«Freiheit ist generell unbequem und oft lästig»

Robert Nef über die Sozialwerke, die Justiz, den Föderalismus und das Kaputtfördern

Robert Nef, Jahrgang 1942, wurden schon viele Etiketten verpasst: vom bewundernd-ironischen «Gralshüter des Liberalismus» bis hin zum verächtlich gemeinten «Neoliberalen». Jurist Nef, der das Liberale Institut in Zürich seit der Gründung 1979 leitet, ist ein langjähriger und sehr wacher Beobachter der Schweizer Politiklandschaft. Zusammen mit Avenir Suisse organisiert das Liberale Institut am nächsten Donnerstag die dritte Auflage der Ideenmesse der Schweizer Think Tanks. Im Zentrum steht die Frage, wie eine liberale Agenda mit Blick auf die Wahlen 2007 auszusehen hat.

Herr Nef, der Motor der Schweizer Konjunktur läuft dieses und nächstes Jahr auf Hochtouren, da unser Land am weltweiten Wirtschaftswachstum voll partizipiert. Das ist doch nur elf Monate vor den Nationalratswahlen eine ‹gemähte Wiese› für liberale Parteien, die für offene Märkte und die Marktwirtschaft einstehen. Teilen Sie diese Zuversicht?

Die Weltwirtschaft beeinflusst die Haltung des Stimmvolkes und der Wählerschaft nicht nachhaltig. Die letztlich den Ausschlag gebenden Motive kennen wir nie, nicht einmal bei uns selbst.

Aber eine liberale Partei wie die FDP, die als wirtschaftsnah gilt, muss doch aus der prächtigen Verfassung der Wirtschaft Kapital schlagen können!

Ich wehre mich dagegen, den Liberalismus in eine wirtschaftliche, eine soziale und eine kulturelle Komponente aufzuspalten. Freiheit betrifft nämlich alle Lebensbereiche. Gleichwohl begeht, wer sich als Liberaler vom Begriff ‹Wirtschaftsliberalismus› distanziert, einen parteipolitischen Irrtum. Er nimmt einen zu engen Begriff von Wirtschaft auf, der polemisch verwendet wird und sich aufArbeitgeber und Produzenten beschränkt. Dabei sind wir alle die Wirtschaft, auch als Konsumenten und Arbeitnehmer. Die Stilisierung der FDP als bornierte Wirtschaftspartei kommt von der Gegenseite. Ich plädiere für ein positives und unverkrampftes Verhältnis zu allem, was mit Wirtschaft zu tun hat. Gleichwohl empfehle ich dem Freisinn nicht, sich voll als Partei der Wirtschaft zu profilieren, weil damit eben zu viele Missverständnisse verbunden sind.

Wenn Sie die Agenda für die Nationalratswahlen 2007 bestimmen könnten: Welche Themen stünden darauf?

Sachlich dringlich ist die Sanierung der Sozialwerke AHV und IV. Retuschen genügen nicht — wir müssen eine Grundsatzdebatte über die langfristige Umstellung und eine Neukonzeption der drei Säulen führen. Vielleicht braucht es eine radikale Abkehr vom Umlageprinzip zugunsten der Kapitaldeckung. Zudem ist die heutige dritte Säule, die Selbstvorsorge, für mich die erste. Politisch ist die Diskussion unattraktiv, wie man jetzt an den Reaktionen auf den Vorschlag des Bundesrats für einen tieferen Umwandlungssatz sieht. Ein zweites Feld heisst Privatisierung. Dabei müssen wir neue und präzisere Terminologien verwenden. Statt Privatisierung sage ich Benutzerfinanzierung und Öffnung der Märkte. Werden diese zwei Prinzipien befolgt, führt dies automatisch dort zu Privatisierung, wo Private besser und günstiger sind. Benutzerfinanzierung darf vor Bildung und Gesundheit nicht haltmachen.

Fast alle Parteien behaupten von sich, liberal zu sein — zumindest in bestimmten Bereichen. Ist die Attraktivität des Begriffs im politischen Wettbewerb ein gutes Zeichen oder ein schlechtes, weil es Beliebigkeit und Abnützung signalisiert?

Ich hätte lieber die erste Variante, aber die zweite ist plausibler. Um den klassischen radikalen vom opportunistischen Liberalismus zu unterscheiden, nehme ich folgende Lackmusprobe vor: Im Zentrum stehen der Zwang und das Zwangsmonopol, also der Staat. Wer in vielen Bereichen nach mehr Staatsmitteln und -interventionen ruft, kann sich nicht als liberal bezeichnen.

Gängig ist heute ist die Unterscheidung zwischen wirtschafts- und gesellschaftsliberal. Ist sie auch statthaft?

