Was der Politologie William Voegeli in seinem neuen Traktat darlegt, ist nichts Geringeres als eine systematische Untersuchung des amerikanischen Wohlfahrtsstaats von seinen Anfängen bis zur Gegenwart. Das Werk ist nun auch in deutscher Sprache erschienen.
Voegeli ist kein grundsätzlicher Gegner des Wohlfahrtsstaats. Doch es fehlen ihm die Kriterien, mit denen man einen angemessenen von einem unangemessenen Wohlfahrtsstaat abgrenzen könne. Voegeli sieht vor allem die Anhänger der demokratischen Partei in der Pflicht. Sie, die Liberals, sind für ihn die eigentlichen An- und Betreiber des amerikanischen Wohlfahrtsstaats und auch die Ursache dafür, dass der Wohlfahrtsstaat in den USA immer weiter aufgebläht wird. Im Versäumnis, ein klare Grenze anzugeben oder gar anzustreben, liegt auch – so der Autor – die Ursache dafür, dass sein Buchprojekt einen anderen Gang genommen hat als ursprünglich geplant.
Voegeli weiss, dass die erfolgreiche Suche nach einem Begrenzungsgrundsatz – so es denn einen gibt – erhebliche Vorleistungen erfordert. Im Wissen um die notwendigen Vorleistungen, die er zu erbringen hat, beginnt der Autor in Kapitel 1 damit, Geschichte, Struktur, Ausmass und Vergleichbarkeit des amerikanischen Wohlfahrtsstaats mithilfe geeigneter Daten und Quellen darzulegen. Um den amerikanischen Wohlfahrtsstaat angemessen erfassen und mit den Wohlfahrtsstaaten anderer Länder vergleichen zu können, greift er vor allem auf Daten zurück, die Jahr für Jahr von der OECD sowie vom OMD und BLS erfasst werden. Bei den Letztgenannten handelt es sich um zwei amerikanische Bundesagenturen. Gemeint sind das Haushaltsbüro (Office of Management and Budget, kurz OMD) und das Statistische Bundesamt für Arbeit (Bureau of Labor Statistics, kurz BLS).
Die Mär von der Abwesenheit eines Sozialstaats in den USA
Für Europäer ist vor allem die Frage interessant, wie der amerikanische Wohlfahrtsstaat im Vergleich zu seinen Gegenstücken in Europa abschneide. Die Tabellen auf den Seiten 54-59 geben dem Leser auf diese Frage eine anschauliche Antwort, zumindest für den Vergleichszeitraum 1980-2003. So lagen z.B. 2003 die Pro-Kopf-Sozialabgaben in den USA mit 6.481 USD zwar deutlich unter denen von Deutschland (8.168 USD), aber nur knapp unter denen von Italien (6.717 USD) und sogar über denen des Vereinigten Königreichs (6.255 USD). Die Mär, Amerika kenne keinen Wohlfahrtsstaat, ist mit solchen Zahlen keineswegs zu halten.
