Dem Zeitalter der Aufklärung verdankt die Menschheit die Abkehr vom Aberglauben und den Durchbruch der Vernunft. Die kant’sche Aufforderung, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, nach Wissen zu streben, um nicht alles glauben zu müssen, fiel auf fruchtbaren Boden.
Die Wissenschaften eilten in der Folge von Triumph zu Triumph. Ergebnisoffene Forschung war gefragt. Erkenntnisgewinn das Ziel — ohne Rücksicht auf Zeitgeist oder politische Opportunität, wie das heute der Fall ist. Die Fähigkeit zur Unterscheidung der Wahrheit von der Unwahrheit, der scharfe Blick dafür, zu erkennen, was richtig ist und was falsch, kennzeichnet aufgeklärtes Denken. Wissenschaft kann und soll erforschen und erklären, was ist; sie hat dagegen keine normativen Aussagen darüber zu treffen, was sein soll.
Diese Zeiten gehören der Vergangenheit an, seit die in den USA erfundene „Political Correctness“ ihren Siegeszug über den Globus angetreten hat. Das bedingungslose Streben nach wissenschaftlichen Einsichten und Erkenntnissen wiegt seither weniger als verletzte Gefühle und das, was von den über die Meinungshoheit gebietenden politischen Eliten als moralisch deklariert wird. Gewachsen ist diese moralisierende Ideologie auf dem Fundament des Kulturmarxismus, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vom italienischen Kommunisten Antonio Gramsci gelegt wurde.
Der linke Intellektuelle betrachtete die Erringung der kulturellen Hegemonie als notwendige Voraussetzung für die Überwindung der marktwirtschaftlich verfassten bürgerlichen Gesellschaft. Doch erst mehrere Jahrzehnte später wurde der von Gramsci erdachte „Marsch durch die Institutionen“ von der 1968er-Revolution respektive deren Protagonisten und Nachfolgern tatsächlich angetreten und erfolgreich abgeschlossen. Linke Akademiker, die unter Marktbedingungen — ausserhalb politisch geschützter „Werkstätten“ — keine Karrierechancen gehabt hätten, konnten seither sämtliche Institutionen des Staates infiltrieren und/oder vollständig unter ihre Kontrolle bringen. Das gilt insbesondere für die Bildungseinrichtungen, namentlich die Universitäten.
Auswüchse der Politischen Korrektheit
Es ist daher kein Wunder, dass die extremsten Auswüchse der politischen Korrektheit, wie Genderismus, Kritische Rassentheorie, Black-Lives-Matter-Bewegung, Fridays for Future, Extinction Rebellion, Cancel Culture, Letzte Generation oder Wokeness an den Hochschulen am besten gedeihen und diese Bewegungen dort ihre schlagkräftigsten „Bataillone rekrutieren“. Den gemeinsamen Nenner all dieser Zeitgeistphänomene bildet die fanatische Ablehnung einer freiheitlich-liberalen Ordnung. Wie alle marxistischen Theoretiker der Vergangenheit verfügen auch die zeitgenössischen „Social Justice Warriors“ über keine konkreten Ideen, wie die Lebensgrundlage von knapp acht Milliarden Menschen auf diesem Planeten gewährleistet werden soll, wenn sie erst einmal alle bestehenden Strukturen in Trümmer gelegt haben. Fragt man diesbezüglich nach, erhält man nichts als Gemeinplätze und phantasievolle Schwärmereien zur Antwort. Jedenfalls nichts Handfestes.
Kein Wunder, haben doch augenscheinlich viele dieser Aktivisten nie wertschöpfend gearbeitet. Wer seinen Lebensunterhalt aber ausschliesslich Mutti und Vati oder dem Paralleluniversum des Wohlfahrtsstaats zu verdanken hat, verliert zwangsläufig den realistischen Blick für die Welt — für die Welt, wie sie wirklich ist. Wie auch die allermeisten prominenten linken Theoretiker der Vergangenheit (mit Ausnahme Friedrich Engels), haben die Linksausleger dieser Tage keine Ahnung von der Organisation und Leitung von Unternehmen, einer erfolgreichen Allokation von Ressourcen und der Führung von Menschen — ohne dass dabei auf den Einsatz von Zwang und Gewalt zurückgegriffen werden könnte oder müsste, wie dies der Staat tut. In welche Richtung aber jede von anmassenden Bürokraten geführte Kommandowirtschaft tendiert — und sei sie auf den Boden der edelsten Gefühle gegründet —, ist aus der Geschichte zur Genüge bekannt: Am Ende des Weges stehen Mangel, Unfreiheit, Gewalt und die Tyrannei einer korrupten Funktionärskaste. Immer. Überall.
