Die folgenden Betrachtungen beziehen sich auf die wirtschafts- und ordnungspolitischen Vorstellungen von Eliten, deren ethische Grundlagen aus den Werten des Buddhismus, Hinduismus, Shintoismus, Taoismus und Konfuzianismus genährt werden. Dabei ist selbstverständlich der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die Begriffe, die in der westlichen Debatte gängig sind, im asiatischen Kontext nicht denselben Bedeutungsgehalt haben können, allein schon wegen der Tatsache, dass ein in mancher Hinsicht völlig verschiedener geschichtlicher Hintergrund zu berücksichtigen ist. Der Kapitalismus, wie er in der klassischen Wirtschaftslehre verstanden wird, ist in der westlichen Zivilisation entstanden und ist von den asiatischen Gesellschaften erst in seiner fortgeschrittenen Entwicklung übernommen worden. Dieser Sachverhalt hat sich allein schon daraus ergeben, dass die asiatischen Zivilisationen zur Zeit, als in Europa der Kapitalismus während der industriellen Revolution einen für das 20. Jahrhundert massgeblichen Entwicklungsschritt vollzogen hatte, die europäische Kolonialherrschaft in Asien einen wichtigen Einfluss ausübte.
Keine Dogmatik der asiatischen Religionen
Im markanten Gegensatz zu den monotheistischen Religionen des Westens beziehungsweise des Vorderen Orients, zu denen in unserem Kontext neben dem Christentum und dem Judentum auch der Islam gezählt wird, kennen die in Asien entstandenen Religionen keine Dogmatik und keine rigiden Hierarchien. Es gibt im Hinduismus keine mit dem Papst vergleichbare Autorität, der Shintoismus oder der Buddhismus kennen keine Heilige Schrift, wie die Bibel oder der Koran, die/der allgemein verbindlich interpretiert und bis ins tägliche Verhalten strikt befolgt werden muss. Im Gegensatz insbesondere zum Christentum und Islam kennen die asiatischen Religionen auch nicht die Bekehrung von Andersgläubigen. Sie zeichnen sich vielmehr durch einen sehr hohen Grad an Toleranz und Pragmatik aus, die beispielsweise im Falle Japans so weit gehen können, dass Menschen gleich zwei Religionen haben — den Shintoismus für die schönen Wegmarken im Leben, Geburt, Heranwachsen und Heirat, den Buddhismus für die Todesriten, Bestattung und die Metaphysik. Der Konfuzianismus und in einem grossen Masse auch der Taoismus sind zudem keine eigentlichen Religionen, sondern Weisheitslehren, die zum richtigen Leben und zum richtigen Verhalten in der Gesellschaft Anleitungen geben.
Anpassungsfähigkeit des Shintoismus
Einen besonderen Ausweis der Pragmatik asiatischer Religionen liefert die neuzeitliche Entwicklung Japans. Die Meiji Restauration, durch die das Land der aufgehenden Sonne im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in kürzester Zeit in die Moderne katapultiert wurde, zeigt die Adaptionsfähigkeit des Shintoismus, der gerade in jener Zeit auch zur Staatsreligion wurde, mit exemplarischer Deutlichkeit. Die japanische Gesellschaft verkraftete innerhalb einer Generation den Sprung vom mittelalterlichen Feudalismus der Schoguns in eine moderne Industriegesellschaft, welche bereits bei der Jahrhundertwende die westlichen Industrienationen wirtschaftlich, technologisch und militärisch erfolgreich herauszufordern vermochte. Es gab in dieser rasanten Entwicklung, die Japan vom Rechtswesen über die Industrie bis zur Erziehung und zu gesellschaftlichen Werten westliche Vorbilder übernehmen sah, keinen religiös motivierten Widerstand. Man denke aus aktuellem Anlass daran, welche enormen Modernisierungsschwierigkeiten die islamische Welt heute hat. Aufschlussreich ist im japanischen Kontext aber auch, dass die kulturelle Identität von dieser umfassenden Verwestlichung überhaupt nicht berührt wurde. In seiner Seele blieb Nippon sich selber treu. Ordnungspolitisch hatte dies denn auch zur Folge, dass die Entwicklung des Kapitalismus in Japan einen eigenständigen, japanischen Weg nahm, der erst am Ende des 20. Jahrhunderts im Rahmen der Globalisierung von Kapitalströmen einige, wenn auch weiterhin sekundäre Modifikationen erfahren sollte.
