Für viele Beobachter kam der Beschluss Grossbritanniens, aus der EU auszutreten, völlig überraschend. In der Tat stellt der Austritt aus der EU eine Zäsur auf dem Pfad in Richtung immer noch mehr politische Zentralisierung und engerer Union dar, die in den Massenmedien und den europäischen Behörden häufig als «alternativlos» dargestellt werden. Offen bleibt die Frage, ob sich ein künftig von den EU-Bürokratiefesseln unabhängiges Grossbritannien zu einem freieren und offeneren Land entwickelt oder ob Staatsinterventionen und Regulierungen auf nationaler Ebene diese Chance zunichtemachen. Auch die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten prognostizierten nur wenige. Während die einen darin einen sich abzeichnenden globalen Aufstand der Massen gegen die Eliten erkennen, deuten andere die Wahl als ein Zeichen für das Aufkommen eines bedrohlichen Wirtschaftsnationalismus, der die Welt unsicherer mache. Werden diese Entwicklungen zu mehr Freiheit und zu einem intensiveren Wettbewerb der Systeme führen? Oder bergen sie eher die Gefahr nationaler Abschottung und aufblühender Konflikte? Mit diesen Fragen setzten sich die Teilnehmer der LI-Konferenz vom 26. April intensiv auseinander. Der Anlass fand in Zusammenarbeit mit der paneuropäischen Free Market Road Show statt.
In seiner Einführung merkte LI-Direktor Pierre Bessard an, dass die Schweiz trotz — oder eben gerade wegen — ihrer Nicht-Mitgliedschaft in der Europäischen Union seit Jahren in den WEF- oder IMD-Rankings als eines der wettbewerbsfähigsten Länder gelte, wenn nicht gar als das wettbewerbsfähigste Land überhaupt. Entscheidend für ihren Erfolg sei vielmehr der Grad ihrer Wirtschaftsfreiheit und Offenheit. Die Globalisierung sei gerade für die weniger wohlhabenden Menschen in der Gesellschaft von besonderem Vorteil, da sie ihre Kaufkraft und Wahlfreiheit als Konsumenten erhöhe. Anstatt von «Globalisierungsverlierern» sollte man vielmehr von «Regulierungs- und Besteuerungsverlierern» sprechen, die durch unflexible Arbeitsmärkte, Protektionismus und eine übermässige Steuerlast zurückgebunden werden. Zweifelsohne bestünden aber in Bezug auf den Austritt Grossbritanniens aus der EU grosse Unsicherheiten. Zwar werde in Grossbritannien aktuell laut über eine globale Handelsstrategie nachgedacht, doch Grossbritannien habe nicht nur eine grossartige liberale Tradition, sondern mit Labour und der Fabian Society auch eine verhängnisvoll einflussreiche sozialistische Tradition, die im letzten Jahrhundert das Land zum kranken Mann Europas und IWF-Fall gemacht hatte. Auch in Bezug auf andere Länder sei es durchaus fraglich, ob die aufflammenden Anti-Establishment-Proteste zu mehr Freiheit führen werden, zumal vielerorts weiterhin ein kaum in Frage gestellter sozialistischer Gerechtigkeitsbegriff dominiere, der Anspruchsrechte vor individuelle Abwehrrechte stelle.
In einer Begrüssung erinnerte Barbara Kolm, Direktorin des Austrian Economics Center in Wien, das die Free Market Road Show dieses Jahr an 45 Orten mitträgt, an die notwendige Zurückhaltung bei Prognosen über die Zukunft. Dennoch hätten sich viele der Annahmen bestätigt, und es gelte nun, das Wesentliche zu verteidigen. Beim Freihandel sei es wie mit der Freiheit: Man wisse erst, was man habe, wenn man es verloren habe. Da seien frühzeitige Diskussionen auf der Basis von Fakten von entscheidender Bedeutung. Die Schweiz möge hier auch in Zukunft die Fackel der Freiheit hochhalten und damit anderen als Vorbild dienen.
