In seinem Vortrag vor der Mont Pèlerin Society analysiert Vanberg die Beziehung zwischen Liberalismus und Demokratie (1). Ausgehend vom Ideal individueller Souveränität seien die für die Funktionsweise von Märkten wichtige Privatautonomie und die für das Funktionieren einer Demokratie entscheidende Bürgersouveränität zueinander komplementär. Individuelle Souveränität impliziert nicht nur, dass die Bürger als Marktteilnehmer autonom handeln, sondern auch, dass sie die institutionellen Rahmenbedingungen autonom festlegen können. Nur wenn die Bürger über die politische Verfassung, in der die Spielregeln ihres kollektiven Zusammenlebens festgelegt sind, selbst entscheiden, ist das Ideal individueller Souveränität verwirklicht. Aus einer vertragstheoretischen Perspektive lässt sich eine Verfassung somit als Vereinbarung von Rechten und Pflichten der Bürger verstehen, die den Charakter einer Bürgergenossenschaft hat. Folgt man dieser grundsätzlichen Argumentation, dann resultiert daraus die Forderung nach direkten Volksrechten zumindest auf der Verfassungsebene.
Der genossenschaftliche oder korporatistische Gedanke legt aber auch nahe, dass sich Bürger nicht nur zusammenschliessen, um für sie selbst gegenseitig vorteilhaftes, gemeinschaftliches Handeln zu vereinbaren, sondern auch, um sich gegen unliebsamen Wettbewerb durch andere zu schützen: Die Bürgergenossen errichten protektionistische Barrieren. Aus einer verfassungspolitischen Forderung, die sich auf Basis grundlegender liberaler Prinzipien ableiten lässt, kann die Einschränkung des ebenso liberal geprägten Wettbewerbscredos resultieren. Liberale Reformen, die auf eine Stärkung der Wettbewerbskräfte abzielen, werden möglicherweise durch die (autonome) Entscheidung der Bürger in der direkten Demokratie verhindert.
Die Beibehaltung direkt-demokratischer Entscheidungsmechanismen liesse sich trotzdem aus übergeordneten Gründen rechtfertigen. Auch wenn die Demokratie allgemein als bei weitem nicht perfekte Regierungsform angesehen wird, impliziert dies noch nicht ihre Abschaffung. In Analogie könnte man die direkte der repräsentativen Demokratie vorziehen. Dies ist jedoch viel schwieriger als im Hinblick auf nicht-demokratische Regierungsformen: Es muss darum gehen herauszufinden, ob direkte Volksrechte zu schlechteren politischen Ergebnissen als rein repräsentative Demokratien aufgrund einer wettbewerbsfeindlichen Ausrichtung führen.
Direkte Demokratie, Korporatismus und Reformen
So wird der direkten Demokratie vorgeworfen, sie verlangsame den Reformprozess. Im Mittelpunkt der Kritik steht dabei das Referendum. Alleine schon die Erfordernis einer weiteren institutionalisierten Entscheidung — auf Bundesebene durch das fakultative Gesetzesreferendum — erhöhe die Kosten politischer Entscheidungen massgeblich. Wichtige Reformen unterblieben vielleicht ganz, weil interessierte Gruppen ihre Vetomacht für Wettbewerbsbeschränkungen nutzten. Dem lässt sich entgegenhalten, dass das Referendum zwar zu einer Verlangsamung des Entscheidungsprozesses aufgrund höherer Transaktionskosten führen mag. Allerdings dürften die durch die Bürger in einem Referendum getroffenen Entscheidungen eine grössere Bindungswirkung entfalten und daher zu einer konsequenteren Umsetzung von Reformen führen. Zudem ermöglicht das Referendum der Regierung, gewagtere Reformvorhaben zu unternehmen. Da die Bürger ein Veto einlegen können, ist es auch möglich, den Reformprozess schneller anzugehen. Mit guten Bremsen lässt sich auch ein schnelleres Auto unfallfrei fahren.
Leider ist die Evidenz, mit der diese sich widersprechenden Hypothesen überprüft werden könnte, nicht stark. Die Schweiz, der international eher eine geringe Reformbereitschaft zuerkannt wird, ist nur ein einzelnes Beispiel, das keine systematische Untersuchung zulässt. Allerdings erlauben die institutionellen Unterschiede zwischen den Kantonen eher eine Untersuchung der vorherigen Behauptungen. Ein prominentes Beispiel für Wettbewerbsbeschränkungen findet sich in der Diskussion um die Herstellung des Schweizer Binnenmarktes. Noch immer bestehen in den Kantonen Regulierungen der Produkt- und Dienstleistungsmärkte, die nur vordergründig den Konsumentenschutz im Auge haben, in Wirklichkeit aber protektionistischen Zwecken dienen. Mit Querschnittsdaten über die Anzahl der kantonalen Regulierungen der Produkt- und Dienstleistungsmärkte Ende der 1990er Jahre, genauer den Ausbildungsanforderungen und gewerbepolizeilichen Anforderungen für reglementierte Berufe, lässt sich jedoch belegen, dass Kantone mit einer stärker ausgebauten direkten Demokratie tendenziell eher weniger Regulierungen haben (2). Insbesondere findet sich ein relativ robuster signifikant negativer Zusammenhang zwischen der direkten Demokratie und der Anzahl gewerbepolizeilicher Anforderungen. Leider erlaubt die Datenlage aber bislang nur eine Messung der Anzahl an Regulierungen, nicht der Regulierungsintensität. Stellt man auf Reformen im Bereich der öffentlichen Finanzen ab, hier insbesondere auf die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte, so wirken sich direkte Volksrechte zudem nicht ungünstig auf die Konsolidierungsanstrengungen der Schweizer Kantone aus (3). Für einzelne protektionistische Massnahmen auf Bundesebene lässt sich hingegen keine eindeutige Evidenz feststellen (4).