In Abwesenheit der Kanzelpredigt, in Abwesenheit einer systematischen Theologie und in Abwesenheit einer vom Zeitgeist beeinflussten Exegese verbindlicher religiöser Texte gibt es in Asien keine Stellungnahme religiöser Autoritäten zu aktuellen gesellschaftspolitischen Themen. Der Konfuzianismus hat vor rund 2500 Jahren die Regeln, d.h. Pflichten für das Zusammenleben der Menschen im Familienverband und im Staate ein für allemal festgelegt. Es gibt keine konfuzianische Autorität, die beispielsweise zur Einkindpolitik, die vor rund dreissig Jahren in der Volksrepublik China eingeführt worden war, Stellung genommen hätte, obschon diese Politik sich auf ein zentrales Element der konfuzianischen Ethik bezieht. Im Hinduismus gibt es vier Hohepriester, denen eine gewisse, wenn auch sehr laxe Autorität bei der Auslegung der Prinzipien des Hinduismus zusteht. Es sind von diesen Instanzen indessen keine Stellungnahmen zum Beispiel zur Umweltpolitik oder verbindliche Aussagen zu Veränderungen im sozialen und privaten Verhalten der Menschen (beispielsweise gleichgeschlechtliche Ehe) zu erwarten. Es ist ihnen eine solche Funktion auch nie zugekommen. Im wesentlichen beschränkt sich in den asiatischen Religionen die Interaktion des Gläubigen mit seinem Bekenntnis auf Rituale und allenfalls private priesterliche Ratschläge, die in der chinesischen Welt oft auch den Charakter des Orakels
haben können.
Geringschätzung der Wirtschaft
Will man unter diesen Voraussetzungen die Bedeutung der asiatischen Religionen für die Entwicklung des Kapitalismus im zeitgenössischen Asien oder gar ihren Einfluss auf aktuelle wirtschafts- und ordnungspolitische Debatten ermitteln, so muss man ganz anders als in den westlichen Industriestaaten vorgehen. Der Konnex von Religion und Wirtschaft ruht in Asien im wesentlichen in der sozialen Hierarchie. Von China bis Indien stehen die Wirtschaftsakteure, vor allem die Händler, Unternehmer und Geldverleiher seit Urzeiten auf einer sozial sehr niedrigen Stufe. Die reale Wirtschaft galt als etwas, mit dem sich die hohen Kasten und hohen Schichten nicht die Hände beschmutzten. Der Zweck des Lebens war auf Höheres gerichtet, wobei man selbstverständlich davon ausging, dass die unteren Kasten und unteren Schichten ihren Produktions- und Dienstleistungspflichten gehorsam und ohne Anspruch auf soziales Prestige nachgingen und dafür sorgten, dass die Gesellschaft im materiellen Diesseits bestehen und überleben konnte.
Der Einbruch der Moderne, insbesondere die Fortentwicklung der Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat diese Wertschätzung und soziale Hierarchie verändert. Zwar ist es nach wie vor selbstverständlich, dass sich der Brahmane oder der hohe Beamte in Indien als vornehmer erachtet als der Banya, der Händler, und auch in China ist das soziale Prestige eines Universitätsprofessors oder eines hohen Beamten erheblich grösser als jenes eines Unternehmers. Wie auch immer diese traditionellen Wertehierarchien sein oder sich verändern mögen, sie stärken und erhalten eine Position der ethischen Indifferenz gegenüber dem Wirtschaften. Die Wirtschaftsakteure haben nun wirklich keine andere Aufgabe, als das materielle Auskommen und den Wohlstand der Gesellschaft sicherzustellen. Wie sie das tun, unterliegt keiner ethischen Bewertung durch religiöse Instanzen. Es wäre völlig wirkungslos, ja es würde geradezu als abnormal betrachtet, wenn ein Hindupriester einem indischen Grossunternehmer einen verbesserten Umweltschutz nahelegen würde oder wenn ein buddhistischer Priester einem Hongkonger Tycoon von dubiosen Geschäftspraktiken abraten würde. Religion und Wirtschaft sind völlig beziehungslos, was letztlich auch bedeutet, dass religiöse Vorstellungen von Gerechtigkeit in der realen Wirtschafts- und Ordnungspolitik keine Rolle spielen.
Urs Schoettli ist Asienkorrespondent der NZZ.