Beim nachfolgenden Text handelt es sich um die an der LI-Freiheitsfeier vom 5. Dezember 2023 gehaltene Rede der Röpke-Preisträgerin Prof. Dr. Suzette Sandoz. Die Rede wurde ursprünglich in Französisch formuliert und von Jean-Paul Vuilleumier ins Deutsche übersetzt.
1. Einleitung
Oktober 1995: Die Hektik des Wahlkampfs für die Nationalratswahlen ist auf dem Höhepunkt. Mir ist erst seit kurzem bewusst, dass der Liberalismus, für den ich mich als Waadtländer Liberale seit mehreren Jahren einsetze, von einem heimtückischen Übel bedroht wird: dem Neoliberalismus. Seit Wochen und Monaten liest man Tag für Tag in der Presse der Romandie die Anprangerung der schädlichen Folgen des Neoliberalismus, als dessen Urheber und Verfechter die Liberalen beschuldigt werden. Neoliberal ist ein «Schimpfwort»!
Es ist zu einer völligen Verwirrung zwischen zwei eindeutig unterschiedlichen Begriffen gekommen: dem Liberalismus, einer humanistischen politischen Philosophie, und der heute als Neoliberalismus dargestelten Wirtschaftstheorie und -praxis, die von der liberalen Marktwirtschaft abweicht. Diese Abweichung war – bereits 1995 – aufgrund dieser Verwirrung dabei, den politischen Liberalismus zu beseitigen. Etwa 10 Jahre später mit dem Verschwinden der liberalen Partei – ausser im Kanton Basel-Stadt – war der Liberalismus in der Schweiz fast vollständig beseitigt.
Wie lässt sich dieses Phänomen erklären? Um eine Antwort zu skizzieren, werde ich kurz darlegen, was man einerseits unter Liberalismus und andererseits unter Neoliberalismus (besonders in der Romandie) versteht, um herauszufinden, ob die beiden Begriffe miteinander vereinbar oder unvereinbar sind.
2. Der Liberalismus, ein politisches Denken
Politik ist die Kunst, das Leben in der Gesellschaft zu gestalten. Eine politische Philosophie sucht daher nach Wegen, um die beste «Verwaltung» der in der Gesellschaft lebenden Menschen zu gewährleisten, was zwei Voraussetzungen beinhaltet: eine Kenntnis des Menschen als menschliches Wesen und eine Kenntnis der Gesellschaft, in der er lebt. Ein politisches Denken sollte sowohl humanistisch als auch sozial sein.
Das liberale politische Denken ist grundsätzlich humanistisch, d. h. es baut auf dem Studium und der Kenntnis des Menschen und der Interaktionen zwischen den Menschen auf. Diese Interaktionen beziehen sich sowohl auf das Privatleben als auch auf das öffentliche Leben. Die liberale Politik, d. h. der Liberalismus, beruht auf der Achtung jedes einzelnen Menschen, weil alle Menschen trotz – oder besser noch «mit» – ihren Unterschieden gleichwertig sind.
Der Liberalismus ist eine realistische politische Doktrin. Er postuliert nicht, dass der Mensch von Natur aus gut ist, stellt jedoch auch fest, dass er nicht nur «böse» ist.
Der Liberalismus geht davon aus, dass der Mensch frei geboren wird, d. h. er ist in der Lage, sein Leben in der Umgebung, in der er sich befindet, selbst zu bestimmen. Diese Freiheit – die verantwortlich macht – ist zusammen mit der Verantwortung ein konstitutives Element der menschlichen Natur.
Mit dieser doppelten Bestätigung von Freiheit und Verantwortung vertritt der Liberalismus einen Humanismus, der vom christlichen Einfluss geprägt ist. Hinzu kommt noch der Begriff der Gleichheit. Auch dieser ist zutiefst christlichen Ursprungs, da es sich bei diesem Begriff um den Wert der Personen handelt. Dieser darf nicht mit der arithmetischen Gleichheit verwechselt werden, was ein wirtschaftlicher, marxistischer Begriff ist, der nur unter einem finanziellen und materialistischen Gesichtspunkt beurteilt wird .