Begriffsdefinition und Kritik
Dem Internetlexikon Wikipedia entnehmen wir: Woke (englisch erwacht, wach) ist ein im afroamerikanischen Englisch in den 1930er Jahren entstandener Ausdruck, der ein „erwachtes“ Bewusstsein für mangelnde soziale Gerechtigkeit und Rassismus beschreibt. Die Bedeutung im Duden lautet: „In hohem Mass politisch wach und engagiert gegen (insbesondere rassistische, sexistische, soziale) Diskriminierung“, wobei auf einen möglicherweise abwertenden Gebrauch hingewiesen wird.
Der in Harvard lehrende Experimentalpsychologe und Kognitionswissenschaftler Steven Pinker äussert sich in einem Interview mit dem Politmagazin L´Express über den „Wokeismus“ so: „Dieser universitäre Irrsinn geht uns alle an.“ Seine Kritik am Wokeismus speist sich aus der folgenden Einschätzung: „Weil diese woke Orthodoxie schlimmstenfalls Anleihen an der Apartheid und am Nazismus macht.“ Also: Lupenreiner Rassismus im Dienst eines vorgeblichen Antirassismus? Ob es sich dabei um Ironie, Zynismus oder einfach um fehlende Reflexion handelt? Wer weiss das schon.
Pinker führt weiter aus, dass aus dem Wokeismus mittlerweile eine Art „Religion mit einem sehr starken Moralismus“ geworden ist. Es handle sich um eine Bewegung, „die weder auf Fakten noch auf der Wissenschaft basiert“. Pinker sieht die grösste Gefahr in einer Diskreditierung der Universitäten, falls sich auf breiter Front die Erkenntnis Bahn bricht, dass es an den Hochschulen nicht mehr um die Sammlung, Überprüfung und Vermittlung von Wissen geht, sondern lediglich um die mit öffentlichen Mitteln finanzierte Erhaltung von Spielwiesen für linke Sektierer.
Der konservative US-amerikanische Publizist Rod Dreher, bezeichnet in einem Interview mit dem bürgerlichen Pariser „Figaro“ den Wokeismus als „sanften Totalitarismus“. Weiter meint er: Ein totalitärer Staat zeichnet sich dadurch aus, dass er sich anschickt, „die Wirklichkeit zu definieren und zu kontrollieren, das heisst, er versucht, für Sie zu entscheiden, was die Wahrheit ist“. Der vom Wokeismus geprägte totalitäre Staat fordere die Akzeptanz einer Reihe progressiver Forderungen, die mit den Geboten der Logik schlicht unvereinbar seien.
Ein besonders augenfälliges Beispiel dafür ist für Rod Dreher die Genderideologie. Wer der Genderideologie nicht bedingungslos folgt, wird von den Institutionen (insbesondere von universitären Einrichtungen) ausgeschlossen. Wurden einst Studenten im Ostblock, gleich welcher Fachrichtung, mit obligaten Unterweisungen in der säkularen Religion des Marxismus-Leninismus beglückt, ist es heute die verbindliche Verwendung „gendergerechter“ Sprache und jeglicher Verzicht auf eine Kritik an der bizarren Idee, es gäbe 64 Geschlechter. Faktum aber ist: Jeder Mensch produziert entweder Ei- oder Samenzellen. Er verfügt über Y-Chromosomen oder eben nicht. Ein Drittes gibt es nicht. Ergo: Zwei Geschlechter. Ideologien, auch wenn sie sich unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit verbergen, haben an Universitäten indes nichts verloren. Wäre es anders, könnte auch gegen die Einrichtung von Fakultäten für Astrologie oder Kaffeesudleserei schwerlich etwas eingewendet werden.
Bekenntnis statt Erkenntnis
Um den Kern des Übels zu benennen: Wer das Gegensatzpaar wahr oder falsch durch jenes von Gut und Böse ersetzt, duldet keinen Widerspruch und wünscht keinen offenen Diskurs. Denn zwischen Gut und Böse kann es keine Kompromisse geben. Das Böse muss vielmehr mitsamt der Wurzel ausgerissen und vernichtet werden. Es geht also um nicht weniger als um einen Rückfall hinter die Errungenschaften der Aufklärung — den Ersatz des Wissens durch einen (Aber-)Glauben — und die Errichtung eines monochromen Weltbildes, das jedermann zu gefallen hat.