Eine wesentlich schwieriger einzuschätzende Frage ist das Ausmass des Interessengruppeneinflusses in der direkten Demokratie. Die Schweizer direkte Demokratie hat aufgrund des Vernehmlassungsverfahren gegenüber rein parlamentarischen Entscheidungen den Vorteil, dass der Einfluss von Interessengruppen eher transparent wird und völlig auf einzelne Interessen zugeschnittene Gesetze dadurch kaum möglich sind. Ob die direkte Demokratie Interessengruppeneinfluss einschränken kann, lässt sich empirisch ebenfalls nicht leicht belegen. Die vorliegende Evidenz zum Einfluss von Interessengruppen im alten System des bundesstaatlichen Finanzausgleichs deutet auf einen schwach restringierenden Effekt hin (5).
Föderalismus
Die Rolle des Föderalismus dürfte ähnlich schwer einzuschätzen sein. Einerseits lässt sich Föderalismus unterschiedlich ausgestalten, andererseits ergibt sich die bundesstaatliche Organisation aus ganz unterschiedlich wirkenden Elementen. So lässt sich für den Schweizer Wettbewerbsföderalismus eine gewisse Reformfreundlichkeit belegen (6). Die Rolle des Ständerats oder die Bedeutung von interkantonalen Vereinbarungen (Konkordate) auf die Reformpolitik sind hingegen weniger eindeutig. Nähert man sich der Problematik auf Basis der Geschichte des Schweizer Bundesstaats, so lässt sich jedoch die Schlussfolgerung ziehen, dass insbesondere der interkantonale Wettbewerb selbst immer wieder politische Innovationen hervorgebracht hat, die nicht nur von anderen Kantonen sondern auch vom Bund imitiert und adaptiert wurden (7). Weder die interkantonalen Vereinbarungen noch die Verlangsamung des eidgenössischen Entscheidungsprozesses durch den Ständerat haben dies verhindern können.
Schlussfolgerung
Trotz der Gefahr von Wettbewerbsbeschränkungen durch die direkte Demokratie oder den Föderalismus lässt sich bislang kein systematischer, schädlicher Effekt beider Institutionen auf die Reformfähigkeit der Schweiz feststellen. Auch ein besonderes Ausmass an schädlichem Korporatismus dürfte nicht auf diese beiden Institutionen zurückgehen. Beide Institutionen tragen eher zu einer gedeihlichen wirtschaftlichen Entwicklung der Schweiz bei.
Anmerkungen
(1) Siehe V.J. VANBERG: Individual Liberty and Political Institutions: On the Complementarity of Liberalism and Democracy, 2006, Paper prepared for the MPS 2006 General Meeting in Guatemala.
(2) Siehe L.P. FELD: Regulatory Competition and Federalism in Switzerland: Diffusion by Horizontal and Vertical Interaction, CREMA Working Paper, 2007, erscheint in: P. BERNHOLZ und R. VAUBEL (eds.): Political Competition and Economic Regulation, Routledge, London 2007.
(3) Siehe C.A. SCHALTEGGER und L.P. FELD: Are Fiscal Adjustments Less Successful in Decentralized Governments?, Unveröffentlichtes Manuskript, Philipps-Universität Marburg 2006.
(4) Siehe H. WECK-HANNEMANN: Protectionism in Direct Democracy, Journal of Institutional and Theoretical Economics (JITE) 146, 1990, S. 389 — 418.
(5) Siehe L.P. FELD und C.A. SCHALTEGGER: Voters As A Hard Budget Constraint: On the Determination of Intergovernmental Grants, Public Choice 123, 2005, S. 147 — 169.
(6) Siehe C.A. SCHALTEGGER und L.P. FELD (2006) a.a.O. und L.P. FELD (2007), a.a.O.
(7) Siehe wiederum L.P. FELD (2007).
Prof. Dr. oec. Lars P. Feld arbeitet am Alfred-Weber-Institut für Wirtschaftswissenschaften, Universität Heidelberg.