«Die EU hat den falschen Weg eingeschlagen»
Ökonom Franz Jaeger über die Altersreform, die Zuwanderung und den Binnenmarkt.
Röpke-Preis für Franz Jäger
Das Liberale Institut Zürich verleiht jedes Jahr den Röpke-Preis für Zivilgesellschaft. Dieses Jahr geht er an Franz Jaeger (76). Jaeger war von 1971 bis 1995 Nationalrat für den Landesring der Unabhängigen und lehrte von 1972 bis 2007 Volkswirtschaft an der Universität St. Gallen. Der deutsche Volkswirtschafter Wilhelm Röpke (1899–1966) floh 1933 vor den Nationalsozialisten in die Türkei. Von 1937 bis 1966 forschte und lehrte er in Genf. Er kritisierte sowohl nationalsozialistischen wie kommunistischen Totalitarismus. Als klassischer Liberaler verteidigte er das Individuum und die freie Marktwirtschaft als Gesellschaftsform gegen staatliche Bevormundung und Eingriffe von oben in das Marktgeschehen. Im gewerblich geprägten föderalistischen, von unten nach oben organisierten Kleinstaat Schweiz sah er die optimale Staatsform zur Entfaltung des Einzelnen in der Gemeinschaft und der Wohlfahrt.
BaZ: Herr Jaeger, viele Schweizer sehen schwarz und haben Angst vor dem ökonomischen Abstieg. Sind diese Sorgen berechtigt?
Franz Jaeger: Es gibt das Risiko, dass wir in Europa in eine
Wachstumskrise geraten. Die Staaten sind überschuldet, die Demografie
ein vielerorts ungelöstes Problem. Es gibt grosse Migrationsströme, die
enorme Herausforderungen darstellen. Aber ich bin grundsätzlich ein
Optimist. Die junge Generation muss die Zukunft in die eigenen Hände
nehmen. Angst war noch nie ein guter Ratgeber.
Welche Verhältnisse übernimmt die junge Generation?
Die Bilanz meiner Generation ist nicht nur gut. Wir haben zum Teil auf
Kosten der Zukunft gelebt, denken wir an die hohe Schuldenlast, die
heute auf dem Staat liegt. In der Schweiz konnten wir das dank der
Schuldenbremse etwas stabilisieren, aber das Problem bleibt bestehen.
Und der Bundesrat will sie nun aufweichen, weil sie seine Politik
natürlich einschränkt. Aber das darf auf keinen Fall passieren.
Politiker dürfen nicht das Geld von jenen ausgeben, die noch nicht
geboren sind. Im Gegenteil: Man müsste so eine Schuldenbremse auch bei
den Sozialwerken einführen. Es gibt einen Reformbedarf und wenn wir das
nicht anpacken, dann bekommen die Pessimisten recht. Aber es muss nicht
so kommen.
Sie
waren 24 Jahre Nationalrat und 35 Jahre haben Sie als Wissenschaftler
unter anderem über Reformfähigkeit geforscht. Schafft die Politik die
nötigen Reformen überhaupt?
Die Reformfähigkeit der Politik ist natürlich beschränkt. Eine Reform
kostet in aller Regel zuerst. Erst langfristig führt sie zu einem
besseren Zustand. Allerdings gibt es darüber keine absolute Sicherheit.
Menschen bevorzugen aber grundsätzlich, was sie haben. Sie scheuen
Veränderungen. Das macht es natürlich schwierig, Reformen durchzuführen,
besonders in einer Demokratie. Die Stimmbürger müssen davon überzeugt
werden, dass der Nutzen einer Reform tatsächlich höher ist als die
Kosten. In autoritären Staaten ist es einfacher, dafür macht man dort
oft das Falsche.
Ist daran zum Beispiel die Altersreform gescheitert?
Wie man die Altersvorsorge retten kann, ist eigentlich klar. Man kann
nur an den Einnahmen, an der Rentenhöhe oder am Rentenalter etwas
ändern. Das Problem ist die Umsetzung, weil bereits Strukturen,
Ansprüche und Erwartungen bestehen. Man kommt dann diesen Strukturen
entgegen, oft zu weit, worauf die eigentlich Reformwilligen auch wieder
etwas gegen die Reform haben. Am Schluss scheitert das Vorhaben an einer
unheiligen Allianz unterschiedlicher Gegner.
Wie können denn Reformen gelingen?
Reformen müssen zwei Bedingungen erfüllen: Erstens braucht es
Transparenz über das Problem – mit Fakten, die wasserdicht sind.
Zweitens braucht es glaubwürdige Absender, die den langfristigen Nutzen
der Reform glaubhaft darlegen können. In der bürgerlichen Schweiz müssen
dazu die Bürgerlichen zusammenarbeiten und ihre Leute hinter sich
bringen.
