Der US-amerikanische Rechtsphilosoph Lysander Spooner schrieb 1875: «Wenn eine Regierung Laster zu Verbrechen erklärt und sie als solche bestraft, versucht sie die wahre Natur der Dinge zu verfälschen.» Laster definiert Spooner als Handlungen, mit denen ein Mensch sich selbst oder seinem Eigentum schadet. Verbrechen hingegen seien Handlungen, mit denen ein Mensch einer anderen Person oder deren Eigentum schadet. Mit dieser fundamentalen Unterscheidung lässt sich der Cannabiskonsum leicht als Laster identifizieren.
Dennoch entschied sich jüngst eine Mehrheit der Schweizer Stimmbürger für die Aufrechterhaltung des Cannabisverbots und damit für die fortwährende Taxierung des Cannabiskonsums als Verbrechen. Damit haben viele Schweizer nicht nur verpasst, die eben genannte Unterscheidung zu treffen. Sie haben auch ihre Bereitschaft zur Schau getragen, sich in die friedlichen Angelegenheiten ihrer Mitmenschen einzumischen.
Um sich der problematischen Implikationen dieses Abstimmungsresultats bewusst zu werden, stelle man sich folgendes Szenario vor: Sie können von Ihrem Balkon aus sehen, dass auf dem Balkon eines Nachbarn einige Hanfpflanzen stehen. Ab und zu ist vor der Wohnungstüre auch ein eindeutiger Geruch wahrzunehmen. Daher kann davon ausgegangen werden, dass der Nachbar die Pflanzen auf seinem Balkon nicht nur aus ästhetischen Gründen kultiviert, sondern Teile von ihnen auch zu konsumieren und vielleicht auch zu verkaufen beabsichtigt. Davon abgesehen wurde der Nachbar noch nie auffällig.
Eines Tages bemerken Sie, dass die Wohnungstür dieses Nachbars aufgebrochen und sein Balkon geräumt wurde. Sie erfahren, dass er anonym angezeigt wurde und die Polizei sich Zugang zu dessen Wohnung verschafft hatte. Nach der Wohnungsdurchsuchung, bei der all seine Pflanzen, einige Gramm Drogen und eine Hanfpfeife konfisziert wurden, erhält er wegen Besitzes und Konsums von Cannabis eine Busse über mehrere hundert Franken.
Und nun stellen Sie sich folgende Frage: Hätten Sie gerne jemanden als Nachbarn, der bereit ist, eine Person, die mit ihrem Zeitvertreib nur sich selbst schadet, anonym anzuzeigen und dabei hinnimmt, dass diese Person gebüsst und ihr Privateigentum verletzt wird? Oder hätten Sie doch lieber den friedlichen Kiffer als Nachbarn?
In einer Studie des Bundesamtes für Statistik sagten 4,7 Prozent der Befragten, sie hätten 2002 Haschisch oder Marihuana konsumiert. Das bedeutet, dass in diesem Jahr mindestens 225’000 Personen kifften. Die Dunkelziffer dürfte jedoch wesentlich höher liegen. Auf der anderen Seite lehnten am 30. November 63 Prozent der Stimmbürger die Hanf-Initiative ab. Die Initiative forderte unter anderem die Legalisierung von Besitz, Anbau und Erwerb von Cannabis für den Eigenbedarf bei gleichzeitigem Werbeverbot. Es ist durchaus möglich, dass einige liberale Stimmbürger die Vorlage ablehnten, weil sie ihnen zu wenig weit ging. Sehr grosszügig geschätzt, wird dieser Teil der Initiativgegner jedoch wahrscheinlich nicht mehr als 10 Prozent aller Gegner ausmachen. Mit einiger Sicherheit kann also gesagt werden, dass mindestens 1’310’702 der 1’456’336 Nein-Stimmen ein vollständiges Verbot von Besitz, Anbau und Erwerb von Cannabis befürworten.
Damit haben am 30. November mindestens 1’310’702 Schweizerinnen und Schweizer staatliche Gewalt gegen friedliche Kiffer gutgeheissen. Das entspricht 1’310’702 anonymen Anzeigen im obigen Beispiel.
Diese Zahl ist weitaus höher als jene der 225’000 Personen, die den Cannabiskonsum gestehen. Die Minderheit der Kiffer mag in ihrer Freizeit ab und zu einen vernebelten Geist haben und der Allgemeinheit vielleicht vermehrt zur Last fallen. Im heutigen Gesundheitssystem, das jeden Bürger zu einer Grundversicherung zwingt, fallen wir aber irgendwie alle einander zur Last. Wer nicht kifft, hat bestimmt ein anderes Laster, sei es der Konsum legaler Drogen, ungesunde Ernährung oder Bewegungsmangel. Niemandem würde es wohl in den Sinn kommen, seinen dicken Nachbarn oder sein rauchendes Gegenüber anzuzeigen. Es ist darum die erschreckend grosse Gruppe von Initiativgegnern — deren rein tugendhafter Lebenswandel im übrigen keineswegs gewiss ist —, die an der Urne ihre getrübte Urteilsfähigkeit als Staatsbürger bewiesen haben.
Egal wie gross die Abneigung einiger Menschen gegen sie sein mag, Minderheitenschutz beginnt bei den Kiffern. Damit eine freie Gesellschaft bestehen kann, braucht es eine kritische Masse von freien Menschen, die die obige Unterscheidung von Lysander Spooner zwischen friedlichen Lastern und zu bestrafenden Verbrechen anwenden kann und will. Wer dies nicht tut, schadet nicht nur anderen Personen, sondern letztlich auch sich selbst.
(Der Autor kifft nicht und ihm ist auch keine Person aus seinem näheren Umfeld bekannt, die kifft.)
Publiziert in Schweizer Monatshefte