Als politisches Denken befasst sich der Liberalismus mit allen Lebensbereichen, mit allem, was die menschlichen Beziehungen in der Gesellschaft betrifft. Die Wirtschaft ist Teil davon, und der Liberalismus wendet in ihr dieselben Prinzipien der Freiwilligkeit und Verantwortung an. Er steht für eine kapitalistische Wirtschaft mit freiem Markt und Wettbewerb, die sich jedoch ihrer sozialen Verantwortung bewusst ist. Die Wirtschaft ist kein Ziel an sich, sondern ein Mittel des gesellschaftlichen Lebens.
Das liberale politische Denken umfasst das gesamte menschliche Leben in der Gesellschaft; es bemüht sich, Missbrauch zu verhindern und die beste Entwicklung der Qualitäten jedes Einzelnen zu fördern. Hier berühren wir ein delikates Element des Liberalismus: die Rolle des Staates.
Es gibt Widersprüche zwischen den Anforderungen der individuellen Freiheit, der Freiheit einer Gruppe und der Freiheit in der Gesellschaft. Es ist die Aufgabe der Politik zu versuchen, diese Widersprüche auf die am wenigsten «ungerechte» Weise miteinander in Einklang zu bringen. Diese Vereinbarkeit zu erleichtern, ist der Daseinszweck des Staates.
Der Liberalismus lehnt den Staat nicht ab. Angesichts der menschlichen Unvollkommenheit betrachtet er ihn als notwendiges Übel. Ohne staatliche Organisation ist eine Gesellschaft der Willkür der Macht, der Gewalt und der natürlichen Ungleichheiten ausgeliefert. Der Staat muss daher für eine leichte Disziplin und ein gewisses Kräftegleichgewicht innerhalb der Gesellschaft sorgen, denn Anarchie ist nicht Freiheit, sondern eine Chance für den Stärkeren.
Der Staat wird aber durch fehlbare Menschen repräsentiert, obwohl sie gewählt sind! Diese Menschen sind daher immer versucht, ihre politische Macht zu missbrauchen. Der Liberalismus ist ständig auf der Suche nach einem politischen System, das es dem Staat ermöglicht, die Machtverhältnisse zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft zu schlichten, ohne jedoch die Menschen aus ihrer Verantwortung zu entlassen.
Der Liberalismus verteidigt dazu die Demokratie, die nationalstaatlichen Körperschaften und den Föderalismus.
Die Demokratie ist ein politisches System, das besser (oder weniger schlecht?) als viele andere Systeme in der Lage ist, dieses angestrebte Gleichgewicht zwischen Ordnung und Freiheit anzustreben. Dies setzt natürlich voraus, dass sich die Gesellschaft auf grundlegende Werte einigt, Werte, die dank der Familie, der Schule, der Erziehung, der Ausbildung und der Kultur vermittelt oder gelehrt werden.
Die direkte oder halbdirekte Demokratie nach Schweizer Vorbild ist eine Möglichkeit, ständig zu überprüfen, ob die staatlichen Regeln mit der Mentalität der Bevölkerung übereinstimmen. Eine «flüssige» Gesellschaft, wie die heutige bezeichnet wird, macht das demokratische Spiel sehr schwierig, da Veränderungen abrupt und kriegerisch sein können. Daher ist es nötig, in der Schule die Geschichte und die Funktionsweise der Institutionen sorgfältig zu unterrichten.
Beiläufig sei noch angemerkt, dass der Liberalismus nicht messianisch ist. Er verteidigt das Prinzip der Nationalstaaten nicht als Träger einer universellen Botschaft, sondern als dem Menschen angepasste Gemeinschaften, in denen man sich «zu Hause» fühlt, was Frieden bringt.
Der Liberalismus befürwortet daher keine Weltregierung, da in einer solchen Regierung die individuelle Verantwortung innerhalb einer zu grossen und zu vielfältigen Gemeinschaft völlig verwässert wird. Eine Weltregierung stützt ihre Autorität auf die Vereinheitlichung der «Untertanen». Darüber hinaus wird die Zentralgewalt zu mächtig.
Gibt es innerhalb eines Nationalstaates Gemeinschaften mit sehr unterschiedlichen Kulturen, befürwortet der Liberalismus eine föderalistische Struktur, die in der Lage ist, die Achtung der Unterschiede zu gewährleisten, und die die beste Garantie gegen Machtauswüchse ist. In der Schweiz ist der Liberalismus daher grundsätzlich föderalistisch.