Wissenschaft aber lebt vom Diskurs — und stirbt mit ihm. Der Widerspruch ist ein unverzichtbares Korrektiv. Versuch und Irrtum bringen uns voran. Das Verbot bestimmter Überzeugungen, ganzer Forschungsgebiete oder hoheitliche Vorgaben für die von der Wissenschaft zu erbringenden Resultate bringen uns aber ganz sicher nicht voran. Es ist nicht zu übersehen, dass die heute so gut wie ausschliesslich von Zwangsabgaben lebende Intellektuellenkaste jede Bodenhaftung verloren hat. Das Dahinschwinden wohlhabender, finanziell unabhängiger Gelehrter wurde zurecht bereits vor Jahrzehnten von Wirtschaftsnobelpreisträger Friedrich August Hayek beklagt.
Niemals wird man aus dem Mund „einfacher“ Menschen die absurde Behauptung hören, dass das biologische Geschlecht ein „Konstrukt“ wäre, auch Männer schwanger werden könnten, und auch Frauen über Penisse verfügten. Auch würde keiner von ihnen einem heute lebenden Zeitgenossen vorhalten, was dessen Urururahnen dieser oder jener sozialen oder ethnischen Gruppe einst angetan haben und daraus den Anspruch auf lebenslange Zerknirschung oder gar Selbstschädigung in der Gegenwart ableiten.
Derlei kollektivistischer Humbug kommt ausschliesslich solchen Zeitgenossen in den Sinn, die ihr Einkommen offensichtlich auf zu wenig fordernde Weise erzielen und die daher jede Menge Musse haben, sich sogar dem haarsträubendsten Unsinn hinzugeben, der niemandem auf diesem Erdball (ausser ihrem Ego und Menschen, die Interesse an künstlich erzeugten Konflikten haben) nutzt und mit dem sie am Ende nichts als Neid, Zwietracht und Hass zwischen den Menschen säen. Politische Korrektheit und Wokeismus fördern das Denunziantentum, die gesellschaftliche Ausgrenzung von Dissidenten, eine Kultur ritualisierter Selbstbezichtigungen und nie zuvor gekannte Gruppenzwänge. Cui bono?
Gesinnung oder Verantwortung
Max Weber hat in seinem Aufsatz „Politik als Beruf“ den Gegensatz von Gesinnungs- und Verantwortungsethik brillant herausgearbeitet. Die woken Krieger für die „soziale Gerechtigkeit“ sind vollblütige Gesinnungsethiker. Sie verschwenden keinen Gedanken an die Konsequenzen ihres Handelns. Allein auf ihre moralisch einwandfreie, „richtige“ Haltung kommt es ihnen an. „Fiat iustitia et pereat mundus“ (Es soll Gerechtigkeit geschehen, und gehe die Welt darüber zugrunde). „Gerechtigkeit“ oder besser: Allein das, was die „Bolschewoken“ dafür halten, zählt — selbst wenn die Welt darüber in Trümmer fällt.
Die russisch-amerikanische Erfolgsautorin und Philosophin Ayn Rand hat in ihrem Buch „Für den Neuen Intellektuellen“ die Beziehung zwischen dem Hunnenkönig Attila und seinem Geisterbeschwörer beschrieben, die perfekt das Verhältnis zwischen Machthabern und Intellektuellen charakterisiert: Der brutale Macher braucht einen phantasiebegabten Ideenlieferanten, der ihm einerseits Konzepte liefert und andererseits als Apologet gegenüber seinen Untaten fungiert. Als Lohn dafür wird ihm ein privilegiertes und sorgenfreies Leben garantiert. Eine perfekte Symbiose — zulasten der Beherrschten.
Das ist exakt die Situation unserer Tage: Die „hellsten Lichter“ scheinen es ja nicht gerade zu sein, die in Parlamenten und an der Spitze von Ministerien leuchten. Dort herrscht graues Mittelmass, deprimierender Mangel an Kreativität und bedrückende geistige Enge. Und so kommt die Unzahl der durch die Massenuniversitäten produzierten eloquenten ambitiösen Akademiker (Genderwissenschaftler, Soziologen, Politik- und Kommunikationswissenschaftler, Publizisten, Volkswirte und Staatskünstler) gerade recht. Für ihre an den Universitäten erlernten Fertigkeiten mag es zwar in der „freien Wildbahn des Marktes“ kaum Nachfrage geben, aber sie sind nützlich, um der mediokren Politnomenklatura Ideen zu liefern und deren Aktivitäten gegenüber dem dumpfen Wahlvolk im besten Licht zu präsentieren. Dafür werden sie mit ebenso sinnfreien wie gutdotierten (Beamten-)Dienstposten, Aufträgen, Projekten und Stipendien belohnt.
