Die Rechtsstaatlichkeit und die Demokratie freier Gesellschaften sind seit Jahrzehnten nicht nur von einer schleichenden Erosion, sondern auch von aggressiven Ideologien bedroht, die fordern, dass die Werte einer freien Gesellschaft untergeordnet werden müssen unter vermeintlich höhere und absolute Werte. Jüngste Beispiele für solche Ideologien sind der Islamische Staat in Syrien und im Irak (ISIS), die Taliban in Afghanistan und Boko Haram in Nigeria. Alle diese Bewegungen fordern die Schaffung eines Kalifats, das von einer Führung beherrscht wird, die weltliche und spirituelle Macht verbindet. Ungläubige und Andersgläubige, die an etwas anderes als eine radikale Form des Islams glauben, werden verfolgt, unterdrückt und getötet. Um ihre Ziele zu erreichen, nutzen diese ideologischen Bewegungen die weltliche Macht des Staates, wenn sie in der Lage waren, diese zu erobern oder zu übernehmen, oder sie wenden Terror an, um von ihnen beherrschte Staaten zu gründen oder zu errichten.
In einer langfristigen Perspektive haben nicht nur metaphysisch begründete Religionen absolute Werte postuliert (wir bezweifeln übrigens nicht die metaphysische Wahrheit monotheistischer Religionen, sondern beschäftigen uns mit den Folgen ihrer Vorgaben in der realen Welt). Auch nicht religiös begründete Ideologien tun dies. Während des 20. Jahrhunderts waren das bolschewistische Regime in der Sowjetunion und andere kommunistische Regime und die Herrschaft der Nationalsozialisten in Deutschland Beispiele. Beide versprachen das Paradies auf Erden, wenn entweder der Kapitalismus durch die Arbeiterklasse beseitigt oder die arische Rasse den Globus unterwerfen würde. Nichtgläubige oder Nicht-Konvertierbare wie die Bourgeois oder die Juden mussten verfolgt oder «entfernt» werden.
Verfolgung von Andersdenkenden als Charakteristikum
Was führt zum Aufstieg solcher Regime? Dank einer Rational-Choice-Perspektive ist es möglich, die Faktoren heraus zu arbeiten, die zu Totalitarismus führen und diejenigen, die diesen transformieren oder abwenden können. All diese Ideologien postulieren erstens, dass ihre Werte absolut wahr sind und über allem anderen stehen. Deshalb müsste ihnen alles und jeder unterworfen und wenn nötig sogar geopfert werden, um sie zu erreichen. Im Klartext bedeutet dies, dass die Gläubigen auch dazu bereit sind, ihr Leben zu opfern und dass alle Menschen, welche diese Werte ablehnen, verfolgt, ins Exil getrieben oder getötet werden müssen. Und tatsächlich – totalitäre Regime, die ihre Ziele noch nicht erreicht haben, sind von Blutspuren gekennzeichnet (die Anzahl ermordeter Personen schwankt zwischen rund 62 Millionen in der Sowjetunion, 35,2 Millionen im Kommunistischen China, 30 Millionen durch die Mongolen, 21 Millionen durch die Nazis und viel kleineren Anzahlen wie 1 Million durch die Azteken und nur 58 Personen im kalvinistischen Genf). Das wird nur anders in Fällen, in denen alle Menschen in einer Nation an die höchsten Werte der jeweiligen Ideologie glauben oder vorgeben, das zu tun. Wenn dies geschieht, wird sich eine reife «Ideokratie» entwickeln, in der die Verfolgung von Menschen beendet wird oder eine Ausnahme bleibt. Ein aktuelles Beispiel für eine solch reife «Ideokratie» ist der Islamische Staat Iran.
Da die höchsten Werte verschiedener Ideologien sich regelmässig widersprechen, können sie nicht allesamt absolut wahr sein, wie von ihren jeweiligen Anhängern behauptet wird. Und tatsächlich kann die Wissenschaft keine absolut wahren Ergebnisse liefern, wie beispielsweise bei der Ersetzung der Newtonschen Gravitationstheorie durch Einsteins allgemeine Relativitätstheorie klargeworden ist.
Wirtschaftliche Stärke als Existenzbedingung
Die Entwicklung von Ideologien mit übergeordneten Werten ist eine Voraussetzung für die Schaffung eines totalitären Regimes. Aber dies alleine reicht noch nicht aus. Als zweite Bedingung muss eine Krise auftreten, damit genügend Menschen bereit sind zu glauben, dass die Versprechungen der Ideologie ihnen helfen könnten, ihre persönlichen Probleme zu überwinden. Dies war in jüngster Zeit im Nahen Osten mit ISIS der Fall, wo der Bürgerkrieg ein totalitäres Regime befördert hat. Die Nationalsozialisten kamen nur wegen der Grossen Depression in Deutschland und die Sowjets nur aufgrund der schrecklichen Ereignisse während des Ersten Weltkriegs in Russland an die Macht. Diese Beispiele zeigen auch, dass Macht in solchen Krisen auf unterschiedliche Weise erlangt werden kann. Den Nationalsozialisten wurde in der Weimarer Republik durch ihre Wahlergebnisse und die Bereitschaft der Konservativen, mit ihnen eine Koalitionsregierung zu bilden, geholfen. Im russischen Fall waren ein Putsch der Sowjets und ein längerer Bürgerkrieg notwendig, um die weltliche Macht des Staates zu erlangen.
