Wie werden wir in 50 Jahren auf das Jahr 2020 zurückblicken? Wenn es nach dem bekannten israelischen Historiker und Bestsellerautor Yuval Noah Harari (u.a. «Sapiens», «Homo Deus») geht, könnte es sein, «dass im Jahr 2020 mithilfe der Digitalisierung die allgegenwärtige Überwachung durch den Staat begann». Das gilt — nebenbei bemerkt — natürlich nur für diejenigen, die die letzten Jahre so tief und fest unter einem Stein geschlafen haben, dass sie u.a. die Enthüllungen des NSA-Whistleblowers Edward Snowden nicht mitbekommen haben. Tatsächlich ist die staatliche Überwachung schon seit Jahren Realität. Doch durch Corona könnte der Überwachungsstaat sichtbar und spürbar werden. Und seine Krallen zeigen.
Freiwillige Unterwerfung
Hararis Aussage ist kein blinder Alarmismus. Es wäre naiv zu glauben, dass es gerade keine totalitäre Versuchung gibt. Nicht erst seit gestern blicken manche Staaten neidvoll nach China, welches dank Überwachung die Pandemie angeblich besser in den Griff bekommen hat. Hinzu kommt das Phänomen der «Shifting Baselines»: Freiheiten werden einem nicht auf einen Schlag genommen, man gibt sie eher stückweise ab. Die Grundfesten verschieben sich langsam, wie tektonische Platten.
Ich selbst weigerte mich eine zeitlang, an Flughäfen durch einen «Nacktscanner» zu gehen. Ich bestand auf einer manuellen Kontrolle und wurde von den leicht verärgerten Security-Mitarbeitern umgehend belehrt, dass es so etwas wie «Privatsphäre» hier nicht gäbe, schliesslich wolle ich ja fliegen. Es ging noch ohne, dauerte aber schon länger; weiteres Sicherheitspersonal wurde hinzugezogen; es gab Nachfragen, war komplizierter. «Nein» zum Nacktscanner zu sagen war mein Recht, aber der Nacktscanner machte eben alles einfacher. Wieso sollte man sich das Leben also schwer machen?
Der Überwachungsstaat von morgen wird (zunächst?) nicht offen repressiv vorgehen. Überwachung wird nicht als etwas erscheinen, wodurch einem etwas «weggenommen» würde, schon gar nicht an Privatsphäre. Im Gegenteil: man bekäme durch Überwachung ja ein Stück Normalität zurück. Warum sollte man sich in Zukunft also nicht transparenter machen «wollen», um eine Flugreise anzutreten? Einen Kongress oder eine Messe zu besuchen? Ein Geschäft zu betreten? Masken sind ein «Instrument der Freiheit», findet schon heute der bayerische Ministerpräsident Markus Söder. Der Neusprech ist bereits da.
Was kommt auf uns zu?
Wie der Überwachungsstaat von morgen genau aussehen könnte, wissen wir nicht. Noch ist nichts entschieden und Widerstand dagegen könnte noch einiges ändern. Das Ganze stellt sich auch nicht als bereits fertiger Gesamtplan dar, der nun einfach verordnet wird. Kennen sollte man jedoch eine Reihe von Einzelinitiativen, Stellungnahmen, Pilotprojekten von verschiedenen Akteuren, wie Stiftungen, Beratungsfirmen, grossen Techkonzernen, Regierungen und Institutionen wie dem World Economic Forum. Damit lässt sich ein nahendes Gesamtbild erahnen.
Welche Elemente könnte ein Yuval Noah Harari meinen, wenn er vom Anfang des Überwachungsstaates spricht?
