Weit davon entfernt, eine geschlossene Theorie des Etatismus zu präsentieren, möchte ich doch den Versuch unternehmen, einige Beobachtungen zu den Denk- und Argumentationsstrukturen des Staatsglaubens zu formulieren. Begegnet sind mir die hier besprochenen Aspekte jüngst erneut im Rahmen einer Diskussion des staatlichen „Kinderschutzes“ — von Killerspielen über vernachlässigende Eltern bis hin zur Schulpflicht. In der Argumentation meiner Gesprächspartner fielen mir dabei vor allem die folgenden Ideen und Vorstellungen auf:
Der Glaube: Befürworter staatlicher Interventionen verfolgen regelmässig humanistische Ziele — sie wollen aufrichtig das Wohlbefinden ihrer Mitmenschen gesteigert sehen. Der Staat wird dabei dann vor allem deshalb als geeignetes Mittel oder Instrument betrachtet, weil der so beschriebenen Perspektive ein völlig obskures Verständnis der Institution „Staat“ zugrunde liegt. Der Staat wird hier tatsächlich als eine Art gütige, allwissende und allmächtige Institution betrachtet, die durch eine nicht näher definierte Form der „Magie“ beinahe jedes Problem lösen kann. Die reale Funktionsweise des Gewaltmonopolisten und seiner Agenten, die Eignung dieser Institution für eine Problemlösung wird somit nicht näher hinterfragt — es herrscht eine Art undifferenzierte Gutgläubigkeit vor. So entstehen Argumentationsmuster wie: „Es kann nicht sein, dass Kinder misshandelt werden — da müssen doch die Jugendämter Familien stärker kontrollieren.“ Fragen nach den Nachteilen solcher Eingriffe, der Eignung des Eingriffs für eine tatsächliche Problemlösung oder der moralischen Grundlage solcher Interventionen werden hier schlicht überdeckt durch den Glauben an die segensreiche Macht des Staates. (Nur am Rande sei erwähnt, dass dieser undifferenzierte Glaube an die Macht des Staates vor allem auch in der Volkswirtschaftslehre grosse Verbreitung findet, wo jede Form des „Marktversagens“ gerne argumentativ durch nicht näher spezifizierte Staatseingriffe beseitigt wird.)
Die Beweislastumkehr: Anthony de Jasay fordert ebenso ein- wie nachdrücklich, dass stets derjenige, der Zwang befürwortet, die Notwendigkeit der Ausübung von Zwang begründen sollte — nicht also derjenige, der die Freiheit gegen Zwang verteidigen möchte. In der Realität verhält sich dies jedoch meist genau umgekehrt. Nicht der Sinn oder Unsinn eines Staatseingriffs wird in der Regel kritisch beleuchtet, sondern die möglichen Gefahren eines Nicht-Eingriffs. In unserem Beispiel stünde also etwa die Frage im Vordergrund, was Kindern alles zustossen könnte, wenn der Staat Familien nicht überwacht? Staatliche Interventionen werden folglich als eine Art präventive Massnahme grundsätzlich begrüsst. Die „liberale Beweislast“ nach de Jasay wird damit schlicht umgekehrt — der Befürworter der Freiheit muss nun belegen, dass die Abwesenheit von Zwang vorzugswürdig wäre. Dieser Grundsatz des „in dubio pro potestas“ führt dann in letzter Konsequenz zu einem Phänomen, das ich gerne mit dem „Ministerium für Sonnenschein“ exemplifiziere. Das Ministerium für Sonnenschein wurde geschaffen, weil Sonnenschein als allgemein wünschenswert beurteilt wurde und die magische Institution Staat sich daher um die Erhöhung der Anzahl der Sonnentage kümmern sollte. Wenn nun der Liberale ein solches Ministerium für reine Geldverschwendung hielte und seine Abschaffung forderte, dann würde ihm der Etatist entgegenhalten: „Aber es regnet doch wirklich nur an jedem dritten Tag. Wer weiss was passiert, wenn wir das Ministerium für Sonnenschein abschaffen — kannst du, Liberaler, mir garantieren, dass die Zahl der Sonnentage nicht zurückgehen wird? Nein nein, da gehe ich doch lieber auf Nummer sicher.”
Das Menschenbild: Ebenso naive wie humanistisch motivierte Etatisten, wie sie hier primär behandelt werden, vertreten meist ein „schizophrenes“ Menschenbild — genauer werden den Mitmenschen negative Eigenschaften zugeschrieben, die man für sich entrüstet zurückweisen würde. Der Etatist geht also pauschal davon aus, dass seine Mitmenschen dümmer oder unmündiger sind, als er selbst. Um wieder zu unserem Beispiel des Kinderschutzes zurückzukehren, würde er etwa argumentieren: „Ja ich kümmere mich natürlich um meine Kinder, aber andere Menschen sind dafür zu bequem. Deshalb kann die Schulpflicht nicht abgeschafft werden — die anderen würden dann alle ihre Kinder vewildern lassen oder sie gar zu Kinderarbeit zwingen.“ Unter diesem Gesichtspunkt schliesst sich der etatistische Denkzirkel — denn die angenommene Inkompetenz der Mitmenschen ist sozusagen das passende Gegenstück der angenommenen Allmacht des Staates. Beide legen nicht nur die Befürwortung einer staatlichen Intervention nahe, in Verbindung mit der etatistischen Beweislastumkehr verbieten sie geradezu das Risiko freiheitlicher „Experimente”.
Nun spielt ein naiv-humanistischer Etatismus in der Realität des Staates sicher eine untergeordnete Rolle. Die grosse Mehrzahl staatlicher Interventionen stellt schlicht eine Bereicherung der einen Gruppe auf Kosten einer anderen dar. Ohne eine solche Bereicherung gäbe es schliesslich für die Agenten des Staates keinen Anreiz, tatsächlich eine Intervention durchzuführen. Für die Legitimation, die psychologische Fundierung des Staates dürfte er jedoch von nicht zu unterschätzender Relevanz sein. Selbst die plumpesten Bereicherungsmassnahmen hüllen sich daher gerne in ein humanistisches Mäntelchen — insbesondere in den westlichen Wohlfahrtsstaaten. Den quietistischen Bürgern dieser Staaten muss jedoch zugute gehalten werden, dass sie in ihrer Befürwortung staatlichen Zwangs zumindest gute Absichten verfolgen — letztlich beruhen Staaten schliesslich nicht alleine auf roher Gewalt, sondern auf der Zustimmung ihrer Subjekte. Und obwohl eine solche Zustimmung zweifellos auch erkauft werden kann, wäre ein solches Vorgehen nicht mit dem (moralischen) Selbstbild der meisten Menschen vereinbar. Der gute Zweck ist somit so etwas wie das Herz des Etatismus, er ermöglicht, dass der Advokat des Zwangs mit ruhigem Gewissen schlafen kann. Das Beispiel des Kinderschutzes verdeutlicht sehr schön diese Rolle und Relevanz des naiv-humanistischen Etatismus — es liesse sich jedoch ohne Weiteres durch andere „gute Zwecke“, wie etwa die Kulturförderung, den Umweltschutz oder Arbeitnehmer“rechte“ ersetzen. Der Liberale täte daher gut daran, die kalte Rationalität des Utilitarismus — welche ja nun in der Regel für freiheitliche Lösungen spricht — durch moralische Überlegungen und psychologisches Verständnis zu ergänzen. Der Weg zur Freiheit führt eben nicht primär über den Geldbeutel, sondern das Herz der Menschen.
Publiziert auf freilich.ch