Der Staat — die Gouvernante

Krippen, Tageseltern, Mittagstische sollen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erhöhen und die Entwicklung der Kinder fördern. Letzteres kann selbst die Flut der einschlägigen Vorschriften nicht garantieren. Die Thematik mutiert zur Glaubensfrage.

Familie Müller freut sich auf den Umzug von Basel nach Bern. Hans Müller hat dort eine neue Stelle gefunden, seine Frau Milla und der knapp einjährige Nicolin folgen ihm. Weil Milla Müller auch berufstätig ist, soll der Sohn eine Kindertagesstätte (Kita) besuchen, wie er es auch in Basel getan hat. Eine Wohnung ist bald gefunden, eine neue Kita ebenfalls. Doch als Müllers dort mit der Eingewöhnung beginnen, staunen sie: Über Nacht hat Nicolin einen gewaltigen Entwicklungsschub gemacht. Galt er in Basel bis zum 18. Lebensmonat als Baby, das Anrecht hat auf 1,5 Betreuungsplätze und sich eine Erzieherin mit nur zwei anderen Knirpsen teilen muss, ist er in Bern plötzlich ab dem 12. Monat kein Baby mehr; ausserdem beaufsichtigt jede Betreuerin nun 5 bis 6 Kinder.

Flut der Formulare

Diese Regelung habe «finanzielle, nicht pädagogische Gründe», sagt Esther Christen, Leiterin der Fachstelle Familie des Kantons Bern. Wegen der knappen Budgets müsste Bern wohl Kita-Plätze streichen, würde der «Bébé-Faktor» (1,5 Plätze) wie in Basel und rund zehn anderen Kantonen auf 18 Monate fixiert. Während der Aargau, beide Appenzell oder Luzern gar keinen «Bébé-Faktor» kennen, sind etwa die Genfer besonders differenziert: Bis zum ersten Lebensjahr kommen auf eine Betreuerin vier Kinder, bis zum zweiten fünf, bis zum dritten acht und anschliessend dann zehn.

Die Familienergänzende Betreuung (FEB) ist ein politisches Tummelfeld, auf dem viele Interessen aufeinanderprallen — wobei das wichtigste Anliegen oft vergessen geht: das Wohl der Kinder. Benötigen Kleinkinder bis zirka 18 Monate tatsächlich eine intensivere Betreuung, was der Schweizerische Krippenverband (KiTaS) empfiehlt und Kinderärzte bestätigen (siehe Interview), ergeben die widersprüchlichen staatlichen Vorgaben pädagogisch keinen Sinn. Sie unterlaufen das ständig gehörte Postulat, wonach die Qualität der Betreuung in jedem Fall Vorrang habe. Mehr noch: Der Gesetzesdschungel, den der Staat für Kitas, Tageseltern und Mittagstische errichtet, heizt die Diskussion ideologisch auf und lenkt von den wesentlichen Fragen ab.

Wer ein Betreuungsangebot eröffnen will, braucht einen Bedarfsnachweis, ein pädagogisches und ein organisatorisches Konzept, einen Businessplan sowie «einen Satz ausgefüllter Formulare des Bundesamtes für Sozialversicherungen», wie es auf der Website des Kantons Bern heisst. Vorschriften von Feuerpolizei, Gesundheitsdienst und Lebensmittelhygiene runden das Bouquet ab — so ist in Kitas vom Seifenspender im Bad bis zum Dampfabzug in der Küche alles vorgeschrieben. Solche Vorgaben verteuern die Plätze; zusätzlich steigen die Lohnkosten des Personals, weil dieses vermehrt Aus- und Weiterbildungen absolvieren muss.

Wer schon nur einen simplen Mittagstisch plant, kann rasch mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Umfasst die Betreuung mehr als 20 Stunden pro Woche und mehr als 5 Kinder, ist sie bewilligungspflichtig wie ein Hort. Und was bringt es dem Kind, wenn eine Betreuerin die empfohlenen oder vorgeschriebenen Kurse belegt? Zum Beispiel den Kurs «Schulkinder qualifiziert betreuen» in Zürich, der in der Ausschreibung nicht gerade pädagogisches Neuland betritt: «Schulkinder über Mittag und/oder in der unterrichtsfreien Zeit zu betreuen, ist eine vielseitige, aber auch anspruchsvolle Aufgabe. Anzahl, Zusammensetzung der Gruppen und Bedürfnisse der Kinder ändern immer wieder.» Der Kurs dauert 10 Tage, kostet 1960 Franken und wird meist von der Allgemeinheit bezahlt.