Das macht nun aber nicht besonders optimistisch, dass Reformen gelingen.
Richtig. Aber oft klappt es schliesslich – oft erst mit Druck von aussen.
Sagen Sie mir ein Beispiel?
Ich war vor 25 Jahren für den Beitritt der Schweiz zum Europäischen
Wirtschaftsraum (EWR). Und ich bin noch heute der Ansicht, dass das
Konzept nicht so schlecht gewesen wäre. Aber mit dem EWR wäre eine
fatale Entwicklung eingeleitet worden, die unseren Föderalismus
ausgehöhlt und die Subsidiarität, die Zuständigkeit von Gemeinden und
Kantonen für möglichst viele Bereiche, zerstört hätte. Das Nein zum EWR
von 1992 war ein Schock und führte die Schweiz zuerst in ein Jammertal.
Aber daraus wurden Reformen möglich – so die letzte erfolgreiche
Altersreform, Direktzahlungen für die Landwirtschaft, Wettbewerbsrecht,
Freihandelsabkommen oder dann auch einige kleinere Reformen im
Binnenmarkt. Das war vorher nicht möglich.
Was hat das bewirkt?
Die Schweiz hat enorm von dieser Öffnung profitiert.
Damit verbunden war auch die Personenfreizügigkeit.
Richtig, allerdings mit zeitlicher Verzögerung. Die Wirtschaft braucht
den Zuzug von Arbeitskräften, aber wir sollten das besser noch
selektiver machen statt einfach offene Grenzen zu haben. Sonst ist das
Resultat vermehrt eine Zuwanderung in den Sozialstaat.
Braucht der Binnenmarkt die Personenfreizügigkeit überhaupt, um zu funktionieren?
Es ist unbestritten in der ökonomischen Forschung, dass freier Handel
von Kapital, Gütern, Ideen und Dienstleistungen ausreicht, um den
Wohlstand für alle zu vermehren. Damit Ideen ausgetauscht werden können,
braucht es nicht die absolute Personenfreizügigkeit, wie sie die EU von
uns fordert, sondern es genügt eine selektive Migrationspolitik, die es
Leuten mit guten Ideen erlaubt, sich in einem anderen Land
niederzulassen. Gegen eine solche Zuwanderung hat niemand etwas. Wer
allerdings die volle Personenfreizügigkeit für alle, ungeachtet ihrer
Fähigkeiten, verteidigt, unterstützt vor allem die Einwanderung von
Schlechtqualifizierten in den Sozialstaat. Damit ist aber niemandem
geholfen.
War das der Auslöser des Brexit in Grossbritannien?
Natürlich. Und es würde auch in zahlreichen anderen Ländern zu ähnlichen
Abstimmungsergebnissen kommen, wenn die Leute darüber abstimmen
dürften. Der Sozialstaat kommt wegen der Personenfreizügigkeit an seine
Grenzen. Wer den Sozialstaat und seinen hohen Standard bewahren will,
der müsste eigentlich die Zuwanderung auf qualifizierte Personen
begrenzen.
Woher könnte wieder solcher Druck von aussen kommen, zum Beispiel durch die Digitalisierung?
Durch die Digitalisierung kommt vor allem die Regulierung unter Druck.
Schauen Sie sich das Arbeitsrecht an, zum Beispiel die gesetzlich
vorgeschriebene Zeiterfassung. Diese Vorschriften atmen noch die Luft
des Klassenkampfes. Es ist unglaublich, wie rückständig wir da sind. Mir
gibt vor allem zu denken, wie sich die Wirtschaftsverbände rasch
zufriedengegeben haben.
Ist das so ein grosses Problem?
In der Wirtschaftspolitik ist es so: Jede einzelne Regulierung für sich
mag noch nicht schlimm so sein, aber viele Jäger sind des Hasen Tod. Die
Bürgerlichen müssen gegen jede einzelne dieser Vorschriften antreten.
Zusätzlich braucht es weitere Liberalisierungen beim Service public. Wir
sollten darüber reden, ob der Bund tatsächlich Unternehmer bei Post,
Swisscom oder SBB spielen soll. Ich finde nicht. Der Staat soll nicht
Unternehmer sein, sondern höchstens für öffentliche Dienstleistungen
sorgen, die sonst niemand erbringt.
In der politischen Diskussion wird sehr rasch behauptet, es brauche den Staat.