Die Unterscheidung krankt daran, dass Wirtschaft ein integrierter Bestandteil der Gesellschaft ist. Tauschbeziehungen und Verträge spielen in Gesellschaft und Wirtschaft eine zentrale Rolle. Ein anderes Beispiel: Auch das Phänomen Arbeit hat gesellschaftlich-sozial-kulturelle und politische Komponenten. Die Unterscheidung wirtschafts- und gesellschaftsliberal ist künstlich, weil keine tauglichen Kriterien existieren, um Gesellschaft von Wirtschaft zu trennen.

Weshalb werden die beiden Bezeichnungen denn überhaupt verwendet?

Das ist geschichtlich bedingt. In Kontinentaleuropa empfindet man Gewinnstreben und vor allem Handel als etwas Fremdes, das uns eher trennt als verbindet. Die Verachtung der Wirtschaft durch Intellektuelle und Kulturschaffende geht zurück bis in die Antike: Dort waren die Philosophen nicht wirtschaftlich tätig, und Ökonomie war ein der Politik untergeordneter Bereich. In der angelsächsischen Welt und in Teilen der Schweiz wird dagegen Arbeit, Werken und Schaffen selbst nach wie vor als etwas Positives betrachtet.

Bundesrat Christoph Blocher hat dazu aufgerufen, die Antirassismusnorm, die 1994 auch in liberalen Kreisen nicht unumstritten war, zu überarbeiten. Sein Kollege, der Freisinnige Pascal Couchepin, zeigte sich darob ‹schockiert›. Haben FDP und andere liberale Kreise zu dieser Diskussion nicht mehr zu sagen?

Ich kann nur für mich selbst sprechen: Als die Norm seinerzeit eingeführt wurde, habe ich sie weder politisch noch publizistisch bekämpft. Heute bedaure ich dies. Ich habe ihre Tragweite unterschätzt. Sowohl die Rassismus- als auch die Genozidbestimmung stellen einen schmerzlichen Eingriff in die Meinungsäusserungsfreiheit dar. Längerfristig könnte sich die Norm gemessen an der eigenen Zielsetzung sogar als kontraproduktiv erweisen.

Blocher hat mit seiner Interpretation des Abstimmungsergebnisses zum Ausländer- und Asylgesetz, dieses sei auch als Auftrag an Gerichte und Rekursinstanzen zu verstehen, ebenfalls Widerspruch geerntet. Vertreter der dritten Gewalt betonten, der Souverän dürfe eben nicht immer das letzte Wort haben. Was sagen Sie dazu?

Die Trennung der Gewalten ist ein wichtiger rechtsstaatlicher Grundsatz. Aber sie bedeutet nicht, dass sich Vertreter der einen Gewalt nicht zu anderen Bereichen kritisch äussern dürfen. Das gehört zum Wesen der Gewaltentrennung. Argumente und rationale Kritik sind gut, zwangsweise Beeinflussung ist dagegen nicht zulässig. Die Äusserungen, die hüben wie drüben zu hören waren, liegen weit unter der Bedenklichkeitsschwelle und haben nichts mit Zwangsgewalt zu tun.

Antirassismusnorm, Ausländer- und Asylgesetz und bald die SVP-Einbürgerungsinitiative: Es mehren sich die Anzeichen, dass die Judikative stärker in politische Auseinandersetzungen einbezogen wird. Ist das aus liberaler Warte eine gesunde Entwicklung?

Eine unabhängige Justiz ist eine ganz wichtige Errungenschaft, aber sie muss Gesetze anwenden und darf nicht eigene Ideen und Vorstellungen in die Rechtsprechung einfliessen lassen. Ich vermisse gelegentlich in der heutigen Rechtsprechung und auch bei der Regierung die sorgfältige Bindung an den Wortlaut von Verfassung und Gesetz. Massgebend für alle Staatsgewalten ist nämlich, was dort steht — und nicht, was man selbst für richtig hält.

Denken Sie dabei zum Beispiel an die Urteile des Bundesgerichts von 2003 in Sachen Einbürgerungen?

Dort wurzelt die Meinungsverschiedenheit tiefer. Wenn der Staat eine Körperschaft ist, dann sind die Mitglieder frei, darüber zu entscheiden, wer dazugehört und wer nicht. Ist der Staat aber eine Anstalt, die zur Benützung offen steht, ist es Sache der Anstaltsleitung, die Benützerordnung zu definieren und den Zugang zu regeln. In letzter Zeit mehren sich die Zeichen, dass der Staat immer mehr als Anstalt und immer weniger als Körperschaft begriffen wird. Als gebürtiger Appenzeller bevorzuge ich das Bild der Körperschaft — das hat aber nichts mit liberal oder unliberal zu tun.

Haben die bürgerlichen und liberalen Parteien in den vergangenen Jahren nicht zuletzt in personeller Hinsicht die Bedeutung der dritten Gewalt unterschätzt?