Tabelle: Pro-Kopf-Sozialausgaben in 13 OECD-Ländern, in Dollar 2005
Jahr | 1980 | 1985 | 1990 | 1995 | 2000 | 2003 |
Australien | 2.214 | 2.864 | 3.383 | 4.424 | 5.374 | 5.664 |
Belgien | 4.354 | 5.063 | 5.584 | 7.078 | 7.665 | 8.196 |
Kanada | 3.266 | 4.353 | 4.978 | 5.348 | 5.438 | 5.825 |
Dänemark | 5.292 | 5.823 | 6.556 | 8.196 | 8.253 | 8.881 |
Frankreich | 4.216 | 5.498 | 6.160 | 7.144 | 7.827 | 8.289 |
Deutschland | 5.246 | 5.748 | 6.239 | 7.605 | 7.821 | 8.168 |
Italien | 3.359 | 4.208 | 4.687 | 4.957 | 6.370 | 6.717 |
Japan | 1.916 | 2.347 | 2.905 | 3.827 | 4.605 | 5.126 |
Niederlande | 5.283 | 5.499 | 6.376 | 6.452 | 6.466 | 6.966 |
Spanien | 2.347 | 2.822 | 3.907 | 4.464 | 5.038 | 5.227 |
Schweden | 5.922 | 6.706 | 7.599 | 8.140 | 8.457 | 9.594 |
U.K. | 3.007 | 3.904 | 3.980 | 5.055 | 5.463 | 6.255 |
U.S.A. | 3.407 | 3.700 | 4.305 | 5.243 | 5.734 | 6.481 |
Anhand der generierten Tabellen zeigt der Autor, dass der amerikanische Wohlfahrtsstaat seit dem New Deal kontinuierlich gewachsen ist, und dies ungeachtet der Tatsache, dass Demokraten und Republikaner sich mehrfach an der Spitze abgelöst haben. Insofern sieht Voegeli verständlicherweise auch die Konservativen in der Verantwortung, obgleich er zugesteht, dass die Mentalität der amerikanischen Bevölkerung den Handlungsspielraum der konservativen Kräfte im Land einengt. Der Autor nimmt aber auch an, dass die amerikanischen Bürger den Sozialdemokraten bei ihren Versuchen, den Wohlfahrtsstaat auszudehnen, Grenzen setzen würden.
Divergenzen in den Mentalitäten sind für Voegeli auch die Ursache für die Unterschiede, mit denen die Amerikaner und Europäer der Begrenzfrage begegnen. In Europa frage man, wo die Wohlfahrtsstaatsausweitung sich dem Wähler überhaupt versperren könne, in den USA, wo dem Steuerzahler.
Geschichte einer Aufblähung
In Kapitel 2 zeichnet der Autor den Werdegang des amerikanischen Wohlfahrtsstaats vom New Deal bis zur Gegenwart nach. Dieser Exkurs in die jüngere Sozialgeschichte Amerikas vermittelt dem Leser auch einen Eindruck von der Grundstruktur, die den amerikanischen Wohlfahrtsstaat und die Argumentationsmuster, mit denen er seit seinen Anfängen propagiert wurde, auszeichnet. Roosevelt, dem New Deal und der mit ihm einhergehenden Umdeutung dessen, was die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika zu verteidigen habe, widmet Voegeli besonders viel Aufmerksamkeit. Der Grund liegt auf der Hand. Es waren Roosevelt und seine Sozialreformen, die einen Wendepunkt in der amerikanischen Geschichte nach Coolidge markiert haben: den Wendpunkt, ab dem der Wohlfahrtsstaat im grossen Stil Fahrt aufnehmen konnte.
Gleichwohl löst der Aufstieg des amerikanischen Wohlfahrtsstaats beim Autor eine gewisse Verwunderung aus, vor allem angesichts der Tatsache, dass derselbe nie von einer klaren Strategie angetrieben worden sei. In Kapitel 3 spürt Voegeli den Ursachen nach, die das Fehlen einer widerspruchsfreien bzw. dominierenden Lehre ausgelöst haben.
Dass der amerikanische Wohlfahrtsstaat trotz innerer Widrigkeiten seinen Siegeszug fortsetzen konnte, liegt aus Sicht des Autors vor allem an Franklin Delano Roosevelt. FDR habe es geschafft, dass das Oberste Bundesgericht zwischen 1937 und 1945 nach und nach dazu übergegangen ist, die New Deal-Gesetzgebung für verfassungsgemäss zu erklären.
Grenzenloses Wachstum
Voegeli verwendet viel Energie darauf, den Nachweis zu führen, dass der Wohlfahrtsstaat der amerikanischen Liberals kein Ende kenne (daher auch der Titel Never enough.) Wer – wie Roosevelt und seine Nachfolger – ein Recht auf die Mittel für ein gutes Leben propagiert, der kann von keiner eingeforderten Sachleistung behaupten, sie sei als Mittel für ein gutes Leben ungeeignet. Mit anderen Worten, der Wohlfahrtsstaat kennt keinen systemimmanenten Schlussstrich.
