Dieses Jahr überbieten sich die Regierungen weltweit mit radikalen Massnahmen zur Bekämpfung einer, wie es zu Beginn hiess, überdurchschnittlich tödlichen Bedrohung für einen erheblichen Teil der Bevölkerung. Heute mehren sich die Stimmen, die diese starken Eingriffe in die individuelle und wirtschaftliche Freiheit als übertrieben bewerten. Diese seien auf der Grundlage lückenhafter wissenschaftlicher Erkenntnisse und grosser Unsicherheit erfolgt. Dies wirft Fragen grundsätzlicher Natur auf: Hat der Lockdown mehr Negatives als Positives bewirkt? Ist der Zentralstaat eine geeignete Instanz für die Krisenvorsorge und -bekämpfung oder wären es vielmehr die eigenverantwortlich handelnden Bürger? Im Rahmen des LI-Gesprächs vom 15. September wurden diese Fragestellungen vertieft diskutiert.
Einführend stellte LI-Direktor Olivier Kessler fest, dass die Reaktionen auf Covid-19 eine tiefsitzende kollektivistische Gesinnung in weiten Teilen der Politik und der Bevölkerung zum Ausdruck gebracht hätten. Um die Verbreitung eines Virus einzudämmen, seien viele wirtschaftliche und persönliche Freiheiten mit einem Fingerschnippen über Bord geworfen worden. Dass dies habe geschehen können, ohne dass weite Teile der Bevölkerung dagegen aufbegehrten, zeige, wie weit die Staatsgläubigkeit auch in den relativ liberalen Gesellschaften verbreitet sei: In dieser etatistischen Vorstellung könnten nicht die individuelle Freiheit, die liberale Zivilgesellschaft und Marktwirtschaft sowie die Eigenverantwortung der Bürger, sondern nur das Diktat der Politik eine adäquate Antwort auf besondere Herausforderungen sein. Weil der Zweck die Mittel heilige, könne und müsse der Staat demnach Eigentumsrechte und andere Freiheiten im Namen eines eigenmächtig definierten Gemeinschafts-Ziels beschneiden.
Wer sich dem neuen gesellschaftlichen Dogma, wonach ab sofort jeder Mensch auch für die Gesundheit seiner Mitmenschen verantwortlich ist, nicht unterwerfe, nicht artig eine Maske trage und die 1,5-Meter-Abstandsregel einhalte, werde beschimpft, denunziert und ausgegrenzt. Wer in solchen Zeiten an die persönliche Freiheit und die Eigenverantwortung appelliere, sei in der öffentlichen Wahrnehmung oftmals nur noch ein gefährlicher Egoist mit kleinlichen, unwichtigen Bedürfnissen, die angesichts des grossen gesellschaftlichen Ziels — die Ausrottung eines Virus — hintenanzustehen hätten. Der Mensch werde dadurch vom Zweck an sich zum Mittel zum Zweck degradiert und herabgewürdigt. Dies sei ein verbindendes Merkmal aller inhumaner Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme und stehe an der Wurzel diverser menschlicher Katastrophen. Es sei daher entscheidend, dass die Menschenrechte trotz aller Widerstände hochgehalten würden, denn wo nicht mehr gestritten werde, erlische der Funken der Freiheit über kurz oder lang.
In seinem Referat äusserte sich Mark Schelker, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Freiburg, erstaunt darüber, dass der öffentliche Fokus zur Einordnung der Pandemie auf der Zahl der Neuinfektionen liege. Diese seien natürlich von der Testhäufigkeit abhängig, die im Laufe der Zeit stark zugenommen hätten, und deshalb nicht aussagekräftig seien — gerade auch, weil sich die steigenden Fallzahlen nicht bei den Hospitalisationen und den Todeszahlen widerspiegelten. Auch sei es schwierig zu sagen, ob die Todesopfer, die «im Zusammenhang mit Corona» aufgeführt werden, an oder einfach nur mit dem Virus gestorben seien. Es brauche dringend ein saubereres Testregime in Form von Zufallsstichproben. Denn im aktuellen Testregime würden sich hauptsächlich Leute testen lassen, die bereits Symptome aufwiesen, was die Zahlen enorm verzerre. Aus diesen Statistiken könne man auch keine politischen Massnahmen ableiten und diese schon gar nicht nach ihrer Wirksamkeit evaluieren.
Jene Studien, die aufzeigten, dass Lockdowns hilfreich bei der Eindämmung des Virus gewesen seien, sind gemäss Mark Schelker trivial, denn es sei klar, dass sich ein Virus weniger stark verbreite, wenn alle zuhause blieben. Die entscheidende Frage sei vielmehr, welcher Preis die Verhängung des Lockdowns habe. Zwar wäre die Wirtschaft aufgrund der Unsicherheit und Angst wohl auch so eingebrochen, wohl aber nicht im selben Ausmass, wie wenn es keinen Lockdown gegeben hätte. Darauf deute der geringfügigere Rückgang in Schweden hin, wo man auf einen Lockdown verzichtet habe. Der wirtschaftliche Einbruch in der Schweiz betrage allein im zweiten Quartal 2020 minus acht Prozent. Das Narrativ, mit welchem Menschenleben gegen «die Wirtschaft» ausgespielt werden, sei widersinnig, zumal ohne den brummenden Wirtschaftsmotor auch das Gesundheitswesen leide. Ausserdem sei die Kausalität von Lockdown und der Reduktion der Reproduktionszahl äusserst fragwürdig, zumal letztere schon vor dem Lockdown rückläufig gewesen sei. Anstatt nach einem zentralen Einheitsplan des Bundes zur Bekämpfung der Pandemie zu rufen, sei die Verteidigung des Föderalismus die zielführendere Lösung: Dieser erlaube das Ausprobieren verschiedener Lösungsansätze und ermögliche das Lernen, weshalb sich gute Ansätze mit höherer Wahrscheinlichkeit durchsetzten.
Die darauffolgende Diskussion widmete sich unter anderem der Frage, ob eine Maskenpflicht aus liberaler Sicht unterstützt oder abgelehnt werden müsse. Einerseits wurde das Argument externer Effekte ins Feld geführt. Demnach solle man für Schäden, die man als Individuum verursache — auch aufgrund der Übertragung eines Virus auf jemand anderen —, haftbar gemacht werden können. Weil man jedoch die Ausbreitungskette nicht exakt nachverfolgen und als Individuum nicht genau sagen könne, ob man das Virus nun habe oder nicht, müsse man diesem Umstand durch das Tragen von Masken entgegenwirken, um die Verursachung externer Kosten zu reduzieren.
Dieser These entgegengestellt wurde das Argument, dass mit einer Maskenpflicht die Eigenverantwortung der Bürger untergraben werde: Anstatt, dass sich Risikogruppen selbstverantwortlich schützen und öffentliche Ansammlungen mieden, würde die ganze restliche Gesellschaft bevormundet und an einem normalen Leben gehindert, was gerade auch angesichts der relativ kleinen Prozentzahl der schwer Betroffenen problematisch sei. Ausserdem müssten dann jene, die eine politisch befohlene Maskenpflicht befürworteten, auch für die externen Kosten ebendieser Massnahme aufkommen — etwa, wenn das Tragen der Maske selbst und die rare Sauerstoffzufuhr zu Gesundheitsschäden führten.