Nachdem in einem Land ein totalitäres Regime geschaffen wurde, hängt die weitere Entwicklung von der relativen Bedeutung des Landes im internationalen Machtsystem und von den Zielen ab, die in den höchsten Werten der jeweiligen Ideologie enthalten sind. Wenn die Ideologie nach der Weltherrschaft strebt, wie es das Ziel der nationalsozialistischen und bolschewistischen Regierungen war und auch das vorgebliche Ziel des Islamischen Staates in Syrien und im Irak ist, werden gewaltige Hindernisse für einen Erfolg auftauchen. Erstens hat nur eine Grossmacht eine Chance, solche Ziele zu erreichen. Es ist daher nicht überraschend, dass Hitler den Krieg gegen ein Bündnis der anderen Grossmächte verloren hat. Und selbst die Sowjetunion und ihre kommunistischen Verbündeten waren am Ende gegen die von den USA angeführten Westmächte nicht erfolgreich. Wenn darüber hinaus die höchsten Werte ein wirtschaftliches Regime einer Planwirtschaft implizieren, kann das jeweilige Regime nicht genug wirtschaftliche Macht entwickeln, die für überlegene Streitkräfte notwendig ist. Und es versteht sich von selbst, dass kleine Staaten wie ISIS oder die früher in Afghanistan vorherrschenden Taliban niemals in der Lage sein werden, ihre islamische Herrschaft über den Globus zu verbreiten. Sie haben vielleicht nur eine Chance auf Erfolg, wenn die anderen Länder ihnen erlauben, sie mit ihrer Ideologie zu infiltrieren.
Partielle Anpassung der Ideologie
Was sind die zu erwartenden Konsequenzen angesichts dieser gewaltigen Hindernisse für totalitäre Regime, um ihre Ziele zu erreichen? Erstens können sie wie die Nationalsozialisten oder ISIS in Kriegen besiegt und eliminiert werden. Manchmal reagieren sie darauf, indem sie versuchen, die weltliche Macht zurückzugewinnen, indem sie sich dem Terrorismus zuwenden. Oder sie brechen zusammen wie die Sowjetunion, weil das von ihrer Ideologie postulierte Wirtschaftssystem so ineffizient ist, dass sie letztlich zerfallen. Schliesslich kann ihre Führung nach schweren Rückschlägen erkennen, dass das von ihrer Ideologie postulierte Wirtschaftssystem die Entwicklung zu einer Grossmacht dauerhaft behindern wird. Wie China seit den späten 1970er Jahren, können sie den wirtschaftlichen Gehalt ihrer Ideologie ändern und versuchen, ihr totalitäres Regime aufrechtzuerhalten, indem sie den Reichtum ihrer Bevölkerung fördern.
Zusammenfassend ist zu erwarten, dass totalitäre Regime nach einer gewissen Zeit entweder besiegt werden oder ihre ideologischen Ziele auf eine Weise abändern, die mit ihrer totalitären Natur unvereinbar ist. Sie werden im Krieg von anderen Grossmächten besiegt, wenn sie versuchen, den Globus ihren ideologischen Zielen mit Gewalt zu unterwerfen. Oder sie ändern die Art ihrer ideologischen Ziele, den Globus zu unterwerfen, weil ihre Führung erkennt, dass sich die Pläne nicht umsetzen lassen, weil die Natur ihrer Ideologie dazu führt, dass man wirtschaftlich anderen Grossmächten unterliegen würde. Oder ihre ideologischen Ziele sind auf ein Land beschränkt, in welchem die Bevölkerung schliesslich diese ideologischen Ziele akzeptiert oder zumindest vorgibt, sie zu akzeptieren, was zu einer reifen «Ideokratie» führt. Das kommunistische China zum Beispiel hat seine ökonomischen Ziele von einem sozialistischen zu einem eher kapitalistischen Wirtschaftssystem verändert. Es ist durchaus möglich, dass der steigende Wohlstand der Bevölkerung zusammen mit der grösseren wirtschaftlichen Freiheit, die erforderlich ist, um die wirtschaftliche Entwicklung weiter voranzutreiben, schliesslich auch zu einer Abschaffung des totalitären politischen Regimes führen wird.
Der Autor ist emeritierter Professor für Nationalökonomie an der Universität Basel. Er erhielt 2014 den Röpke-Preis für Zivilgesellschaft des Liberalen Instituts. Sein Buch «Totalitarianism, Terrorism and Supreme Values: History and Theory», das 18 totalitäre Regime und 5 Ideokratien untersucht, ist hier bestellbar.