- Das Gleichschritt-Szenario: Im Jahre 2010 veröffentlichte die Rockefeller Foundation eine Studie mit mehreren Zukunftsszenarien für die Zeit nach der Finanzkrise. Eines davon nennt sich (ab. S. 18) «Lock Step» (Gleichschritt) und beschreibt Massnahmen von Zwang und Überwachung nach chinesischem Vorbild für den Fall einer Influenza-Pandemie (welche sie für 2012 prognostizierten). Die Autoren loben ausdrücklich das Vorgehen Chinas in solch einer Krise («hermetische Abriegelung der Grenzen, Quarantänepflicht für alle Bürger»). Ausdrücklich schreiben Sie, wie Regierungen weltweit ihre Autorität spielen lassen («obligatorisches Tragen von Masken, Temperaturtests an Bahnhöfen und Geschäften»). Auch nach Abklingen der Pandemie würde ein Mehr an autoritärer Kontrolle und Aufsicht der Bürger bestehen bleiben; Einschränkungen von Freiheit und Privatheit würden die Bürgern jedoch im Austausch für mehr Sicherheit akzeptieren, z.B. in Form von biometrischen Ausweisen. Mehr dazu auf dem Blog des Journalisten Norbert Häring.
- ID 2020: Hierbei handelt es sich um eine Allianz von Konzernen, Stiftungen, Hilfsorganisationen und Regierungen (u.a. Microsoft, Accenture, Rockefeller-Stiftung, Hilfsorganisation CARE, Impfallianz GAVI) zur Schaffung einer zusätzlichen digitalen transnationalen Identität. In diese fliessen neben biometrischen Daten (Irisscan, Gesichtserkennung, Fingerabdrücke) auch persönliche Informationen, wie Ausbildungs- und Impfnachweise, Finanzstatus, Bewegungsdaten, Social Media-Konten). Daten aus sozialen Netzwerke erlauben schon jetzt gewaltige Rückschlüsse auf Präferenzen des Einzelnen, bis hin zum Persönlichkeitsprofil (auf der Seite www.applymagicsauce.com der Cambridge University kann man diesbezüglich einen Test machen). Die Identität von ID2020 soll dabei vom Bürger selbstverwaltet sein («self-sovereignty»), man gibt also jeweils nur soviel preis, wie man will (oder evtl. muss). Mit Bangladesch läuft ein Pilotprojekt zur Zusammenführung von Impfdaten und Identitätsnachweis. Da ID2020 auf die Blockchain-Technologie (von Hyperledger) setzt, sind die Einträge weder veränderbar, fälschbar noch löschbar, was nach jetzigem Stand mit den Datenschutzgesetzen in Europa kollidiert. Über die ethische Ausgestaltung von «Immunitätszertifikaten» im Rahmen des ID2020 Projekts gibt es ein Whitepaper.
- KTDI (Known Traveller Digital Identity): KTDI ist ein Projekt des Weltwirtschaftsforums (WEF), dem Verein der 1000 grössten Unternehmen der Welt, welches das Reisen vereinfachen soll. Auch hier geht es darum, eine Datenbank mit Daten über sich (biometrische Daten, Reiserouten, Hotelübernachtungen etc.) zu erstellen, die es dem Reisenden erlaubt, sich den Sicherheitsbehörden als «bekannter Reisender» auszuweisen und damit Passkontrollen schneller zu passieren. Der Bürger partizipiert also durch Datenfreigabe seinerseits am Prozess der Sicherheitsüberprüfung. Derzeit testen Kanada und die Niederlande dieses Konzept.
- Das Commons Projekt: Das Commons Projekt der Rockefeller Stiftung und mehrerer Partner (u.a. WEF) will Datenverarbeitung und Technologie für das Gemeinwohl einsetzen. Es bündelt einzelne Initiativen, wie einen Gesundheitspass mit Gesundheitsdaten (CommonHealth), einen Ausweis (CommonPass) und eine Covid-Tracing-App (CovidCheck). Damit entsteht eine Art private Weltpass- und Gesundheitsbehörde in privater Hand (mehr hierzu hier).