In einem ersten Referat ging Dagmar Schulze Heuling vom Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn auf sogenannte «populistische Bewegungen» ein, die sich gegen das interventionistische und illiberale politische Establishment auflehnen. Es stelle sich die Frage, ob der Feind des Feindes automatisch ein Freund sein müsse. Unter Liberalen gäbe es zwei verschiedene Beurteilungen. Die einen seien optimistisch und sehen den Brexit und weitere Austrittsdrohungen der EU-Mitgliedsländer als förderlich für die liberale Sache, zumal sich dadurch gegenüber der Überregulierung und Zentralisierung der EU eine Verbesserung auf nationaler Ebene erzielen lassen könnte. Andere seien kritisch, weil es sich bei den meisten populistischen Bewegungen nicht um liberale Gruppierungen handle, sondern um Bewegungen, die auf eine geschlossene Gesellschaft abzielten. Schulze Heuling ist der Ansicht, dass sich die Freiheit nicht durchzusetzen vermag, weil diese Anti-Establishment-Bewegungen Ansprüche an den Staat stellten auf Basis ihres illiberalen Gerechtigkeitsverständnisses. So verstünden diese Bewegungen unter Tauschgerechtigkeit nicht etwa die auf dem freien Markt zustande gekommenen Löhne, Preise und Mieten, obwohl diese aufgrund von freiwillig eingegangenen Verträgen entstehen und daher aus Sicht aller beteiligten Parteien von Vorteil sind. Vielmehr lehne man «Dumpingpreise» und «ausbeuterische Löhne» ab, fordere «bezahlbare Mieten» und rufe nach protektionistischen Höchst- und Mindestpreisen, die angeblich objektiv bestimmt und anschliessend mit staatlicher Gewalt durchgesetzt werden könnten. Dasselbe könne in Bezug auf die Verteilungsgerechtigkeit behauptet werden: Nicht die Verteilung aufgrund freier Entscheidungen von freien Menschen sei aus Sicht dieser Bewegungen gerecht, sondern jene, die der (Wohlfahrts-)Staat definiert. Die Forderungen der Gruppierungen, die gegen das politische Establishment kämpfen, unterschieden sich damit nicht sonderlich von den etatistischen etablierten Parteien. Dies mache solche Bewegungen nicht gefährlicher als das politische Establishment, aber auch nicht besser.
In seinen Aufführungen ging Prinz Michael von und zu Liechtenstein, Gründer und Vorsitzender der Geopolitical Intelligence Services AG und Präsident der European Centre of Austrian Economics Foundation, auf die Zukunft der freihändlerischen Globalisierung ein. Die Erfahrungen der letzten 30 bis 40 Jahre hätten gezeigt, dass der u.a. von der WTO geförderte kanalisierte Freihandel viele Menschen aus der Armut herausgeholt habe. Dieser erhöhte internationale Wettbewerb habe zu Innovation und Fortschritt geführt. Ausserdem würden Länder durch den Austausch von Güter, Kapital und Technologien abhängiger voneinander, was die Welt tendenziell befriede. Der Freihandel bringe aber auch Veränderungen mit sich, vor dem sich gewisse Leute fürchten, was Demagogen in der Politik ausnutzen. So seien etwa Arbeitsplätze in Billiglohnländer abgewandert, ohne dass dies zu mehr Arbeitslosigkeit geführt hätte — im Gegenteil. Die globale Arbeitsteilung fördere vielmehr die Produktivität, die Qualität und die Innovation. Problematisch seien hingegen der Protektionismus und die Inflexibilität der Gewerkschaften, die zur Abschottung vom Wettbewerb und damit zum Niedergang der betroffenen Branchen führten. Die Automatisierung gewisser Produktionsprozesse durch Roboter könnte zudem einige dieser Arbeitsplätze wieder zurück in die Hochlohnländer holen. Für die Konsumenten sei der Freihandel eine klare Erfolgsgeschichte. Sollten die USA die Einfuhr von Waren aus Mexiko verteuern, würden die amerikanischen Bürger darunter leiden. Nicht anders verhalte es sich bei der Einwanderung, wenn die Wirtschaft weitere Arbeitskräfte benötigt. Allzu oft würden internationale Zusammenhänge missbräuchlich als Nullsummenspiel angesehen, was zu Spannungen und Extremismus führe. Allerdings seien die Gefahren, die von Trump und dem Brexit dennoch ausgingen, wesentlich geringer als jene, die von einer globalen Regulierungsgleichschaltung und Harmonisierungswut in Richtung Welt-Planwirtschaft stammten. Der institutionelle Wettbewerb und die Vielfalt zwischen den Staaten seien ebenso wichtig wie der Abbau von Handelshemmnissen. Schliesslich müsse auch zwischen politischer Rhetorik, Regierungsabsichten und tatsächlichen Umsetzungen unterschieden werden.
In der anschliessenden Diskussion wurde das Risiko, dass die Welt in den kommenden Jahren in Chaos versinken und die Lebensqualität der Menschen drastisch fallen würden, eher als gering eingeschätzt — auch aufgrund anstehender potenzieller technologischer Fortschritte, welche die Wohlstandsniveaus wesentlich beeinflussen könnten. Jedoch dürften sich die überteuerten und fehlkonzipierten Wohlfahrtsstaaten des Westens, die heute lediglich aufgrund einer ultraexpansiven Geldpolitik finanziert werden können, nicht mehr allzu lange halten. Um international wettbewerbsfähig zu bleiben, könnten sich westliche Länder diese gravierenden Eingriffe in produktive Prozesse, die zur Finanzierung überdimensionierter Sozialstaaten nötig sind, nicht mehr lange leisten. Offen bleibt, ob Präsident Trump nicht doch vielleicht eine liberalere Politik in den USA herbeiführen könnte, zumal er für jedes neue Gesetz zwei bestehende aufheben möchte und auch schon die Budgets für diverse Behörden gestrichen hatte. Auch Präsident Reagan oder Premierministerin Thatcher seien zu Beginn sehr negativ beurteilt worden und hätten dann aber doch viel für die liberale Sache geleistet. Es wurde davor gewarnt, bereits jetzt das Kind mit dem Bad auszuschütten, sondern zunächst einmal abzuwarten, wohin die Reise gehen wird.