Queer- und Fahrradbeauftragte, Gender- und Quotenwächter oder Gesinnungsblockwarte könnte und würde es ausserhalb der staatlichen Sphäre niemals geben. Denn kein bei klarem Verstand befindlicher Mensch würde freiwillig für deren „Leistungen“ etwas bezahlen. Im wohlfahrtsstaatlich organisierten Wokeistan aber ist genügend Platz für sie und alle sind glücklich — mit Ausnahme der täglich schrumpfenden Zahl von Menschen, die im Wertschöpfungsprozess stehen und das geringe Vergnügen haben, Nettosteuerzahler zu sein.
Der woke Umgang mit Tatsachen
Man könnte den Wokeismus mit Nietzsche als den Versuch einer „Umwertung aller Werte“ bezeichnen. Nicht was ist, zählt, sondern was von einer selbsternannten neuen Priesterklasse — und sei es auch gegen jedwede Erfahrung und wider jede Logik — als wünschenswert definiert wird. Unbestreitbare Tatsachen werden verschwiegen oder aktiv bekämpft, wenn sie nicht ins Konzept passen. So bedeutet unter dem Regime der Woken allein die blosse Benennung vieler jederzeit überprüfbarer Tatsachen einen unerhörten Tabubruch: Etwa, dass so gut wie alle wissenschaftlichen, technischen, philosophischen oder kulturellen Errungenschaften von einiger Bedeutung, „weisse“ Urheber hatten. Vom Buchdruck bis zum Düsenantrieb, von der Dampfmaschine bis zum Pockenimpfstoff, von der klassischen Sinfonie bis zum Stickstoffdünger: Alles Erfindungen, Entdeckungen und Entwicklungen, die wir „weissen“ Menschen verdanken. Das auf den Universitäten herrschende Juste Milieu duldet so etwas nicht. Damit hier nichts falsch verstanden wird: Dem Liberalen liegt es — im Gegensatz zu Wokisten — fern, in rassistischen Klischees zu denken. Hier soll nur auf den Widerspruch aufmerksam gemacht werden, dass zwar die Schandtaten des „alten weissen Mannes“, etwa in der Kolonialzeit, einer bestimmten Ethnie und einem bestimmten Geschlecht angelastet werden, aber würde man dasselbe mit Errungenschaften tun, würde dies zu einem Aufschrei führen.
Das Dilemma
Platon träumte einst vom „Philosophenkönig“ als idealem Herrscher. Das mag in den Ohren mancher Zeitgenossen gar nicht so übel klingen. In Wirklichkeit aber lieferte Platons Philosophie die Grundlage für den Totalitarismus — und kommt bei vielen Linken vermutlich gerade deshalb so gut an. Da scheint die Idee der weiter oben zitierten Ayn Rand schon ansprechender, die den Typ eines „Unternehmer-Philosophen“ ins Spiel brachte. Einer Figur also, die in beiden Welten zu Hause ist — sowohl in jener der Wertschöpfung als auch in der der Sinnstiftung und -vermittlung.
Das Problem besteht nur darin, dass „eierlegende Wollmilchsäue“ dieses Zuschnitts schwer zu finden sind. Denn wer täglich im Hamsterrad der Betriebsführung steckt, hat weder Zeit noch Energie, um sich tiefschürfend mit Fragen der Philosophie zu beschäftigen. Im universitären Elfenbeinturm sitzende Nerds wiederum bekommen gewöhnlich zeitlebens keine Werkhalle von innen zu sehen und haben meist keine Ahnung von der Welt ausserhalb ihres krisensicheren Paralleluniversums. Es handelt sich um ein veritables Schnittmengenproblem.
Lösung
Wenn es dem Esel zu wohl wird, geht er aufs Eis tanzen. Das Sprichwort charakterisiert perfekt die Lage in der Spätzeit des Wohlfahrtstaates. Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist — auch wenn davon nach mehr als 100 Jahren Sozialdemokratismus kaum noch etwas übrig ist —, derart produktiv und effizient, dass es immer noch imstande ist, das Riesenheer seiner Feinde, der Anti-Kapitalisten zu ernähren. Welche Ironie! Die einzige Möglichkeit, diese Fehlentenwicklung zu beenden, liegt in einer radikalen Senkung der Steuerquote und der Staatsschulden und der daraus resultierenden Trockenlegung jener Staatsbiotope, in denen kultur-marxistische Gewächse wie der Wokeismus so prächtig gedeihen.
Dieser Beitrag ist zuerst beim Ludwig von Mises Institut Deutschland erschienen.
Andreas Tögel, Jahrgang 1957, ist gelernter Maschinenbauer, ausübender kaufmännischer Unternehmer und überzeugter “Austrian”. Ende März 2022 ist sein Buch Inflation: Warum das Leben immer teurer wird erschienen.