War man in den letzten Jahrzehnten wie selbstverständlich davon ausgegangen, die westlichen Länder seien gefestigte offene Gesellschaften, die sich durch einen prinzipiellen Schutz von individuellen Abwehrrechten auszeichnen, gilt es diesen Irrtum wohl zu korrigieren. Im Eilzugstempo wird die liberale Demokratie unter dem Deckmantel des Schutzes vor Krankheitswellen, Klimaveränderungen und Diskriminierung rasch zu einem repressiven Verbots-, Kontroll- und Überwachungsstaat umgebaut.
Stand unsere Gesellschaft also gar nie auf der stabilen Grundlage der allgemeinen Überzeugung, dass das Individuum Vorrang vor dem Kollektiv hat? Wie konnte der Rechtsstaat so einfach weggespült und in den Dienst der Mächtigen gestellt werden? Veranlassen uns diese neuen Entwicklungen, unsere Vorstellung von Liberalismus zu korrigieren? Diese Fragen kamen an der LI-Freiheitsfeier vom 5. Dezember 2023 zur Sprache.
In seiner Einführung stellte LI-Direktor Olivier Kessler die verschiedenen Liberalismus Ausrichtungen wie den Ordoliberalismus, Neoliberalismus, klassischen Liberalismus und den Libertarismus kurz vor. Die Vertreter dieser unterschiedlichen Stossrichtungen würden sich manchmal mit harten Bandagen bekämpfen. Dennoch gebe es einige Grundprinzpien, denen Liberale aller Couleur zustimmen würden. Diese seien die folgenden:
- Im Zweifel für die Freiheit: Vor die Wahl gestellt, wählen Liberale immer die individuelle Freiheit als obersten politischen Wert.
- Vorrang des Individuums vor dem Kollektiv: Liberale sind davon überzeugt, dass jeder Einzelne selbst am besten weiss, was gut für ihn ist. Wenn alle ihre Entscheidungen für sich selbst treffen können, sind alle zufriedener, worauf auch die Gesellschaft als Ganzes glücklicher wird.
- Zwang minimieren: Zwischenmenschlicher Zwang gilt Liberalen als Übel und muss auf ein absolutes Niveau reduziert werden, damit Menschen als Zweck per se behandelt werden und nicht zu einem unfreiwilligen Mittel zum Zweck verkommen.
- Toleranz: Liberale glauben nicht, dass wir das Handeln anderer Menschen politisch verbieten sollten, nur weil wir diese Handlungen persönlich ablehnen (obwohl dabei keine Eigentumsrechte zu schaden kommen). Es geht um das wichtige Prinzip «leben und leben lassen», wozu auch das Einstehen für die Meinungsäusserungsfreiheit gehört
- Spontane Ordnung: Liberale sind der Überzeugung, dass sich die komplexen gesellschaftlichen Institutionen grösstenteils ungeplant entwickelt haben. Sie sind das Ergebnis des Handelns von Millionen von Individuen, nicht eines staatlichen Plans. Die spontane Ordnung ist das Gegenstück zur zentralen Planung.
- Schutz des Privateigentums: Der Schutz des Privateigentums ist für Liberale ein zentrales Menschenrecht. Dazu zählt der Schutz des Körpers, des Lebens, aber auch der rechtmässig erwirtschafteten Güter. Mit diesen darf jeder tun und lassen was er will, solange er damit Leib, Leben und Eigentum anderer Menschen nicht gefährdet. Man darf sie z.B. verkaufen, verschenken und vermieten, woraus sich dann freie Märkte ergeben.
- Wertschätzung der Zivilgesellschaft: Liberale sind davon überzeugt, dass freiwillige Kooperation für alle Seiten vorteilhaft ist. Sie schätzen daher zivilgesellschaftliche Einrichtungen wie etwa den freien Markt, Vereine, Religionsgemeinschaften und andere freiwillige Zusammenschlüsse und Organisationen.
In seinem Gastreferat wies Prof. Dr. Thorsten Polleit, Honorarprofessor an der Universität Bayreuth, Präsident des Ludwig von Mises Instituts Deutschland und Mitglied im Akademischen Beirat des Liberalen Instituts, darauf hin, dass der Staat nur eine Richtung kenne, wenn er einmal errichtet worden sei: nämlich die der Expansion. Keine Verfassung habe es bislang geschafft, die Macht des staatlichen Leviathans auf Dauer zu beschränken. Polleit warnte daher vor einem fatalen Denkfehler derjenigen, die meinen, der Staat sei eine unverzichtbare Instanz zum Schutz der Freiheit. Man müsse bedenken, dass sich jeder Minimalstaat über kurz oder lang in einen Maximalstaat verwandle und dann zum grössten Gefährder der Freiheit mutiere. Es gelte sich daher mit dem Libertarismus auseinanderzusetzen, weil sich diese liberale Denkrichtung der Tatsache der Machtkorrumption bewusst sei und kongruentere Lösungen anbiete. Hier kann die ganze Rede von Thorsten Polleit als Podcast angehört werden.
