Die Diskussion über «Christlicher Glaube und Kapitalismus» öffnet viele Türen. Die vor wenigen Jahrzehnten etwas enger angelegte Debatte zur christlichen Haltung gegenüber «Kommunismus und Kapitalismus» hat sich verflüchtigt, weil der Kommunismus an Glaubwürdigkeit massiv eingebüsst hat. Unterschwellig verblieben sind Restanzen der damaligen zweiseitigen Kritik. Hinter ihr stand ein schmales Verständnis für den ideellen Kommunismus, weil — zu Recht oder zu Unrecht — vermutet wurde, die urchristliche Gemeinde sei eher gemeinschaftlich, denn individualistisch orientiert gewesen. Die moderne Wirtschaftskritik ist nicht mehr antithetisch angelegt. Sie hält sich eher an äussere Ereignisse und beklagt dabei Defizite sozialer Gerechtigkeit.
Orientierung des Rechts an Menschenrechten
Dies ändert aber nichts daran, dass die heutige Problemstellung zum christlichen Glauben in seinem Verhältnis zur Wirtschaftsordnung in einem Umfeld zu diskutieren ist, das geprägt ist durch das national und international sich festigende Recht. Und dieses äussert sich, wenn auch indirekt, sowohl zum christlichen Glauben als auch zu den Grundsätzen der Wirtschaftsordnung, interessanterweise sogar in einem Geist, der bei näherem Hinsehen von christlicher Ethik in manchen Passagen nicht allzu fern ist. Insofern ist die Antwort vorrechtlich und im Umfeld des Rechts zu suchen. Das Recht auszuklammern mag die Diskussion von Gegensätzlichkeit oder Nähe von christlichem Glauben und Marktwirtschaft sogar beflügeln, doch darf nicht unterdrückt werden, dass die konkrete Welt, in der sich christlicher Glaube und Wirtschaftsordnung direkt begegnen, vom Rechtsdenken mitbeeinflusst wird. Allerdings darf dieses weder über- noch unterschätzt werden. Das Recht ist von Menschen für Menschen geschaffen und als solches Teil der menschlichen Kultur (sogar bisweilen der Unkultur). Dennoch hat es etwas zu sagen, allein schon deshalb, weil es von der Würde des Menschen und durch diese handelt.
Wesensmerkmal des nationalen/internationalen Rechts ist die Orientierung an den Menschenrechten und an der Gerechtigkeit. Die Menschenrechte gründen elementar in der Freiheit. Freiheit und Gerechtigkeit sind sich deshalb nahe. Mit der Freiheit verbindet sich autonomes Handeln, untrennbar vernetzt mit der Verantwortung für sich und die anderen Menschen sowie die Umwelt. Eng damit einher geht die politische Mündigkeit der Teilhabe an der Rechtssetzung. Die Gerechtigkeit ist facettenreich mit Treu und Glauben, Willkürverbot, Diskriminierungsverbot, Gleichheit, Rechtssicherheit, fairen Verfahren, Gemeinwohl usw. zu bedenken, immer aber nahe der Menschenwürde. Diese Grundlegung kann bestritten, in Teilen widerlegt werden, doch bleibt das Phänomen, dass sich mit dem Recht rechtsethische Anliegen verknüpfen. Diese münden in ein freiheitliches Persönlichkeitsbild und in Grundsätze einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung, die ihrerseits die Freiheit des Handelns voraussetzt. Dass Freiheit eigennützig gebraucht, missbraucht werden kann, ist eine bittere Erfahrung. Sogar Machtstrukturen können mit dem Ziel errichtet werden, Freiheit zu bedrängen oder zu verdrängen. Dies spricht aber nicht gegen die Freiheit. Sie manifestiert sich — in Kulmination? — individualisierend in der Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie auf die Gemeinschaft bezogen u.a. in den Grundsätzen einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung, nicht einseitig im einen oder andern, sondern in beiden Bereichen.
Nun stellen sich zwei Fragen: Erstens, ob, in welchem Masse und unter welchen Grenzen der christliche Glaube für diese rechtlich erfasste Ordnung der Glaubens- und Gewissensfreiheit gerade steht, sowie zweitens, ob die Ordnung des Wirtschaftens nach Grundsätzen der Freiheit ihm entspricht und wenn ja unter welchen Bedingungen.
Ordnung der Wirtschaft nach Grundsätzen der Freiheit
Vom Recht her gesehen besteht kein Anlass, das Christentum für sich zu reklamieren. Es lässt aber über die Glaubens- und Gewissensfreiheit dem christlichen Glauben freien Raum und billigt ihm kritische Sensibilität zu. Das Recht zählt sogar darauf, dass über die Freiheit, die immer wieder gefährdet ist, gewacht wird und dass die damit einhergehende Verantwortung nicht ausser Acht fällt. Das Christentum darf sich zurechnen, dass es aus gewichtigen Ansätzen heraus die Freiheit des Christenmenschen (vor der Aufklärung, wenn auch nicht in rational reiner Art) als rechtlich relevanten Kulturbeitrag von seiner Warte aus eingebracht hat und dafür wachen Geistes einsteht, auch wenn es darum weiss, dass es mit der Option zugunsten der Freiheit die Türen auch für andere Zutritte und Begründungen öffnet. Insofern überrascht es nicht, wenn sich das Christentum für sich und für den Staat auf das konstitutive Element der Freiheit beruft und weder vor der Glaubens- und Gewissensfreiheit noch vor den Grundsätzen einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung zurückweicht.
