«Soziale Distanz ist ein Privileg» — so lautete jüngst der Titel eines Kommentars in der US-amerikanischen Zeitung New York Times. Er befasste sich mit den in Zeiten der Corona-Krise erforderlichen «Social Distancing»-Massnahmen. Danach sind mindestens 1,5 Meter Abstand zu anderen zu halten — sofern die eigenen vier Wände überhaupt verlassen werden. Der Kommentar stellte fest, dass in diversen US-Gemeinden der Anteil der Afro-Amerikaner an den Corona-Opfern überdurchschnittlich hoch ist. Wie kann das sein? Gehören etwa grössere Teile dieser Bevölkerungsgruppe zur so genannten «Risikogruppe» der Covid-19-Erkrankung, bei der sie nach bisherigem Wissen einen besonders schweren Verlauf nimmt (wie etwa Menschen über 80 Jahre und mit Vorerkrankung)? Darauf gibt es keinen Hinweis. Der Think Tank «Economic Policy Institute» stellt dagegen fest: weniger als ein Fünftel aller afro-amerikanischen Arbeiter und ungefähr ein Sechstel der hispanischen üben eine Tätigkeit aus, die von zuhause aus angeboten werden kann. Entsprechend häufiger setzen sie sich einer Ansteckungsgefahr aus.
Das viel zitierte «Home Office» setzt voraus, dass eine Tätigkeit im «Office», also im Büro ausgeübt werden kann. Eine jüngere Schätzung für die Bundesrepublik Deutschland kommt auf einen Wert von 20-30% der Berufstätigen, auf die diese Beschreibung zutrifft. Ein Blick in die Medien könnte dagegen den Eindruck erwecken, eine überwiegende Mehrheit aller Tätigkeiten fänden nun im «Home Office» statt. Eine verzerrte Wahrnehmung, die auch dadurch entstehen mag, dass Journalisten und ihre wichtigsten (weil zahlungskräftigen) Abnehmer selbst zur Gruppe der akademisch gebildeten Heimarbeiter gehören. Das «Home-Office» als privilegierte Echo-Kammer.
In medialen Darstellungen der derzeit verhängten «Lockdown»-Massnahmen finden sich dann häufig auch Bilder von zu Hause am PC arbeitenden Männern und Frauen, die tatsächlich in einem Büro-ähnlichen Zimmer sitzen — also nicht auf der Couch oder am Küchentisch. Eher selten sieht man dagegen den Alltag einer alleinerziehenden Mutter mit zwei Kindern in einer 50 qm-Wohnung ohne Balkon. Nur wenige Berichte finden sich auch über die gesundheitlichen, sozialen und psychologischen Belastungen von Menschen, die derzeit um ihre ökonomische Existenz bangend auf engstem Raum mit ihren Angehörigen verharren.
Je höher der Wohlstand, desto besser die Krisenbewältigung
«Soziale Distanz ist ein Privileg», wie die New York Times schreibt. Tatsächlich lässt sich beobachten, dass ein gehobener sozioökonomischer Status in Zeiten des Corona-«Lockdowns» enorme Vorteile mit sich bringt — eine höhere Arbeitsplatzsicherheit, die Möglichkeit zur Heimarbeit, die Verfügbarkeit von Raum — für Arbeit und Familie — in den eigenen vier Wänden, ein Balkon oder Garten, ein finanzielles Polster, das Existenzängste mindert. Komfort und Sicherheit in Zeiten der Krise — diesen Vorteil bietet Wohlstand nicht nur innerhalb eines Landes. Nicht minder gilt dies im internationalen Vergleich.
Vorzeigeländer der Pandemie-Bewältigung, wie Singapur, Hongkong, Taiwan oder Südkorea verfügen über moderne Gesundheitssysteme, die westlichen zum Teil gar überlegen sind. Norditalien oder Spanien bieten dagegen erschreckende Bilder maroder und schnell überforderter medizinischer Versorgung. Weitgehend fehlen im Westen Bilder der menschlichen Schicksale, die sich derzeit in Krankenhäusern einiger Schwellen- und Entwicklungsländer abspielen. Das Robert-Koch-Institut meldet derweil, dass mehr als die Hälfte aller Intensivbetten in Deutschland nicht belegt sind. Das Land exportiert gar Beatmungsgeräte.
Angesichts der asymmetrischen Folgen der Pandemie wird nun folgerichtig Solidarität gefordert. Durch Massnahmen wie Kurzarbeit können innenpolitisch manche soziale Härten abgefedert werden — sofern die öffentlichen Haushalte es hergeben. Die Schweiz und auch Deutschland finden sich hier in einer — erneut — privilegierten Position wieder. Beide verfügen über eine Schuldenbremse, relativ niedrige explizite Schuldenstände und besitzen daher nun einen erheblichen fiskalischen Spielraum. Italien hingegen ist wieder auf europäische Rettungsmassnahmen angewiesen. Ohne die Anleihenkaufprogramme der Europäischen Zentralbank wäre das Land wohl längst an seine finanziellen Grenzen gestossen.
