Trotz unzähliger fehlgeschlagener Experimente: Sozialistische Ideen erfreuen sich auch heute noch enormer Popularität. Insbesondere unter Intellektuellen. Daran hat auch Venezuela nichts geändert, obwohl dort die Ergebnisse dieselben sind wie eh und je: Kollaps der Wirtschaft, Massenarmut, Massenflucht.
Wie schaffen es die Advokaten des Sozialismus, ihre Augen derart vor der Realität zu verschliessen? Mit diesem Phänomen befasst sich ein immer noch aktuelles Buch des Ökonomen Kristian Niemietz mit dem Titel Sozialismus: die gescheiterte Idee, die niemals stirbt (2021). Der Autor verweist unter anderem auf die Forschung des Psychologie-Professors Jonathan Haidt über die Entwicklung unserer Urteilskraft. Bei einem nicht unbedeutenden Teil unserer politischen und moralischen Argumentationsweise handle es sich um «post-hoc» Rationalisierungsversuche. Es gehe nicht primär darum, durch das Studium der Beweislage zu einer Schlussfolgerung zu gelangen. Vielmehr werde eine Schlussfolgerung verteidigt, zu der man bereits zuvor intuitiv und gefühlsmässig gelangt sei. Man verhalte sich dann nicht wie ein Richter, der die Beweislage prüfe, interpretiere, abwäge und anschliessend ein Urteil fälle. Eher ähnelten wir Anwälten, die sich schon von Anfang an auf eine Seite schlagen und dann gezielt nach solchen Beweisen suchen, die für ihren Klienten sprechen.
Jene Fakten werden aufgebauscht, welche die eigene Ansicht unterstützen («confirmation bias»). Beweise, die das Gegenteil belegen, werden hingegen ignoriert oder zurückgewiesen. Oder aber man wird versuchen, die entgegengesetzten Beweise zu zerpflücken, indem man beispielsweise unmöglich hohe Standards von entsprechenden Informationsquellen einfordert. Gleichzeitig wird man sehr lasche Standards bei bestätigenden Quellen anwenden («motivated reasoning»).
Auch Intellektuelle sind vor solchen Selbsttäuschungstricks nicht gefeit. Viele von ihnen kommen gefühlsmässig zum Schluss, der Sozialismus sei besser als der Kapitalismus. Warum? Die Argumente für den Kapitalismus sind kontraintuitiv. Für die meisten Leute fühlt sich der Kapitalismus einfach falsch an, weil er mit Profitmaximierung, Egoismus und Gier assoziiert wird. Es bedarf einer intensiven und disziplinierten intellektuellen Auseinandersetzung mit der freien Marktwirtschaft, um diese zu verstehen und deren Vorzüge wertzuschätzen. Im Gegensatz dazu erscheint der Sozialismus intuitiv richtig zu sein. Der Sozialismus fühlt sich einfach besser an, weil er an das Soziale, das Zwischenmenschliche, das Miteinander, das Altruistische appelliert.
Der Hass auf den Kapitalismus bleibt, die Gründe ändern sich
Haidt führte eine Serie von Interviews durch, in denen die Teilnehmer nach ihrem moralischen Urteil zu einer hypothetischen Situation X gefragt wurden. Auch wurden sie gebeten, ihre Gründe dafür darzulegen. Sobald die Teilnehmer die Situation X als unmoralisch zurückgewiesen hatten, weil es zum negativen Ergebnis A führen könne, änderte der Interviewer das Setup so, dass X unmöglich zu A führen kann. Anstatt in der Folge ihren Standpunkt gegenüber X abzuschwächen oder zu revidieren, suchten sie nach einem neuen Argument B, weshalb X schädlich sei. Sobald dann der Interviewer auch diese Möglichkeit B ausschloss, sprangen die meisten sofort zu einem weiteren potenziellen und ebenfalls schädlichen Ergebnis C. Und so weiter. Dies zeigt, dass weder A noch B noch C jemals die wahren Ursachen für die Ablehnung von X waren. Vielmehr handelt es sich bei ihnen um «post-hoc» Rechtfertigungen für eine intuitive Abneigung gegenüber X.
Dass die meisten Argumente gegen den Kapitalismus lediglich «post-hoc» Rechtfertigungen für zuvor intuitiv gefestigte Positionen sind, zeigt sich an der Tatsache, dass sich der Kapitalismus zwar schon seit jeher im Kreuzfeuer vieler Intellektueller befindet, jedoch nicht immer dieselben Argumente ins Feld geführt wurden. Während des Nachkrieg-Booms nach dem Zweiten Weltkrieg, als im eher kapitalistischen Westen enorme Wohlstandsfortschritte für breite Massen erreicht wurden, verschob sich die Argumentationsweise rasch von der «Ausbeutung und Verarmung der Arbeiterklasse» hin zur Behauptung, der Kapitalismus führe zu einer «materialistischen Konsumgesellschaft».
Realitätsverweigerung aus Eigeninteresse
Wichtige Einsichten in die Denkweise vieler Intellektueller vermittelt auch die Forschung des Ökonomie-Professors Bryan Caplan zur «rationalen Irrationalität». Caplan zeigt, dass das Festhalten an falschen Ideologien durchaus rational sein kann, wenn diese die Quelle des eigenen emotionalen Komforts darstellen – oder wenn sie ein wichtiger Bestandteil der eigenen Identität sind. Gerade auf intellektuelle Meinungsmacher, die in der Öffentlichkeit für ein gewisses System einstehen, trifft letzteres natürlich besonders zu. «Irrational» ist das Festhalten an falschen Ideen nur dann, wenn wir davon ausgehen, dass unser Glaubenssystem ausschliesslich durch die Wahrheitssuche motiviert wird.
Stellen Sie sich einmal vor, ein Jean Ziegler, eine Naomi Klein oder ein Noam Chomsky würden einen Artikel veröffentlichen mit dem Titel «Seien wir ehrlich: Es war der Sozialismus, der Venezuela ruinierte». Sie würden eine riesige Fanbasis enttäuschen und von dieser als «Verräter» gebrandmarkt werden. Ihre Intellektuellen-Karriere könnten sie sich an den Nagel hängen.
An falschen sozialistischen Idealen festzuhalten jedoch kostet westliche Intellektuelle nichts. Sie müssen nicht in den menschenverachtenden Systemen leben, die sie selbst lautstark propagieren und aus denen viele Menschen flüchten. Sie brauchen keine Hungersnöte zu leiden und staatliche Repressalien zu fürchten. Die sozialistischen Intellektuellen haben die Konsequenzen ihrer Realitätsverweigerung nicht zu tragen. Sie posaunen ihre surrealen Forderungen nach einer Gleichheits-Utopie heraus, während sie es sich in der freien Welt komfortabel eingerichtet haben und dort die intellektuelle Freiheit, die höhere Umweltqualität und den wirtschaftlichen Wohlstand der kapitalistischen Gesellschaften geniessen. Ist das glaubwürdig?