikalisierte sich in Richtung Anarchismus wie die liberalen (rechten?) Jeffersonianer seit Isabell Paterson und wie der linke (sozialistische?) Jeffersonianer Paul Goodman, während der Mainstream der linken und der rechten Politik in einen ununterscheidbaren Etatismus übergeht.
Vor allem aber hielt Rothbard wie auch Goodman an der Position des pejorativ so genannten Isolationismus fest; pejorativ, denn Isolationisten erstrebten keineswegs eine Isolation der USA, sondern ihren Handel und kulturellen Austausch mit der ganzen übrigen Erde, wollten aber eben keine kriegerischen Interventionen. Gegen Krieg: Das ist der rote Faden in Rothbards Leben.
Ebenfalls analog zu Goodman eröffnete Rothbard der aufkommende Protest Jugendlicher aus gutem Hause neben marginalisierten Schwarzen in den Ghettos eine neue Perspektive. Denn der Protest richtete sich gegen den beginnenden Krieg in Vietnam, gegen die Bevormundung in den staatlichen Schulen und Universitäten, sowie gegen staatliche Diskriminierung von Minderheiten. Doch während Goodman in dem Protest mitschwamm und hier und da versuchte, seinen klassischen Anarchismus an den Mann zu bringen, formierte Rothbard eine neue Bewegung, den Libertarismus.
Als Namen für die Fusion der klassischen freiheitlichen Ansätze im Liberalismus und im Anarchismus wählte er den Begriff libertarianism, abgeleitet aus dem französisch-deutschen Adjektiv libertaire|libertär. Das Adjektiv nutzten (klassische, «linke») Anarchisten bereits ab Mitte des 19. Jahrhunderts in Frankreich und im Schweizer Jura, zum einen, wenn der Begriff Anarchismus gar zu sehr mit Terrorismus gleichgesetzt wurde, zum anderen zur Abgrenzung gegen den autoritären (Staats-) Sozialismus und (Staats-) Kommunismus. Goodman verwandte das Adjektiv ebenfalls seit 1945.
Goodman starb 1972. Bereits zu diesem Zeitpunkt war die linke Protestbewegung stark vom Marxismus-Leninismus okkupiert worden, was Goodman enttäuschte. Trotzdem hielt Rothbard lange an der linken Konnotation des Libertarianismus fest. Und zwar genau bis zu dem Punkt, an welchem die Linke ihre Feindschaft gegen den Krieg aufgab und es links wurde, die USA als legitimen Weltpolizisten zu sehen.
Gegen Krieg: Das ist der rote Faden in Rothbards Leben. Bevor sinnvoll über Verbesserungen nachgedacht werden kann, muss der Krieg aufhören. Je schneller, um so besser. Allerdings kann man, so sagte Rothbard richtig, den Krieg anderer Staaten nicht beeinflussen, sondern nur den des Staats, in welchem man nun mal lebt. Auf einmal war die Feindschaft gegen den Krieg nun wieder rechts. Keiner wusste besser als Rothbard, dass die neue Rechte in den USA nichts, aber auch gar nichts mit der alten, also anti-autoritären Rechten zu tun hatte.[11] Dennoch wandte er sich, hartnäckig um kurzfristigen Erfolg wenigstens hinsichtlich der Kriegsbegrenzung bemüht, ihr zu und schmiedete Anfang der 1990er Jahre eine neue Koalition, diesmal mit den rechten Neoisolationisten. Sonst bot sich auf weiter Flur niemand an, der gegen Krieg war.