Solche Vergleiche — innerhalb einer Gesellschaft wie auch zwischen verschiedenen Staaten — führen zu einer banalen aber nicht trivialen Erkenntnis: Wie gut eine Krise bewältigt werden kann, hängt wesentlich vom Wohlstand der Betroffenen ab. Die «Krisenresilienz», die Möglichkeit zur Anpassung, die Fähigkeit, Durststrecken zu durchstehen, ist bei wohlhabenden Menschen und auch Staaten stärker ausgeprägt als bei armen. Diese Lehre gilt keineswegs nur für die gegenwärtige Corona-Pandemie. Sie gilt nahezu universell. Experten weisen etwa längst darauf hin, dass wohlhabende Länder mögliche Schäden durch einen Klimawandel (wie etwa eine Zunahme von Unwettern oder Hitzewellen) deutlich besser werden verkraften können, als arme. Warum? Weil sie eher über die Infrastruktur, Technologie und Absicherung verfügen, um Schäden abwenden, reduzieren oder beheben zu können.
Denkfehler und ideologische Verzerrung
Liberalen wird von ihren politischen Gegnern gerne Kaltherzigkeit vorgeworfen, wenn sie sich um profane Dinge wie Steuern, Schulden oder Zinsen sorgen. «Geld kann man nicht essen», heisst es dann. Gerade so, als sei das Ideal des Liberalismus ein Dagobert Duck, der Golddukaten in seinem überdimensionierten Speicher hortet. Reich genug seien wir doch längst — jeder habe, was man so zum Leben brauche. Sei nun nicht Zeit für «qualitatives» Wachstum anstelle des quantitativen? Mehr «gutes Leben» statt einer Steigerung des Bruttosozialprodukts? Zahllose Intellektuelle entwerfen Szenarien einer «Post-Wachstums-Gesellschaft». Meist im Gestus erheblicher moralischer Überlegenheit, ja Empörung gegenüber den «Verwüstungen» des «Neoliberalismus».
Es sind Zeiten wie diese, in denen wohlhabende Individuen den schwachen helfen, sparsame Länder den überschuldeten, in denen sich das ganze Ausmass dieser ideologischen Verzerrungen und Denkfehler offenbart. Schmerzhaft wird uns nun einmal mehr bewusst: Nicht Wohlstand ist der natürliche Zustand der Menschheit, sondern Armut. Wohlstand ist jeden Tag von neuem zu erarbeiten. Wohlstand ist eine dynamische Grösse — er schrumpft bei Untätigkeit. Armut kommt dann von ganz alleine. Szenarien, in denen Roboter arbeiten und die Menschen — ein bedingungsloses Grundeinkommen in der Tasche — den schönen Künsten nachgehen, sind kindliche Utopien. Charmant wie naiv. Im Hier und Jetzt erfordert Wohlstand Energie, Engagement, Disziplin, Kreativität — jeden Tag von neuem. Er erfordert Spezialisierung, Arbeitsteilung und Tausch — möglichst global.
Die Wurzeln des Wohlstands
Mit ihren Schrecken ist die Corona-Krise auch eine Erinnerung: Das menschliche Leben ist geprägt von Unsicherheit. Unsere Lebensbedingungen verändern sich ständig — und sei es nur in Form eines winzigen Virus. Wir reagieren darauf durch Veränderung, durch Innovation und Fortschritt. Nur so ist es möglich, dass immer mehr Menschen immer besser leben. Und dass wir Krisen und Erschütterungen möglichst unbeschadet überstehen. Einen Stillstand gibt es dabei nicht. So wenig, wie es Grenzen des Wachstums gibt. Nur durch das tägliche gemeinsame, arbeitsteilige und im Tausch verbundene Engagement möglichst vieler Menschen ist es möglich, dass nicht nur die Corona-Krise überstanden werden wird. Oder der Klimawandel. Auch all jene künftigen Herausforderungen, die wir heute noch nicht kennen.
Die Perspektive des Liberalismus ist also keineswegs eine egoistische, sie ist vielmehr eine zutiefst optimistische: Wohlstand für alle ist möglich. Wenn nur die kreativen Energien und das Engagement der Menschen nicht gehemmt, entmutigt oder unterbunden werden. Wenn sie entfesselt werden im arbeitsteiligen Tausch, auf durch Preise als Indikatoren unserer Bedürfnisse und Ressourcen koordinierten Märkten. Dann entsteht Wohlstand. Überall und immer mehr. Nicht, um Goldtaler im Dukatenspeicher zu stapeln, sondern um Menschenleben zu retten. Um Norditalien und Spanien beistehen, Entwicklungsländer mit Hilfsgütern versorgen, oder Menschen in prekärer Beschäftigung vor Ansteckungen bewahren zu können. Damit die medialen Bilder vom behaglichen «Home Office» und den spielenden Kindern auf dem sonnigen Balkon für möglichst viele Menschen Wirklichkeit werden.
Diese Bedeutung und Natur des Wohlstandes — und seiner Wurzeln — zu vermitteln, bleibt der Auftrag liberaler Aufklärung. Immer wieder von neuem, denn auch Irrtümer sind resilient. Keine Frage: die Corona-Krise wird nun nicht unmittelbar den Siegeszug des Liberalismus einläuten. Im Gegenteil, voraussichtlich wird zunächst mit enormen Rettungs- und Konjunkturpaketen die Stunde des politischen Interventionismus schlagen. Und doch kann eine zeitlose Lehre aus dem «Privileg sozialer Distanz», aus den asymmetrischen Schäden und ungleich verteilten Opfern der aktuellen Pandemie gezogen werden. Eine Lehre über den ethischen Wert des Strebens nach Wohlstand. Über den moralischen Imperativ, eine Ordnung zu errichten, die Wachstum und Wohlstand keine Grenzen setzt, sondern sie entfesselt.
Christian Pieter Hoffmann ist Professor für Kommunikationsmanagement am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig und Mitglied des Akademischen Beirats des Liberalen Instituts.