Verunsicherung macht sich breit. Viele Hersteller bekommen es erstmals mit einem neuen Rechtsgebiet zu tun, mit dem sie keine Erfahrung haben: mit dem Kartellrecht. Das deutsche Kartellrecht existiert zwar schon lange (seit 1958), aber das Wirken der Kartellbehörden beschränkte sich bisher in der Öffentlichkeit weitgehend auf Grossunternehmen und deren Branchen: Benzin, Öl, Stahl, Chemie, Baustoffe, etc. Erst seit den neunziger Jahren, als die EU-Kommission ihren Kurs verschärfte, haben sich bei uns die Auswirkungen der Kartellgesetze verstärkt. Trotzdem kam kaum jemand auf die Idee, dass kleine Unternehmen der Lebensmittelbranche, oft noch von ihrer Struktur her im Übergang zwischen Handwerk und Industrie befindlich, ins Visier der Ermittler gelangen könnten. Neunzehn Wurstherstellerfirmen, vor allem ihre Inhaber, müssen seit dem „Besuch“ der Beamten des Kartellamts und begleitender Staatsanwälte jetzt mit der neuen Situation fertig werden und den Vorwurf verarbeiten, gegen das Kartellrecht verstossen zu haben.
Zwar verbietet unser Kartellrecht (mit geringfügigen Ausnahmen) alle Absprachen über Preise, Marktanteile, Marktaufteilung u. ä., oft beruhen die Verdächtigungen der Kartellbehörden jedochauf falschen Annahmen. Sie unterstellen, dass die Anbieter auf vielen Märkten Preise abgesprochen haben, wenn diese sich nicht wie wild auf und ab bewegen und wenn die Marktteilnehmer sich nicht wie wild bekämpfen und gegenseitig unterbieten. Die Behörden behaupten in solchen Fällen, es fände „kein Markt“ oder „kein Wettbewerb“ statt, letztlich würden die Abnehmer, die Verbraucher durch überhöhte Preise betrogen.
Was unsere Kartellbehörden unter freier „Markt“ verstehen, kann man bildlich an den Tageskursen unserer Aktiengesellschaften sehen: ein dauerndes Auf und Ab, unvorhersehbar, unberechenbar – der Aktienkurs auf der scheinbar immerwährenden Suche nach dem Marktgleichgewicht – angeblich freie Marktwirtschaft pur.
Die Wirklichkeit des produzierenden Gewerbes, vom Handwerk bis zum Industriebetrieb, sieht allerdings völlig anders aus: für die zu verkaufenden Waren setzt der Verkäufer entweder für den Tag, oder die Woche, oder den Monat, oder das Jahr (oder länger) einen Preis fest. Der Vertrieb bekommt eine Preisliste in die Hand oder das Geschäft die Preistafel an die Wand, mit der bieten sie ihre Ware an. Dienstleistungen haben ohnehin Standardpreise. Das Wort „Volatilität“, neudeutsch für ungeregeltes Auf und Ab, kommt darin allerseltenst (!) vor bzw. eigentlich nie, denn hektische Bewegungen der Verkaufspreise stellen keine Kalkulationsgrundlage dar für ein ordentliches Geschäft (mit ganz wenigen speziellen Ausnahmen) oder für ein verarbeitendes Unternehmen. Auch die Kunden würden total verunsichert. Zwischen Aktienkursen und den Preislisten oder Preistafeln der Fleich- und Wurstverkäufer liegen Welten. Worin besteht nun der Unterschied?:
Das Geschäft mit den Aktien ist keines! Aktienkurse sind nur die permanente Neubewertung der ausgegebenen Aktien einer Aktiengesellschaft durch aktuelle Verkäufe bzw. Tauschgeschäfte. Dabei geht es nicht um eine verwertbare Ware, die danach ihrem Verkauf für immer vom Markt verschwindet, wie bei Lebensmitteln, sondern eben nur um den Tausch „unverderblicher“ Anteile, die im nächsten Moment schon wieder auf dem Markt auftauchen können. Im Grunde findet auf dem Aktienmarkt nur ein permanenter, unberechenbarer Wechsel der Marktteilnehmer und des Angebots statt. Das ganze Bewegungsspiel der vielen Faktoren nennt man Spekulation – es hat mit einem Geschäft nichts zu tun.