Doch, das Amt des Richters ist in der Schweiz zwar gut bezahlt, aber es steht nicht im gleich hohen Ansehen wie in den USA. Darum ist es nicht immer gelungen, hochqualifizierte Persönlichkeiten mit dem richtigen Parteibuch zu finden. Deshalb sind auch unsere Gerichte heute nicht optimal besetzt.

Sie haben verschiedentlich betont, dass dem Kleinstaat Schweiz die Neutralität aus liberaler Sicht gut anstehe. Haben Sie Freude daran, wie sich Bundesrätin Micheline Calmy-Rey für eine sogenannte aktive Neutralitätspolitik ins Zeug legt?

Nein, ich bin darob nicht glücklich. Tiefverankerte historische Wurzeln, die sich über Generationen bewährt haben, sollte man nicht kappen, nur weil sie momentan nicht en vogue sind. Diese Erkenntnis hat an sich wenig mit Liberalismus zu tun. Doch gibt es einen Zusammenhang: Eine Regierung, die sich aussenpolitisch neutral verhält, also einer Askese an Profilierung und Intervention verpflichtet ist, wird auch innenpolitisch eher zurückhaltend operieren. Selbstbescheidung nach aussen hat mit Machtverzicht zu tun, und das ist ein liberales Element.

Verfolgt man die Schlagzeilen der letzten Woche — Kinderbetreuung und Familienförderung, Bildung und Forschung, Rauchverbote oder Maulkorbzwang —, wird man das Gefühl nicht los, dass für sehr vieles eine staatliche Lösung vonnöten zu sein scheint und dass sie darüber hinaus auf Stufe Bund zu erfolgen hat. Wird so nicht der Föderalismus verwässert?

Der Föderalismus hat in den letzten zwei oder drei Jahren massive Rückschläge erlitten. Teilweise sind sie von den Hauptträgern des Föderalismus, den Kantonen respektive ihren Regierungen, selbst verschuldet. Man hört immer häufiger den pejorativen Begriff ‹Kantönligeist› und sieht im Föderalismus beispielsweise im Bildungsbereich nur das Schlechte und nicht die Chance des Experimentierens und des Wettbewerbs in kleinen Einheiten. Die Erosion findet publizistisch durch abwertende Begriffe statt, politisch ist sie auf die Bereitschaft der Kantonsregierungen zurückzuführen, über Absprachen in Gremien wie der Konferenz der Kantonsregierungen Teile der Autonomie gegen zusätzliche Förderungsmittel allzu billig zu verkaufen.

Höhlt der Ruf nach mehr Staat nicht auch die Eigenverantwortung aus?

Das ist so. Ich habe auch deshalb eine Allergie gegen alle Vorlagen, die vorgeben, sie würden etwas fördern. Sie gehen von der Prämisse aus, alles Gute und Nützliche müsse gleichzeitig und fast zwingend vom Staat gefördert werden. Das ist eine brandgefährliche Auffassung: Förderung ist auch eine Bevormundung, und das Verteilen von Krücken macht Leute selten selbständig. Ich verwende in Analogie zum Begriff des Kaputtsparens den Begriff Kaputtfördern. Ich finde viele Beispiele dafür.

Wie kommt es in einem Land mit einer soliden bürgerlichen Regierungsmehrheit, dass das Gewicht des Staates zunehmen und das der Eigenverantwortung schwinden kann?

Eigenverantwortung, Selbständigkeit und Freiheit ist generell unbequem und oft auch lästig. Die Mentalität, jemand von aussen müsse die Probleme des Lebens lösen helfen, liegt für viele näher als die Auffassung, dass gesunde Menschen für sich selbst verantwortlich sind und soziales Verhalten primär darin besteht, niemandem zur Last zu fallen.

Das Zentralisierungsfieber hat derzeit auch viele Kantone erfasst. Gemeinden werden fusioniert, teilweise mit Zwang und/oder finanziellen Anreizen. Ist das gut für unser Land?

Ich bin überzeugter Nonzentralist, aber nicht dogmatisch. Oft gibt es ökonomische Gründe, Infrastrukturdienstleistungen nicht zu kleinräumig anzubieten. Die beste Lösung wären indes die Benutzerfinanzierung und die Öffnung der Monopole und daraus resultierend allenfalls Privatisierung. Das ergäbe für Dienstleistungsbetriebe automatisch das richtige Einzugsgebiet.

Wie beurteilen Sie die beiden eidgenössischen Vorlagen vom Wochenende?

Aus liberaler Sicht weckt die Kohäsionsmilliarde Bedenken. Für ein Ja spricht, dass sich die Schweiz international verpflichtet hat. Manchmal kann es klug sein, gewisse Tribute zu bezahlen, die aus grundsätzlicher Sicht nicht geschuldet sind. Das Kinderzulagengesetz ist eine überflüssige Harmonisierung zulasten der Arbeitgeber.

Peter Kuster, Finanz und Wirtschaft

25. November 2006