3. Jetzt zum Neoliberalismus, diesem echten Schimpfwort in der Romandie
Der Neoliberalismus ist eine Wirtschaftsdoktrin. Er schafft den Staat nicht ab, sondern versucht, ihn auf eine Art Nebenrolle im Verhältnis zur Wirtschaft zu reduzieren.
Wenn der Neoliberalismus eine politische Doktrin wäre, müsste er sich mit mehr als nur der Wirtschaft beschäftigen. Darin liegt das zentrale Problem, denn der Neoliberalismus befasst sich mit dem Staat nur in Bezug auf die Wirtschaft und sieht den Menschen nur unter diesem Aspekt. Diese Einschränkung hat jedoch katastrophale Folgen, denn die Wirtschaft ist von totalitärer Natur und nicht von demokratischer Natur.
Die Demokratie ist ein relativ langsames politisches System, insbesondere wenn es sich um eine direkte oder halbdirekte Demokratie handelt. Sie strebt in erster Linie einen «Konsens» durch Konsultationen, Abstimmungen usw das Gleichgewicht der Kräfte an.
Die Wirtschaft hingegen braucht oft sehr schnelle Entscheidungen, eine Konzentration der Kräfte und sogar Geheimhaltung. Das ist verständlich, denn die Interessen sind nicht die gleichen wie in der Politik. Handelsgesellschaften sind zwar «demokratisch» organisiert, aber die Macht bleibt sehr konzentriert in den Händen des Verwaltungsrats. Je grösser ein Unternehmen desto weniger «demokratisch».
Der Vorteil der KMU besteht gerade darin, dass sie «familiäre» oder zumindest sehr «menschliche» und sogar «lokale» Dimensionen beibehalten. Die Entwicklung der grossen Märkte und die Notwendigkeit, in einer globalisierten und wettbewerbsintensiven Welt «seinen Platz zu finden», führen jedoch zur Vergrösserung von Unternehmen, Handelsgesellschaften, in denen die Entscheidungen immer mehr den «Mitgliedern» entgleiten und sich auf einige wenige Personen konzentrieren, während sie sich zwischen den Ländern, in denen Tochtergesellschaften entstehen und wachsen, verkompliziert und weiterentwickelt usw.
Die Grösse und Funktionsweise dieser vielgestaltigen Gesellschaften setzt die Existenz einer Zentralmacht voraus, die umso stärker ist, je mehr die Aktivitäten in Staaten mit unterschiedlicher Kultur, Tradition und Gesetzgebung stattfinden. Damit solch riesige Organisationen funktionieren, bedarf es einer straffen Organisation mit starken Köpfen, die durch konkurrenzfähige Gehälter «schlagkräftige» Leute anzieht. Kurzum, es ist eine Spirale der Entmenschlichung, des Finanzwesens um seiner selbst willen und der Macht.
Die menschliche Natur widersteht nur selten der Gier nach Profit oder der Versuchung, der Stärkste zu sein und Macht auszuüben. In der Wirtschaft geht es um Macht durch Geld und durch die Abhängigkeit der Verbraucher. Mit der Globalisierung sind alle Zutaten vorhanden, um diese menschliche Schwäche zu fördern. Die Wirtschaft wird zum Ziel und Mittel der Macht, deren Grossartigkeit sich keinen Deut um die nationale Ebene schert.
Die Abschaffung von Grenzen, die Vereinheitlichung von Regeln – unabhängig von den menschlichen Gesellschaften, für die sie gelten sollen – erfordern eine unbestrittene starke Macht auf internationaler Ebene.
Die «Bürger» der Staaten werden nur noch als Konsumenten gesehen, die der Abhängigkeit von Werbung unterworfen sind. Auf die internationale Arena losgelassen, wird die Wirtschaft zu ihrem eigenen Zweck, während sie, solange sie «national» bleibt, ihre wesentliche soziale Rolle beibehalten kann.
Die globalisierte Wirtschaft bietet einigen ihrer Kapitäne eine finanzielle Macht, die der von Staatschefs entspricht oder diese sogar übertrifft. Wie und warum sollte man sich in dieser oder jener «nationalen Niederlassung» noch um menschliche und soziale Fragen kümmern, wenn man mit den Grossen dieser Welt auf Augenhöhe verhandelt? Man sieht nur noch die Wirtschaft und glaubt, dass sie ein politisches System darstellt, das Legitimität verleiht, weil es Wohlstand produziert.
