Die AHV wird nicht nur von den Sozialdemokraten als «wichtigste Errungenschaft der Schweiz» gefeiert. Auch für Bürgerliche ist sie längst eine heilige Kuh. Dies spricht nicht, wie man annehmen könnte, für die AHV, sondern gegen den Zustand der Bürgerlichen. Die destruktiven Effekte der AHV auf Wirtschaft und Gesellschaft werden weitgehend verkannt. Nur für kurze Zeit vermögen die jeweiligen AHV-«Reförmchen» die Konstruktionsfehler des Umlagesystems zu kaschieren, während ein immer grösserer Schaden für die Allgemeinheit angerichtet wird. Wer es mit der Generationengerechtigkeit und der Bekämpfung der Altersarmut ernst meint, muss die Sache grundsätzlicher angehen.
Doch worin liegt überhaupt das Problem mit der AHV? Im Grunde genommen ist sie nicht eine Versicherung, sondern ein Schneeballsystem. Die Vorstellung, die Rentenbezüger hätten einen Rentenanspruch, weil sie «Beiträge» entrichtet hätten, ist falsch. Die erste Generation von AHV-Bezügern etwa erhielt eine Rente, ohne ins System überhaupt oder genügend eingezahlt zu haben. Sie profitierten — wie in einem typischen Schneeballsystem — auf Kosten künftiger Einzahler. Das System kann nur so lange aufrechterhalten werden, wie es jeweils neue Einzahler in das System gibt. Was in der Privatwirtschaft verboten ist, geht beim Staat liebevoll als «Sozialversicherung» durch.
Obwohl der offizielle AHV-Ausweis und die persönliche AHV-Nummer suggerieren, dass es sich um Einzahlungen auf ein persönliches AHV-Konto handle, ist dies nicht der Fall. Es werden hier keine persönlichen Ersparnisse aufs Alter hin gebildet. Den Arbeitstätigen wird vielmehr ein Teil ihres Einkommens wegbesteuert, der unmittelbar an die Rentenbezüger ausbezahlt wird, wo dieses Geld tendenziell in den Konsum fliesst.
Die AHV verhindert Wachstum
Diese Tatsache ist auch volkswirtschaftlich von entscheidender Bedeutung: Es wird weniger gespart und weniger investiert, als wenn individuell fürs Alter vorgesorgt würde. Damit werden die Wachstumspotenziale der Schweizer Wirtschaft wesentlich geschwächt. Konkret heisst dies: Die AHV vernichtet Wohlstand und trägt damit zur Altersarmut bei, die sie angeblich verhindern will.
Die Lebenserwartung ist seit Einführung der AHV erfreulicherweise von 68 auf 83 Jahre gestiegen. Das gesetzliche Referenzalter für den Rentenbezug ist dagegen bei 64 bzw. 65 Jahren steckengeblieben. Weil die Lohnabzüge zur Finanzierung dieser ausgedehnten Rentenzeit längst nicht mehr ausreichen, muss die AHV immer mehr durch die Mehrwertsteuer und weitere Steuern subventioniert werden, um die Auszahlungsansprüche abzudecken und das Schneeballsystem weiter am Leben zu erhalten. Inzwischen kostet die AHV jedes Jahr über 45 Milliarden Franken. Mehr als ein Viertel davon muss bereits über zusätzliche Steuerquellen finanziert werden.
Verfechter des staatlichen AHV-Umlageverfahrens behaupten, dass es in einem liberalen System der Altersvorsorge keine Garantie gäbe, dass Menschen genügend aufs Alter hin sparen würden. Diese Argumentationsweise ist problematisch, weil sie impliziert, dass es in einem verpolitisierten Schneeballsystem wie der AHV eine Art Garantie gäbe, wonach allen im Alter genügend Ressourcen zugeteilt würden. Dem ist mitnichten so. Das AHV-System ist nicht nachhaltig, weil es die Grundlagen seiner eigenen Finanzierung — die produktive Wirtschaft — immer stärker mit steigenden Steuern unterhöhlt. Eine wachsende Steuerlast bedeutet ein Erlahmen der Produktivkräfte. Irgendwann kommt unweigerlich der Moment, an dem nicht mehr genügend Mittel zusammenkommen, um die Ansprüche der Renten-Empfänger abzugelten.
Schluss mit sozialistischen Experimenten in der Altersvorsorge
Die 1948 eingeführte AHV war nicht immer so unangefochten wie heute: Noch 1931 lehnten 60,3 Prozent der Stimmbürger die Einführung des auf dem Umlageverfahren basierenden Sozialwerks ab. Dies, weil es der Ethik der Eigenverantwortung, welcher die Schweiz schon damals ihren relativ hohen Wohlstand zu verdanken hatte, diametral widerspricht.
In der Tat: Aus liberaler Sicht ist die Einführung der AHV alles andere als eine «Errungenschaft». Anstatt sich im wichtigen Bereich der Altersvorsorge mit sozialistischen Experimenten zu versuchen und auf ein mit Sicherheit nicht kommendes «Happy End» zu hoffen, wäre es sinnvoller, wenn die Menschen mit individuellen Alterssparkonten fürs Alter vorsorgen könnten. Ein Grossteil dieser Gelder würde dann produktiv angelegt werden, was das finanzielle Polster im Alter aufwertet und nebenbei auch Arbeitsplätze und Wohlstand schafft. Dass solche Modelle hervorragend funktionieren, haben andere Länder längst vorgezeigt.
Der Mix aus Marktwirtschaft, Eigenverantwortung und Solidarität wäre auch im Bereich der Altersvorsorge einem kollektivistischen Zwangssystem bei Weitem überlegen. Es wäre wesentlich weniger schmerzhaft, wenn wir aus freien Stücken eine echte AHV-Reform hin zu einem liberalen Kapitaldeckungsverfahren aufgleisen, als wenn wir eines tragischen Tages aus ökonomischer Alternativlosigkeit dazu gezwungen würden.
Dieser Beitrag ist am 9. Juni 2021 in der Weltwoche erschienen.
Olivier Kessler ist Direktor des Liberalen Instituts in Zürich.