Ja natürlich. Das ist die ideologische Ausrichtung der SP. Es heisst
immer wieder, das Links-rechts-Schema sei überholt. Aber das stimmt
einfach nicht. Wir haben links die radikalen Etatisten, die immer mehr
verteilen, immer mehr Güter durch den Staat herstellen und so
Privilegien für wenige schaffen wollen. Dieser grosse Staat ist jedoch
korruptionsanfällig und unfair, schauen Sie sich doch an, wer in
Genossenschaftswohnungen lebt. Irgendwann geht dieser Ideologie zudem
das Geld aus. Auf der anderen Seite gibt es Widerstand gegen dieses
Konzept, besonders in der FDP und der SVP. Zu Recht weisen sie darauf
hin, dass die Rechnung der Etatisten nicht aufgeht.
Sie
haben den Röpke-Preis des Liberalen Instituts für Ihr Lebenswerk
erhalten. Hat Sie der Ökonom Wilhelm Röpke eigentlich geprägt?
Natürlich habe ich Röpke gelesen. Was Röpke für mich auszeichnet, ist,
dass er schon früh darauf hingewiesen hat, dass grösser nicht einfach
effizienter und besser bedeutet. Wenn Organisationen oder Staaten immer
grösser werden, werden sie irgendwann einmal ineffizient. Zudem bedeutet
Grösse immer auch Macht und Röpke sah darin eine Gefahr. Röpke
befürwortete die kleinräumigen Strukturen der Schweiz und der Schweizer
Wirtschaft. Er sah darin den Schlüssel zum Wirtschaftswachstum in der
Schweiz. Etwas, das ich selber später untersucht habe und bestätigen
kann. Marktwirtschaft soll aber zu Resultaten führen, von denen alle
profitieren. Das müssen sich Politiker wie Unternehmer bewusst sein,
sonst verliert die Marktwirtschaft den Rückhalt in der Bevölkerung.
Was würde Röpke zur EU von heute sagen?
Ich glaube mit ihm sagen zu können, dass die EU einen falschen Weg
eingeschlagen hat. Schauen Sie, man kann immer noch weiter
zentralisieren und die politische Union anstreben, aber dann braucht es
eine Transferpolitik, eine Steuerunion und eine Koordination aller
anderen Politikbereiche. Das könnte ökonomisch ja sogar noch
funktionieren, aber dieses Modell wird scheitern, schlicht weil der
Wille dazu fehlt. Es gibt nur einen Ausweg, nämlich eine EU, die sich
ganz strikt am Subsidiaritätsprinzip orientiert und faktisch genau dem
entspricht, was die Schweiz heute ist.
Wieso?
Weil es dann einen politischen Wettbewerb unter den Staaten gäbe, von dem die Bürger profitieren würden.
Wie würden sie profitieren?
Genau gleich wie hier in der Schweiz. Durch einen effizienten Staat und
eine tiefe Abgabenquote, viel Freiheit und wirtschaftliche Dynamik,
welche allen durch höheren Wohlstand und Vollbeschäftigung zugutekäme.
Heute steht die EU jedoch zwischen Stuhl und Bank. Leute wie der
französische Präsident Emmanuel Macron oder Kommissionspräsident
Jean-Claude Juncker möchten die politische Union vorantreiben. In
Deutschland und in Osteuropa gibt es dafür jedoch keine Zustimmung. Die
EU weiss gar nicht, in welche Richtung sie gehen will.
Wie soll sich die Schweiz verhalten?
Wir müssen auf unsere Souveränität achten. Natürlich sind wir nicht
autonom, aber wir sind immer noch weitgehend souverän, über unseren Weg
selber und eigenständig zu entscheiden. Darum stimme ich FDP-Präsidentin
Petra Gössi zu, dass die Guillotine-Klausel aus den Bilateralen
wegmuss, denn das ist ein riesiger Souveränitätsverlust. Das hätten wir
nicht akzeptieren sollen.
Die Befürworter sagen, das sei eben nötig, um den Zugang zum Binnenmarkt zu haben.
Da müssen wir uns daran erinnern, was eigentlich der Kern des
europäischen Binnenmarktes ist. Es soll ein Markt sein, der möglichst
wenig Barrieren und Hindernisse kennt. Das Ziel ist der Freihandel von
Gütern, Dienstleistungen, Kapital und Ideen. Wenn aber dieser
Binnenmarkt zu einem Regulierungsraum wird, dessen Regeln über das
nötige Minimum hinausgehen und sogar noch Drittländern wie der Schweiz
aufgezwungen werden, dann ist die Grundidee dieses Binnenmarktes tot.
Die Schweiz muss darum frei entscheiden, wo wir mitmachen wollen und wo
nicht. Der Binnenmarkt ist gut und wichtig, aber echte Weltoffenheit
geht weiter als in die Europäische Union. Die Schweizer Wirtschaft steht
im globalen Wettbewerb. Es besteht die Gefahr, dass die globale
Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz beschädigt wird, wenn wir uns
verpflichten, die Regulierung aus Brüssel zu übernehmen.
2. Januar 2018