Auch Tageseltern sind vor absurder Regulierung nicht gefeit. Einerseits schreibt der Verband Tagesfamilien Schweiz exakt vor, wie die Betreuung aussehen muss: Anforderungsprofile, Arbeitsverträge, Betreuungsschlüssel, Löhne. Zudem müssen Tageseltern «mindestens 18 Stunden Grundbildung, einen 6-stündigen Nothelferkurs sowie jährlich mindestens 3 Stunden Weiterbildung» absolvieren.

Auf der anderen Seite macht auch der Staat Vorgaben, die in Bezug aufs Kindswohl abwegig sind: Ist man im Kanton Zürich als Tageseltern tätig, kann man maximal 5 Kinder betreuen, in Freiburg und im Wallis aber nur 4, im Jura bloss 3. Geht es den so betreuten Zürcher Kindern deshalb schlechter als den Kameraden in der Romandie? Wohl kaum.

Verbandssekretärin Jutta Vallone meint dazu: «Wir würden eine schweizweit einheitliche Regelung begrüssen. Leider ist diese politisch nicht durchsetzbar.» Hier zeigt sich, wie dehnbar der Begriff des Kindswohls ist — und welche Haltung hinter dieser Familienpolitik steckt: «Abweichende Regelungen sind je nach individueller Situation möglich», meint Vallone, die Tageseltern verstünden sich «neben Kitas und Horten als Partner in der familienergänzenden Betreuung». Auf Januar 2014 will der Tagesfamilienverband mit KiTaS fusionieren, um schlagkräftiger zu werden. «Das Angebot der Tagesfamilienorganisationen entwickelt sich zu einem Service public», kommentiert Vallone.

Die Geschäftsleiterin von KiTaS, Talin Stoffel, gesteht, bisher sei «das Angebot an familienergänzenden Betreuungsplätzen mehr im Zentrum gestanden als dessen Qualität», doch nun nehme man das Kindswohl vermehrt in den Fokus. Mit der Jacobs Foundation hat der Verband soeben ein Qualitätslabel lanciert, um gute FEB-Anbieter auszuzeichnen. Wie sehr diese zusätzliche Normierung dem Kindswohl nützt, lässt sich nicht erhärten. Einige Studien sagen, Kleinkinder könnten in einer guten Kita aufblühen, besonders wenn es im Elternhaus soziale Defizite gebe; andere Untersuchungen setzen hier Fragezeichen. Für Stoffel steht fest, dass die ersten Lebensjahre «sehr prägend sind», trotzdem müssten sich die Kitas nach den Realitäten richten. «Für Babys wäre es wohl das Beste, sie würden ihre Krippe vier bis fünf Tage die Woche besuchen, jedoch nur halbtags. Dieser Rhythmus wäre kinderfreundlich, ist aber weder mit den Anforderungen der Arbeitswelt noch mit den Kostenzwängen der Kitas vereinbar.»

Familien brauchen Autonomie

Pierre Bessard, Direktor des Liberalen Instituts, ist ein Kritiker solcher Familienpolitik, weil diese zu Fehlanreizen führe. «Solche Fehlanreize könnten etwa darin bestehen, Personen zu einer Elternschaft zu verleiten, welche die Verantwortung für eine solche überhaupt nicht übernehmen wollen», sagt der Ökonom. Umgekehrt behindere der Staat das externe Kinderhüten dort, wo es eigentlich funktionieren würde. «Es sind bereits ausreichende familiäre, zivilgesellschaftliche und marktwirtschaftliche Betreuungsmöglichkeiten vorhanden, wo sie tatsächlich nachgefragt und nicht vom Staat behindert werden.» Das staatliche Angebot sei eher starr, Familien hätten wenig Auswahl, ihre Eigenverantwortung werde beschnitten. Bessard schlägt vor: «Der Staat muss Familien nicht stützen, damit Menschen freiwillig in einer Familie zusammen leben möchten. Familien gab es schon vor der Familienpolitik. Eine starke Familie braucht vor allem Respekt vor ihrer Autonomie.»

Beat Grossrieder, Neue Zürcher Zeitung

4. November 2013