Und letztlich sind die Bürger aller Staaten nur Konsumenten, deren Bedürfnisse man mithilfe von Werbung erzeugen kann, die durch die Globalisierung und die heutigen technischen Mittel immer effizienter und manchmal geradezu trügerisch wird. Der unselige Mechanismus ist in Gang gesetzt. Das «politische Denken» ist nur noch ein oligarchisches Denken zugunsten der «Wirtschaftgrössten».
Es gibt nichts mehr «Liberales» im dieser Weltwirtschaft, aber da sich diese ursprünglich in vom Liberalismus beeinflussten, demokratischen Ländern entwickelt hat, beeilen sich die Kritiker des liberalen Denkens, diese entmenschlichte Wirtschaft als «Neoliberalismus» zu bezeichnen, obwohl sie kein politisches Denken ist. Sie ist einfach eine Neo-Wirtschaft. Doch genau da lauert eine neue Gefahr.
Immer häufiger hört man Stimmen, die für eine «Global Governance» plädieren, um – so heisst es – besser gegen Missbräuche vorgehen zu können, ungerechtfertigte wirtschaftliche Unterschiede und unfairen Wettbewerb zu beseitigen und eine Art globale wirtschaftliche Gleichheit zu gewährleisten.
Für eine «Global Governance» ist die Demokratie nicht realisierbar. «Global Governance» ist natürlich nur durch eine Art Gleichschaltung des Geistes und die Vernichtung des kritischen Geistes möglich, was auf tückische Weise durch die Entwicklung der Digitalisierung gewährleistet wird. Die galoppierende Digitalisierung, die immer mehr durchgesetzt wird, fördert die Ausgrenzung des «widerstandsfähigen» Teils der Bevölkerung. Die «Widerständler» werden wahrscheinlich schnell aus der Gesellschaft verbannt und dann wie der Rest überwacht.
Eine gute «Global Governance» verspricht, über jeden Einzelnen zu wachen, den sie von den bescheidensten Aufgaben und den grundlegenden Sorgen entlasten wird, und weiss diejenigen fernzuhalten, die ihren kritischen Geist ausüben möchten, um die auferlegten offiziellen Schutzmassnahmen in Frage zu stellen und das Recht zu verteidigen, als freie, verantwortliche Bürger zu denken und zu handeln.
Dieser Neoliberalismus will den Völkern Komfort bieten, im Austausch für ihre Freiheit und ihre Verantwortung, das heisst ihre Würde. Und obendrauf eine gehörige Portion jammernder Moral, die in den Menschen ein lähmendes Schuldgefühl und vielleicht die Gewohnheit weckt, um «etwas Gutes zu tun», diejenigen zu denunzieren, die sich nicht an die Vorgaben halten.
4. Zum Schluss
Dieser Neoliberalismus beansprucht, die Welt mit der Wirtschaft zu regieren, als einziges Kriterium für Glück. Er reduziert die Politik auf die Wirtschaft, degradiert die Bürger zu blossen Konsumenten und die Staaten zu Vollstreckern von Überwachungsregeln.
Dieser Neoliberalismus ist keine liberale Wirtschaft, weil seine Verfechter nach Macht streben, während die besten Akteure einer liberalen Wirtschaft, die vom Liberalismus vertreten wird, neben Unternehmergeist auch die Vorstellung eines Dienstes zu Gunsten der sozialen Gemeinschaft haben, für die sie zu Recht «ihre soziale Verantwortung als Unternehmen» wahrnehmen können und wollen.
Die Titelfrage ist «Hat der Neoliberalismus den Liberalismus beseitigt?». Die Antwort ist «fast». Dieser Neoliberalismus, der das pure Gegenteil des Liberalismus ist, will die Welt beherrschen: er stellt den Menschen in den Dienst der Wirtschaft und nicht die Wirtschaft in den Dienst des Menschen. Mehr denn je brauchen wir den Liberalismus, dieses humanistisch-soziale, politische Denken, das eine liberale Wirtschaft einschliesst und dessen gesamte Anliegen auf den freien und verantwortungsbewussten Menschen gerichtet ist. Dieser Liberalismus nur ist in der Lage, Risiken zu übernehmen und den bevormundenden Protektionismus eines «Neoliberalismus» im Dienste der Wirtschaft, der Technik und einer verantwortungslosen Globalisierung zu überwinden.