Hinderlich für die Suche nach einer Begrenzung des Wohlfahrtsstaats ist für den Autor auch das Bedingungsverhältnis von Demokratie und Wohlfahrtsstaat. Aber auch die Korrektur von Fehlern in der Vergangenheit (negative Diskriminierungen) durch positive Diskriminierungen in der Gegenwart sei ein Verfahren, das kein Ende kenne – schon allein deshalb, weil kein Kriterium genannt werde, das gezielte Fördermassnahmen in unerlaubte und erlaubte unterteilen liesse.
Die vielen Zitate aus dem Lager der Linken und Konservativen, die Voegeli in seinem Buch anführt, bieten ein schillerndes Bild der Befindlichkeiten und Beurteilungen, die durch die wechselhafte Geschichte des amerikanischen Wohlfahrtsstaats mäandern. Besonders vielfältig, bunt, weitaus bestimmter und selbstsicher als systematisch und überzeugend kamen und kommen sie aus dem Lager der amerikanischen Liberals.
Was für die Rechte-Demokratie und deren Einklang mit dem Wohlfahrtsstaat gilt, trifft für Voegeli nicht minder auf den Kommunitarismus und dessen Vereinbarkeit mit dem Wohlfahrtsstaat zu. Aber auch das Durchwursteln (Ad-hoc-Kratie) sei keine Alternative.
Die ökonomischen Grenzen des Wohlfahrtsstaates
Kapitel 4 ist – wie auch schon Kapitel 3 – der Frage gewidmet, wie der amerikanische Liberalismus angesichts der Vielfalt der faktischen Grenzen das Ende des Wohlfahrtsstaats unbegrenzt hinauszögern könne. Doch die Stossrichtung der beiden Kapitel ist nicht dieselbe. Während Voegeli in Kapitel 3 die Grenzen intellektueller Natur nachzeichnet, legt er in Kapitel 4 die Grenzen dar, die ökonomischer, fiskalischer und eigentumsrechtlicher Natur sind. Im Zentrum steht dabei der unveränderliche Umstand, dass ein Wohlfahrtsstaat steht ein hohes Mass an ökonomischem Wohlstand voraussetzen muss, weshalb er der Volkswirtschaft nicht unbegrenzt die Mittel entziehen kann, die diese zur Generierung des Wohlstands braucht.
In Kapitel 5 geht Voegeli mit den Konservativen ins Gericht, fragt aber auch nach den Möglichkeiten für beide Lager, sich im Sinne eines finanzierbaren Wohlfahrtsstaat zusammenzuraufen, um festzulegen, wie „schwache Anspruchsteller Vorrang vor schwachen Ansprüchen erhalten.“ Für Voegeli stellt sich damit die Frage nach den Berechtigungsnachweisen, die im Sinne des Wohlfahrtssystems funktionstüchtig sind.
Kapitel 6 ist als Ausblick gedacht und setzt den Rahmen, innerhalb dessen die beiden prägenden Grössen der amerikanischen Parteienlandschaft die Grenzen des Wohlfahrtsstaats künftig festzulegen haben. Der Titel des Kapitels formuliert dabei die Zielvorgabe in passender Frageform „Wohin wollen die Fortschrittlichen fortschreiten und was wollen die Konservativen konservieren?“
Hayek-Schriftenreihe zum Klassischen Liberalismus, Band 7: William Voegeli, Der amerikanische Wohlfahrtsstaat, herausgegeben und übersetzt von Hardy Bouillon, Berlin: Duncker und Humblot 2023, 260 Seiten.
William Voegeli (*1954) studierte Politologie an der Loyola University in Chicago, wo er auch promovierte. Anschließend war er für einige Jahre (1988 bis 2003) Programmleiter der amerikanischen John M. Olin Foundation. Danach wurde er Gastprofessor am Henry Salvatori Center des Claremont McKenna College in Claremont/Kalifornien, Herausgeber der Zeitschrift Claremont Review of Books und Senior Fellow am Claremont Institute. Der amerikanische Wohlfahrtsstaat ist Voegelis wichtigstes Werk.