Die skandalöse Erpressung einer Schweizer Grossbank in den USA und die jüngsten Angriffspläne der EU-Staaten gegen «Steueroasen» erinnern uns an eine unangenehme, doch immer wieder bestätigte Tatsache: Die fleissigsten Totengräber des Bankgeheimnisses befinden sich nicht in ausländischen Kanzleien, sondern in der Schweiz. Es ist vor allem die über Jahre geführte Politik der Kompromisse und des «Pragmatismus», die Politik des Entgegenkommens, der wir die immer brenzligere Position der Schweiz zu verdanken haben. Mit ihrem anhaltenden Anpassungsdrang hat die Schweizer Regierung das Land seiner Fähigkeit beraubt, für die überlegene Moral zu kämpfen. Eine Rückbesinnung auf den eigentlichen Sinn des Bankgeheimnisses, seiner Stellung im Systemwettbewerb zwischen den Staaten tut also not.
Das Bankgeheimnis wurde nie als Geschäftsstrategie für die Banken geschaffen, sondern als Eigentumsschutz der Sparer. Das Schweizer Bankgeheimnis wurde in die Gesetzgebung aufgenommen, als es galt, europäische Bürger vor Verfolgung und Enteignung durch diktatorische Staaten zu schützen. Damals brachten die Kunden ihre Gelder in Sicherheit, in die Schweiz — auch illegal. Andernorts wurde die Institution des Privateigentums durch Einschränkungen des internationalen Kapitalverkehrs und Devisenkontrollen ausgehöhlt.
Ermöglicht das Bankgeheimnis dabei auch die Steuerhinterziehung? In manchen Fällen ja — aber das macht es nicht a priori illegitim. Vielmehr ist das Bankgeheimnis die Folge eines elementaren Rechts auf Eigentum und Privatsphäre, das in anderen Lebensbereichen auch selbstverständlich anerkannt wird. In der heutigen Debatte wird daher die Moral von der falschen Seite beansprucht: Es ist der Schutz der individuellen Rechte, der moralisch stärker gewichtet werden muss, nicht die bedingungslose Unterwerfung des Individuums durch den Steuerstaat. Eine richtig verstandene Moral stärkt auch den Rechtsstaat: In der Schweiz, wo der Unterschied zwischen Steuerbetrug und Steuerhinterziehung gilt, ist die Steuerehrlichkeit der Bürger bekanntlich höher als in anderen Ländern.
Masslose Gier der Regierungen
Tatsächlich als unmoralisch zu bezeichnen ist dagegen die masslose fiskalische Gier vieler Regierungen. Staaten gehen immer verschwenderischer und kurzsichtiger mit den Ressourcen ihrer Bürger um. Zurzeit liegt etwa die Verschuldung der US-Regierung bei 72 000 Dollar pro Steuerzahler — ein Anstieg von 62 Prozent seit 2000, ohne Berücksichtigung der nicht finanzierten Ansprüche des staatlichen Pensionssystems. Dieser Verschuldungsanstieg ist auch die Folge von undurchdachten militärischen Einsätzen, in denen sich die US-Regierung kaum als Hüterin der Menschenrechte profilierte. Es ist nicht verwunderlich, dass manche US-Bürger unter diesen Umständen die Früchte ihrer Arbeit für sich und ihre Kinder in Sicherheit bringen wollen.
Hat eine Regierung aber nicht das Recht, ihre Bürger nach eigenen Vorschriften zu besteuern? Die Antwort lautet: nicht unbedingt. Staaten stehen nicht grundsätzlich über moralischen Normen. So verweigern manche Länder aufgrund der dort drohenden Todesstrafe etwa die Auslieferung von Verbrechern an die USA. Unterschiedliche Länder entwickeln unterschiedliche Systeme, und nicht jedes Rechtssystem lässt sich moralisch rechtfertigen.
Der Wettbewerb der Systeme
Bis zu einem gewissen Grad sind die Bürger stets ihrem territorialen Gewaltmonopolisten ausgeliefert. Das Vertrauen auf die Gutmütigkeit der Staatslenker kann dabei empirisch nicht als eine erfolgreiche Abwehrstrategie betrachtet werden. Nur der Wettbewerb der Systeme dämmt das machtmissbräuchliche und konfiskatorische Potenzial des Staates ein. Er ermöglicht das Experimentieren mit unterschiedlichen Ordnungen und erlaubt Bürgern, in ein bevorzugtes System auszuweichen.
Aus diesem Grund ist es moralisch legitim, sein Einkommen nicht bedingungslos einer konfiskatorischen Besteuerung auszusetzen, sondern andere Optionen zu erkunden. Natürlich erhöht die Steuervermeidung dabei auch den Druck auf die Regierungen, ihre Abgaben auf ein erträgliches Niveau zu senken. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die US-Regierung sowie viele EU-Staaten vor allem aus fiskalischer Verzweiflung handeln, sie wollen sich der lästigen Konkurrenz entledigen. Keine Spur von höherer Moral.
Eine Aufgabe des Bankgeheimnisses wäre aus diesen Gründen nicht nur ein schwerwiegender ökonomischer und rechtlicher Rückschritt, sie wäre auch der Ausdruck eines geistig-moralischen Verfalls unseres Landes. Die Schweiz musste sich schon mehrmals in der Geschichte als Hort der Freiheit in Europa behaupten. Das Schweizer Bankgeheimnis wird umso bedeutender, je weniger andere Staaten es respektieren. Anders als vielerorts behauptet, geht es daher heute nicht um die Erörterung von Alternativen zum Bankgeheimnis. Vielmehr ist das Schweizer Bankgeheimnis gerade jetzt mit allen Mitteln und aller Kraft zu verteidigen und zu stärken. Selbst dann, wenn dafür kurzfristig wirtschaftliche Nachteile in Kauf genommen werden müssen.
Dieser Artikel wurde in der Weltwoche publiziert.