Das Geschäft an der Börse machen die Börsenmakler. Und die haben einen festen Platz und eine feste prozentuale Courtage, alle die gleiche „Fee“. Das ist dann doch wie beim Metzger oder der Wurst- oder Fleischfabrik: Auch die haben auf ihrem Markt jeweils einen festen Platz, sei es an der Hauptstrasse, am Marktplatz, in der Einkaufspassage oder sei es auf der Anuga. Ihr grösstes Interesse besteht darin, sich einen stabilen Kundenstamm aufzubauen, den sie regelmässig beliefern können und der mit seiner Ware zufrieden ist. Kein ordentlicher Kaufmann will seine Kunden betrügen, ihnen schlechte Ware unterjubeln. Preise verkaufter Ware sind immer marktgerecht (auch wenn sie mit dem Wettbewerber abgesprochen sind), sonst wäre die Ware nicht verkauft worden. Niemand wagt es, seine Preise zu hoch anzusetzen, denn einzelne Preise sind nie unabhängig, sie spielen immer eine Melodie im Konzert der Gesamtmärkte – der Fleischmärkte, aber auch der Nachbarmärkte im übrigen Lebensmittelbereich. Überzogene Preise gehen zu Lasten des Geschäfts, die Ware bleibt liegen – bei verderblicher Ware schon gar nicht zu verantworten.
Und: die richtigen Preise zu finden ist schwer. Die Betriebswirtschaftslehre hat diesem Thema lange Kapitel gewidmet. Die Stichworte heissen: Kostenpreise, Nachlässe, Zuschläge, Festpreise, strategische Preise, etc. Allererste Grundlage der Preisfindung sind Kalkulationen, Erfahrungen, Informationen über die Marktlage, über die Preise der Wettbewerber, die Entwicklung der Märkte, der Marktanteile, der Ernten, der Angebote an Vorprodukten, deren Preisentwicklung, usw.
Von solcher Art Preisfindung wollen die Kartellbehörden nichts wissen. Wer sich nicht blind auf dem Markt bewegt (wie viele Käufer von Aktien, die ihre Lieferanten oder Kunden nie kennen lernen!), der macht sich verdächtig, verstösst gegen behördliche Vorstellungen von marktmässigem Wohlverhalten. Die Kaufleute und ihre Gehilfen sollen deshalb in teuren „Compliance-Program¬men“ lernen, die Grenze zwischen „verbotenen Absprachen“ und „zulässigem Parallelverhalten“ zu erkennen, also zwischen Augen-und-Ohren-zu-Situationen und Augen-und-Ohren-auf-Situationen. Welch ein Unsinn, den Kaufleuten den ganzen positiven Einsatz ihrer Intelligenz fürs Geschäft zu verbieten, welch ein Irrtum und welch ein Schaden für die Unternehmen und die Volkswirtschaft!
Nur, Gesetz ist Gesetz, wer sich nicht daran hält, muss mit hohen Bussen rechnen. So lange das Kartellrecht nur wenige Grosse betraf, musste mangels Mitleid der öffentliche Aufschrei, das öffentliche Aufbegehren ausbleiben. Jetzt, wo die Kartellbürokratie sich in der Fläche ausbreitet und kleinere Unternehmen und Unternehmer im Visier hat, könnte sich daran etwas ändern. Beispiele gibt es schon: Die Bundesliga und die geplagten Milchbauern. In beiden Fällen hat sich das Kartellamt schon auffällig zurückziehen müssen. Deshalb: Es ist an der Zeit, dass sich die Politik des Themas richtig annimmt und die Vorschriften über „Verbotene Absprachen“ grundsätzlich auf den Prüfstand stellt und entkriminalisiert, um grösseren Schaden von der Wirtschaft (und der Politik) abzuwenden.
Florian Josef Hoffmann leitet das European Trust Institute in Düsseldorf.