Zu sagen, dass die Marktwirtschaft einer im Kerne bürgerlichen Gesamtordnung zugeordnet ist, heisst gleichzeitig, dass sie eine Gesellschaft voraussetzt, die das Gegenteil einer proletarisierten Gesellschaft in dem weiten und prägnanten Sinne ist, […] und nicht minder das Gegenteil der Massengesellschaft. Unabhängigkeit, Eigentum, individuelle Reserven, natürliche Anker des Lebens, Sparen, Verantwortungsbewusstsein, vernünftige Lebensplanung, all das wird einer solchen proletarisierten Massengesellschaft fremd, ja widerwärtig und verächtlich.
Aber wir müssen anerkennen, dass eben dies die Voraussetzung einer Gesellschaft ist, die ihre Freiheit bewahren will. Der Augenblick ist gekommen, da wir unter
keinen Umständen mehr der Erkenntnis ausweichen können, dass hier die wahre Wasserscheide der Sozialphilosophien ist und unerbittlich eine Wahl von jedem einzelnen getroffen
werden muss, in dem Bewusstsein, dass zwischen Wegen zu wählen ist, die unversöhnlich und für das Schicksal unserer Gesellschaft schlechthin entscheidend sind.
Haben wir das erkannt, so kommt es darauf an, im einzelnen die Anwendung zu machen und auf jedem Felde die Folgerungen zu ziehen. Dabei werden wir bemerken, nicht ohne Erschrecken, wie weit wir alle bereits in die Denkgewohnheiten einer wesentlich unbürgerlichen Welt hinabgezogen sind. Dass das vor allem für die Nationalökonomen selber gilt, wird deutlich, wenn wir an ihre Neigung denken, sich arglos einem Denken in Geld- und Einkommensströmen hinzugeben und über der mathematischen Eleganz der heute beliebten makro-ökonomischen Analyse, über den Problemen der sich bewegenden Totalquanten, über den Verführungen grandioser
Projekte balanzierter volkswirtschaftlicher Dynamik, übe der Schwungkraft der Reklame oder des Konsumentenkredits, über den Vorzügen der „funktionellen“
Finanzpolitik oder über dem Fortschrittsglanz der Riesenunternehmungen die Frage zu unterlassen, was dabei aus den Werten und Einrichtungen der bürgerlichen Welt wird, für oder gegen die wir uns entscheiden müssen. So ist es denn auch überaus bezeichnend, dass Keynes, der dieser Neigung der Nationalökonomen den stärksten Anstoss
gegeben hat, durch seine ebenso banale wie zynische Bemerkung „In the long run, we are all dead“ Ruhm und Bewunderung hat ernten können, obwohl es niemandem hätte entgehen sollen, dass aus dieser Bemerkung derselbe entschieden unbürgerliche Geist spricht wie aus der Devise des Ancien Régime: „Après nous le déluge“. Sie verrät die durch und durch unbürgerliche Unbekümmertheit um das Morgen, die einen bestimmten Stil moderner Wirtschaftspolitik geprägt hat und uns verleitet, Schuldenmachen als eine Tugend und Sparen als bedenklich anzusehen.
Die Verständnislosigkeit, ja Feindseligkeit, mit der heute solche Betrachtungen in weitesten Kreisen aufgenommen zu werden pflegen, liefert einen neuen Beweis dafür, wie sehr der soziale Rationalismus in allen seinen Varianten und Ausstrahlungen bereits das Feld beherrscht und damit die Grundlage der Marktwirtschaft unterminiert. Eine dieser Ausstrahlungen ist das Ideal, in einem Minimum an Arbeitszeit ein Maximum an Geldeinkommen zu gewinnen, um dann — mehr und mehr unterstützt vom Borgkauf — in maximaler Konsumtion an den standardisierten Erzeugnissen unserer modernen Massenproduktion den Ausgleich zu finden. Indem so der Mensch zum Homo sapiens consumens reduziert wird, verschwindet aus dem Blickfelde alles, was ausser dem Geldeinkommen und seiner Umsetzung in Güter das Glück des Menschen bestimmt. Dazu rechnet vornehmlich zweierlei: zum ersten die Weise, wie die Menschen arbeiten, eine Weise, die darüber entscheidet, ob sie den in der Arbeit verbrachten Teil ihres Lebens rein auf die Passivseite ihrer Lebensbilanz setzen oder aus ihr einen Aktivwert zu gewinnen vermögen, und zum anderen die Art, wie sie ausserhalb der Arbeit wohnen, leben, denken, und an den natürlichen Formen der Existenz teilhaben.
Es ist aber eine unweise, den Menschen verkennende und sein Bild verzerrende Anthropologie, die uns blind macht gegen die Gefahr, dass bei aller materiellen Prosperität das Niveau des schlichten Glückes nicht steigt, ja sogar sinkt, weil es um die genannten beiden Grundbedingungen vitaler Befriedigung schlecht bestellt ist. Sie hindert uns auch, das wahre Wesen des Proletarismus und die echte Aufgabe der Sozialpolitik zu erkennen.
aus Wilhelm Röpke. Eigentum als Säule einer freien Gesellschaft, Sonderabdruck aus: Schweizer Monatshefte, Heft 6, 1957.