Es gehört zum Wesen des Menschen, dass er den Wettbewerb als theoretischen Wert gerne hochhält, ihn aber in der Praxis lieber ausschaltet, wenn es um die Durchsetzung der eigenen Interessen geht. Vor allem Politiker neigen aus wahltaktischen Überlegungen dazu, einzelne, gut organisierte Interessengruppen zu bedienen anstatt Kollektivgüter für die Bürger bereitzustellen wie die allgemeine Eigentums-, Erwerbs- oder Vertragsfreiheit. Aber auch Unternehmer, Manager und Arbeitnehmer tendieren dazu, sich der beschwerlichen Aufgabe, stets konkurrenzfähig zu sein, so weit als möglich zu entziehen. Daher liegt oft die Versuchung nahe, den Umfang und die Intensität des Marktgeschehens aktiv mit-zu¬gestalten, sei es durch direkten Lobbyismus oder über spezifische Interessenvertreter wie Parteien und Verbände.
Korporatismus schafft Opfer
Einen natürlichen, marktkonformen Wettbewerbsvorsprung verschaffen sich Unternehmen in erster Linie durch bessere Produkte, Dienstleistungen oder technische Innovationen. Dem gegenüber stehen marktfeindliche Strategien wie Kartell- und Monopolbildung oder korporatistische Absprachen. Der Korporatismus (eigentlich Korporativismus), ist aus klassisch-liberaler Sicht besonders gefährlich und prinzipiell zu verurteilen, weil er der Gemeinwohlorientierung der Marktwirtschaft und damit einer freiheitlichen und offenen Gesellschaft erheblichen Schaden zufügt.
Korporatismus nennt sich ein solches System, in welchem Interessenverbände und staatliche Behörden verbindliche, der demokratischen Kontrolle entzogene Vereinbarungen treffen, wie beispielsweise technische Vorschriften, Preisbindungen, Importbeschränkungen, Exportrisikogarantien, Gesamtarbeitsverträge oder Kündigungsschutz. Durch diese unzähligen Eingriffe in den freien Wettbewerb verschaffen sich spezifische Interessengruppen einen Einkommensvorteil, während sie die Kosten der Allgemeinheit, also den Konsumenten oder den Steuerzahlern überbürden. Beispielsweise liegt die drastische Zunahme von Bezügern einer Invalidenrente in der Schweiz auch darin begründet, dass ein zunehmend regulierter Arbeitsmarkt zwar bestimmte Gruppen von Unternehmen und Arbeitnehmern begünstigt und absichert, dafür aber andere Unternehmen und generell Arbeitssuchende wie ältere Leute oder Schulabgänger benachteiligt. Deren Chancen- und Perspektivenlosigkeit können sie schliesslich zu Opfern des Korporatismus werden lassen, denen sich dann der Wohlfahrtsstaat, gefördert und ausgebaut durch die Politiker, paternalistisch annimmt. Damit wird die Arbeitslosigkeit scheinbar tief gehalten; die dabei anfallenden Kosten werden allerdings der Allgemeinheit übertragen in Form von höheren Abgaben, Steuern und weiteren flankierenden Massnahmen.
Zwei Arten des Korporatismus
Das Phänomen des Korporatismus ist so alt wie die Gesellschaft und daher nicht auf eine spezifische Staats- und Regierungsformen beschränkt. Der ideologisch aufgeladene Begriff „Korporatismus“ tauchte jedoch, wie alle „-ismen“, erst in der Epoche der Neuzeit auf, als die Ständegesellschaft in Auflösung begriffen war und sich in der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft neue Formen und Gebilde des sozialen Zusammenhalts und der Interessen¬vertretung entwickelten, wie zum Beispiel Genossenschaften, Verbände oder Parteien. Der Korporatismus war gleichsam eine Ideologie, die mittelalterlichen berufsständischen Korporationen zu erneuern als Gegenentwurf zur bürgerlich-liberalen Gesellschaft. Vertreten wurde sie vor allem von Konservativen und Sozialisten. Vielfach wird jedoch vergessen, dass es zwei Arten des Korporatismus gibt, die zwar prinzipiell als ähnlich schädlich einzustufen sind, aber dennoch unterschiedliche Wurzeln haben.
Generell lässt sich zwischen einem freiwillig-freiheitlichen und einem autoritären, respektive zugespitzt einem totalitären Korporatismus unterscheiden. Der totalitäre Korporatismus, wie er im Faschismus und im Kommunismus praktiziert wurde, war ein deformierter Versuch, soziale Integration mittels staatlich gelenkten Zwangsverbänden herbeizuführen. Der autoritäre Korporatismus unterscheidet sich vom totalitären durch eine von staatlicher Seite initiierte und begünstigte, aber grundsätzlich im Rechtsstaat eingebundene Form von Interessenverbänden. Dieser findet sich vor allem in den Ländern mit einer ausgesprochenen obrigkeitlichen, vom administrativen Befehls- und Subordinationsprinzip durchtränkten Tradition, wie in Deutschland, Frankreich, Italien oder Österreich. In diesen Ländern hat sich der autoritäre Korporatismus in Gestalt der staatlichen Sozialpartnerschaft bis heute erhalten und erweist sich als eine immer höhere Hürde gegenüber marktwirtschaftlichen Reformen.