Die Ordnung des Wirtschaftens nach Grundsätzen der Freiheit ist die konsequente Weiterführung der persönlichen Freiheit. Wo diese vorausgesetzt und gegeben ist, da muss auch eine Wirtschaftsordnung Platz greifen, die freiheitlich angelegt bleibt. Diese ist von der Privatautonomie und der unternehmerischen Freiheit her zu verstehenden, eine Ordnung mit dem Regulator des Marktes (nicht des Staates, nicht des Zufalls) als Hintergrund. Insofern kann man von einer marktwirtschaftlichen sprechen, doch wäre es besser, von einer Ordnung nach freiheitlichen Grundsätzen zu handeln, die folgerichtig für den Markt, gegen Staat und Zufall optiert. Sie sind keine Zeugen der Freiheit. Mit der Freiheit verbunden ist die Verantwortung — für sich und die Anderen, für die Nahen und die Fernen, für das, was zu tun und für das, was zu unterlassen ist. Das Christentum, ob exklusiv oder nicht, darf sich zurechnen, dass es die Verantwortung als Teil der Freiheit versteht, besonders ausgeprägt dort, wo das Gewissen in der unmittelbaren Gegenwärtigkeit Gottes gefordert ist. Insofern hat es guten Grund, die Grundsätze der Wirtschaftsfreiheit (samt Verantwortung) zu leben, im klaren Wissen, dass diese nicht Selbstzweck sind, sondern Ausfluss der persönlichen Freiheit, die zur mitmenschlichen und also menschenmassstäblichen Verantwortung, auch zur Selbstverantwortung führt.
Zur Verantwortung: Ob es auf die Gesinnung oder das Bedenken der Folgen ankommt, kann und soll bedacht werden. Für das Recht geht es um die Zuordnung, um das Zurechnen und dies nach Massstäben wie jenen des Verschuldens. Eine wichtige Aufgabe besteht darin, das öffentliche, das offensichtliche, das die Gerechtigkeit und Freiheit verletzende Versagen gegenüber der Gesellschaft zu verhindern. Dazu tragen so wichtige Alltags-Prinzipien wie die Goldene Regel, jenes Gebot von Treu und Glauben, das Willkürverbot, das Verbot des Rechtsmissbrauchs usw. bei. Aufregend: das biblische und also christliche Reden vom Gebotenen hebt nicht von der menschlichen Wirklichkeit ab. Es scheut sich nicht, ihr in die Augen zu schauen. Also tun wir gut daran, nicht idealistisch über der Welt zu stehen, sondern mitten in ihr und das vorzukehren, was hier und jetzt getan werden muss, ohne Institutionelles zu zelebrieren.
Bezug zwischen Freiheit, Gerechtigkeit und Verantwortung
Der hier gewählte Ansatz, nahe beim Konkreten der Rechts- und der gesellschaftlichen Wirklichkeit, entlastet uns von der Pflicht, den christlichen Glauben, den Kapitalismus, die Marktwirtschaft und die Wirtschaftsordnung vorauseilend zu definieren. Es reicht hin, Freiheit, Gerechtigkeit und Verantwortung in Bezug zu setzen und sich zu fragen, wie es Staat und Kirchen mit diesen in concreto halten. Wären wir dennoch gefordert, das Recht und die Wirtschaftsordnung direkt aus dem christlichen Glauben heraus zu bedenken, so hätten wir sie in jenes ausleuchtende Licht zu stellen, das von der «Sonne der Gerechtigkeit» ausstrahlt, also von einer Gerechtigkeit, die «Liebe in Person» ist, die um das menschliche Hungern und Dürsten nach Gerechtigkeit weiss, die aber das Leben nicht gesetzlich entmündigt, sondern «durchkreuzt», also das Gewissen und das tätige Handeln herausfordert. Und dieses Durchkreuzen berührt das Leben in all seinen Formen, sowohl den «definierten Glauben», die «taugliche Wirtschaftsform» als auch das «richtige Recht». Nicht lehrbuchartige Verhaltensanordnungen nach allen Seiten bietet das Evangelium an, sondern glaubensexistenzielle Hinweise — und diese nehmen uns — vor Gott — in Verantwortung. Ihr kommen wir nahe, wenn wir uns bemühen, das vorzukehren, was sub specie aeternatis hier und jetzt bedacht und getan werden muss.
Prof. Dr. iur. Dr. h.c. Martin Lendi ist Rechtsanwalt, em. o. Professor für Rechtswissenschaft, ETH Zürich, und Stiftungsrat des Liberalen Instituts.