Der Great Reset als Hebel: womit nun zu rechnen ist
Viele dieser Einzelinitiativen könnten in einem Szenario des «Great Reset» (deutsch: « der grosse Umbruch») nützlich zusammenspielen. Damit ist die Beschreibung einer Welt nach Corona in einem kürzlich erschienenen Buch des WEF-Chairmans Klaus Schwab gemeint, welche auch auf dem nächsten Treffen des WEF im Mai 2021 in Luzern Hauptthema sein wird. Schon in seinem früheren Buch «Die vierte industrielle Revolution» wirbt Schwab für Vertrauen in Algorithmen und geht davon aus, dass Bedenken über den Schutz der Privatsphäre «Anpassungen brauchen werden».
Es gehört nicht viel Phantasie dazu zu sehen, dass in diesem Szenario des «Great Reset» das Thema Überwachung und Kontaktverfolgung prominent in den Vordergrund rücken wird. Seit den Veröffentlichungen Frank Schirrmachers («Payback»), Yvonne Hofstetters («Sie wissen alles»), Evgeny Morozovs und vieler anderer Kritiker, ganz zu schweigen von den Snowden-Enthüllungen, kann zudem niemand mehr behaupten, nicht zu wissen, in welchem Ausmass der Mensch heute bereits transparent geworden ist. Auch das Thema Bargeldeinschränkung, bzw. -abschaffung wird gerade von anderen Akteuren (wie der EZB) diskutiert.
Für Klaus Schwab wird es keine Rückkehr mehr zu einem Zustand «vor Corona» geben (ausdrücklich: «nie mehr»). Eine neue Zeitrechnung hat begonnen: vor Corona und nach Corona. Er spricht von einem «Entscheidungsmoment» («defining moment»), von einer Pandemie «biblischen Ausmasses» und einem «Krieg gegen einen unsichtbaren Gegner».
Der erste Satz seines Buches lautet wörtlich: «The worldwide crisis triggered by the coronavirus pandemic has no parallel in modern history.»
Wo stehen wir heute in alldem? Welche Optionen haben wir? Es könnte sein, dass wir in naher Zukunft erleben, dass aus Rechten wieder Privilegien werden. Wer in Zukunft reisen will, muss sich womöglich weitaus transparenter machen als bisher, bis hin zu einer möglichen Impfpflicht für Reisende. So wie die Maske schon ein Stück Freiheit (Söder) ist, wird Überwachung ebenfalls zu einem Stück Freiheit werden, denn diese nimmt einem in der Welt der «neuen Normalität» ja nichts mehr weg, sondern ermöglicht etwas. Freiwillige Unterwerfung wird mit Freiheit belohnt.
Es gibt kein Recht auf Gehorsam, meinte mal Hannah Arendt. Sicher. Aber es gibt eben auch eine Neigung des Menschen, sich an die gegebenen Umstände anzupassen.
Was tun? Der Bürger wird jetzt hochrüsten müssen, und zwar im Eiltempo, wenn er einen Rest seiner Privatsphäre retten will: private Kommunikation über PGP, sicheres Surfen über Tor Browser und VPN, Zahlungen über Bitcoin oder private Kryptowährungen. Doch auch das hilft nur begrenzt. Spätestens beim Reisen könnte es eine Zweiklassengesellschaft geben: die Gehorsamen, die dürfen; die Ungehorsamen, die zu Hause bleiben müssen.
Wie viele werden dann Widerstand leisten? Und wie viele werden, wie in «1984» von George Orwell, beginnen, Big Brother zu lieben?
Klar ist schon jetzt: wir befinden uns seit dem Auftreten von Corona in einem gross angelegten biopolitischen Sozialexperiment, welches der demokratischen Kontrolle weitgehend entzogen ist und das im Eiltempo zu einer Gesundheitsdiktatur führen kann.
Milosz Matuschek ist promovierter Jurist und Publizist. Er war mehrere Jahre NZZ-Kolumnist und ist Autor von sechs Büchern. Zuletzt erschien «Kryptopia» und «Generation Chillstand». Dieser Beitrag erschien zuerst in seiner Publikation: «Freischwebende Intelligenz». Zusammen mit Gunnar Kaiser hat er einen Appell für freie Debattenräume ins Leben gerufen, den bisher über 17’000 Menschen unterzeichnet haben.