Anders als bei der Koalition mit den Linken in den 1960er bis 1980er Jahren gab Rothbard jedoch in dieser neuen Koalition einige seiner Prinzipien auf: Er begann, dieser Zielgruppe nach dem Mund zu reden. Leider starb er 1995, gerade als sich abzeichnete, dass die neue Koalition mit den Rechten ihn genauso enttäuschen musste, wie es die alte Koalition mit den Linken getan hatte, sodass in dem erst während der 1990er Jahre verstärkt nach Europa schwappenden Libertarismus die fatale Tendenz zu beklagen ist, «die Rechte» als natürlichen Koalitionspartner des Libertarianismus anzusehen, was bestimmt nicht zutrifft, auch nicht von Rothbard aus gesehen, und vor allem schon gar nicht, weil die europäische Rechte immer noch ein tiefer Graben von der US-amerikanischen Rechten trennt.
Auch wenn ich Rothbards Volten bei den Koalitionen gut nachvollziehen kann und sein wesentliches Anliegen, den Krieg zu bannen, moralisch einwandfrei dasteht, zeigen sie doch den Hang des Anarchismus, sich mit den Falschen einzulassen. Ihm war es wichtiger, sich von den (im europäischen Sinne) liberalen Konkurrenten – wie etwa Milton Friedman – abzugrenzen, als die Gemeinsamkeiten herauszustreichen und mit ihnen eine gemeinsame Sache zu machen anstatt mit rechten Dunkelmännern.
Hingegen wäre das ernst zu nehmen, was seinem Handeln und seinem Denken immer zugrunde lag, die Vorstellung, die Sache der Freiheit müsse man jenseits von Rechts und Links verteidigen und aufbauen.
Leicht gekürztes Kapitel XXI aus: Stefan Blankertz, Nur ein altmodisches Liebeslied? Glanz und Elend des klassischen Anarchismus, Norderstedt 2023, S.239-256. Die Veröffentlichung auf unserer Website erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.
[1] Stefan Blankertz, Mit Marx, gegen Marx (2014). Ders., Marx, der Anarchokapitalist (in: Anarchokapitalismus, 2015). Ders., Marx, Freund des Kapitalismus? (in: Politik macht Ohnmacht, 2017).
[2] Christian Sigrist im Vorwort 1979 zur «Regulierten Anarchie» (1967).
[3] L’Empire knuto-germanique (1871), in: Michel Bakounine, Œuvres, Band 2, hg. von James Guillaume, Paris 1907, S. 348f.
[4] So noch David Graeber, Fragments of an Anarchist Anthropology, Chicago, Il 2004, S. 81: «Die Eliminierung radikaler Ungleichheiten würde bedeuten, dass wir die Dienste der meisten der Millionen derer, die gegenwärtig als Türsteher, private Sicherheitskräfte, Gefängniswärter oder Sondereinsatzkommandos beschäftigt sind, nicht mehr benötigen – vom Militär ganz zu schweigen.» Militär = Folge, nicht Ursache von Ungleichheit?
[5] Robert Nozick, Utopia, State, and Anarchy, New York 1974.
[6] Gabriel Kolko, The Triumph of Conservatism, 1963. Murray Rothbard, The Progressive Era (verfasst in den 1980er Jahren, posthum Auburn, AL 2017 veröffentlicht, hg. von Patrick Newman).
[7] Für eine neue Freiheit (1973/78), Norderstedt 2015, Band 2, S. 264-269.
[8] Olten 1967. Frankfurt/M. 1979. Münster 1994.
[9] Vgl. Stefan Blankertz, Einladung zur Freiheit, Berlin 2020, S. 131-186.
[10] Vgl. Stefan Blankertz, Widerstand, Berlin 2016, S. 66-108.
[11] Murray Rothbard, The Betrayal of the American Right, posthum Auburn 2007. (Verfasst ursprünglich 1971, 1973 überarbeitet, 1991 zur Veröffentlichung vorgesehen. Dt. Der Verrat an der amerikanischen Rechten, Grevenbroich 2017. Der Titel müsste natürlich «Verrat von der amerikanischen Rechten» lauten.) Wer dieses Buch liest, wird sich überzeugen können davon, dass Rothbard nicht die Hoffnung hatte, dass die neue an die alte Rechte in den USA anknüpft. Es ging ihm nur um die Kriegsfrage.