Im zweiten Teil des Abends fand die Verleihung des Röpke-Preises für Zivilgesellschaft statt. Das Liberale Institut verlieh den Preis bereits zum 14. Mal. Die Idee hinter dem Preis hat natürlich mit Wilhelm Röpke zu tun, einem Ökonomen von besonderer Bedeutung für Europa aber auch für die Schweiz. Röpke lehrte 30 Jahre lang in Genf und übte durch seine regelmässigen Kolumnen unter anderem in der NZZ und auch durch seine zahlreichen Buchpublikationen einen wesentlichen Einfluss auf die öffentliche Meinung in der Schweiz aus. Mit dem Preis zeichnet das Liberale Institut jeweils eine Leistung und eine Haltung aus, die mit den Anliegen sowohl des grossen Ökonomen als auch des Instituts übereinstimmen.
Das Liberale Institut verlieh den diesjährigen Röpke-Preis für Zivilgesellschaft an Prof. Dr. Suzette Sandoz, erste Ordentliche Professorin der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Lausanne sowie alt Nationalrätin des Kantons Waadt, für ihren langjährigen und unerschrockenen Einsatz für die liberale Sache im etatistischen Meinungsklima. Schon während ihres Studiums in den 1960er-Jahren engagierte sie sich gegen den Sozialismus und gründete eine antikommunistische Hochschulzeitschrift. 1962 reiste sie etwa an das kommunistische Weltjugendtreffen in Helsinki, um vor Ort antikommunistische Flyer zu verteilen. Dies ist nur eine von vielen Anekdoten, welche die Entschlossenheit und den Mut dieser ganz besonderen Frau andeutet. Es sind Konstanten, die sich bis zum heutigen Tag durchgezogen haben.
Die Laudatio wurde von Stiftungsrat Prof. Dr. Michael Esfeld gehalten, der in den letzten Jahren von seiner Wirkungsstätte an der Universität Lausanne aus viel mit Suzette Sandoz zu tun gehabt hatte. Er berichtete von ihrem mutigen und leidenschaftlichen Einstehen für freiheitliche Werte und erläuterte wichtige Stationen ihres Werdegangs. Im Namen des ganzen Stiftungsrates zollte er ihr grosse Anerkennung für ihr standfestes Wirken im Dienste des Liberalismus. Suzette Sandoz ist ihren Standpunkten stets treu geblieben, auch wenn das öffentliche Meinungsklima derweilen um 180 Grad gedreht haben mag.
In ihrer Preisträger-Rede (die es hier nachzulesen gibt) ging Prof. Dr. Suzette Sandoz der Frage nach, ob der klassische Liberalismus vom Neoliberalismus verdrängt worden sei. Sie konstatierte: «Fast». Den Neoliberalismus definierte sie dabei als eine von der humanistischen Philosophie des Liberalismus abweichende ökonomische Theorie und Praxis, die sich ausschliesslich auf das Ökonomische stütze. Diese Perversion führe dazu, dass die Wirtschaft in einem neoliberalen System nicht mehr für die Menschen da sei, wie es die klassisch liberale Philosohphie vorsehe, sondern dass die Menschen für die Wirtschaft da seien, als reine Ressourcen, die man maximal nutzbar machen könne, ohne dabei die sozialen Aspekte im Auge zu behehalten.
Die diesjährige LI-Freiheitsfeier bot Anhängern aller liberaler Stossrichtungen reichlich Denkanstösse und Diskussionsstoff. Dies kam auch beim anschliessenden Apéro zum Ausdruck, wo die Themen bei guter Stimmung und Wohlwollen für die jeweils anderen Positionen eingängig weiterbesprochen wurden. Der wichtige Wettbewerb der Ideen wurde beim Liberalen Institut ein weiteres Mal gefördert und gelebt, was die Teilnehmer angesichts der zunehmend einengenden Cancel Culture zu schätzen wussten. Von diesem wichtigen liberalen Prinzip der Meinungsäusserungsfreiheit wird das Liberale Institut auch in Zukunft nicht abweichen.