Selbstverwaltung und freiheitlicher Korporatismus
Dem autoritären Korporatismus gegenüber steht der freiwillig-freiheitliche Korporatismus, der oft auch Neokorporatismus genannt wird. Er hat sich in Gesellschaften entfaltet mit einer kommunalen Selbstverwaltungstradition, die sich politisch von unten nach oben aufbauten und daher einen geringeren Grad an Bürokratisierung und Zentralisierung aufwiesen. Dazu zählen die Länder der angelsächsischen Welt, die Niederlande, die skandinavischen Staaten sowie die Schweiz. Nicht zufällig entwickelte sich das freiwillig organisierte Verbandswesen zunächst in solchen Gesellschaften, die über eine lange zivilgesellschaftliche Tradition verfügen, währenddem es in Ländern mit obrigkeitlicher Tradition erst mit der Etablierung des Rechstaates und daher von Beginn weg ein Teil der staatlichen Ordnung war.
Besonders in der Schweiz ist die freiheitliche Spielart des Korporatismus tief verwurzelt. Die hohe Kommunalautonomie, das Milizprinzip, die Kleinräumigkeit, die Volksrechte und die geostrategische Lage im Herzen Europas haben den Korporatismus als eine spezifisch eidgenössische Form des knappheitsbedingten Angleichens und Ausgleichens von politischen und wirtschaftlichen Interessen geradezu bedingt. Diese politisch-gesellschaftlichen Voraussetzungen haben sich mit der Gründung des Bundesstaates im Jahr 1848 als äusserst vorteilhaft erwiesen. Binnen Jahrzehnten erlebte die Schweiz einen beispielslosen industriellen Aufstieg, von dessen Erbe sie bis heute als eines der ökonomisch erfolgreichsten Länder der Welt zählt.
Im Sog der Zentralisierung
Allerdings stimmen gegenwärtig auch einige Zahlen bedenklich und lassen vermuten, dass der Zenit des wirtschaftlichen Erfolgs der Schweiz überschritten sein könnte. Seit den 1960er Jahren erzielen Bund, Kantone und Gemeinden regelmässig Defizite. Diese negative Differenz zwischen Einnahmen und Ausgaben wird einerseits durch eine neue Steuer- und Abgabenlast und andererseits durch zusätzliche Verschuldung ausgeglichen. Das kontinuierliche Ansteigen der Staats-, der Fiskal- und der Steuerquote ist vor allem die Konsequenz des regelungsintensiven Wohlfahrtsstaates, der kontinuierlich ausgebaut wird und die politisch-soziale Landschaft der Schweiz tiefgreifend verändert. Den staatlichen Machtzuwachs illustrieren auch die Zahlen der Beamten und der Personalausgaben. 1848 zählte die Bundesverwaltung beispielsweise 489 Beamte. Heute sind es über 33’000 und die Tendenz ist steigend. Von den gesamten Ausgaben von Bund, Kantonen und Gemeinden entfällt rund ein Drittel auf den Personalaufwand.
Die fatale Weichenstellung für diese Missstände erfolgte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als die Schweiz in den weltkriegsbedingten Sog der Zentralisierung und Umverteilung geriet und sich davon bis heute, weder geistig noch politisch, zu befreien vermochte. Bis zum Ersten Weltkrieg blieb die Wirtschafts- und Sozialpolitik weitgehend im Kompetenzbereich der Gemeinden und der Kantone. Erst in den 1920er Jahren schaffte der Bund, einer gesamteuropäischen Entwicklung folgend, die Grundlagen für eine Umverteilungs-, Interventions- und Vorsorgepolitik. Der Zürcher Staatsrechtslehrer Zaccaria Giacometti schrieb 1950 vorausschauend: „Die Notrechtsgesetzgebung hat bekanntlich seit ungefähr 15 Jahren, insbesondere seit 1939, ungeahnte Dimensionen erreicht, was dem Etatismus mächtigen Auftrieb gab. Damit wurde der Rechtsstaat durch Missachtung vorab des Grundsatzes der formellen und materiellen Verfassungsmässigkeit der Gesetz¬gebung aus den Angeln gehoben und die Freiheitsrechte sowie die kantonalen Kompetenzen infolgedessen weitgehend auf Eis gelegt.“ Parallel dazu stieg die Steuerlast. Mit der Gründung des Bundesstaates im Jahr 1848 wurde die Steuerordnung grundsätzlich geändert. Die Zollhoheit ging vollumfänglich auf den Bund über, während die Kantone auf die Steuereinnahmen durch Vermögen und Einkommen greifen konnten, was sich mit dem Aufstieg der Industrie als immer lukrativer erwies. Diese Verteilung der Steuerquellen blieb bis zum Ersten Weltkrieg erhalten. Erst dessen Folgelasten zwangen den Bund und die Kantone zur Änderung ihrer Steuergesetzgebung durch die Aufgabe der klassischen Zweiteilung. Auf Grund der hohen Verteidigungskosten verschaffte sich der Bund das Recht, direkte Steuern auf Einkommen und Vermögen zu erheben.
Wohlfahrtsstaat als Kehrseite des Korporatismus
Die direkte, progressiv ausgestaltete Bundessteuer und die umlagefinanzierte „Alters- und Hinterlassen-Versicherung“ (AHV) waren ebenso eine direkte Folge der beiden Weltkriege wie die 1947 eingeführten Wirtschaftsartikel, welche die Einflussnahme der Verbände auf die politische Willensbildung und Rechtsetzung legitimierten und damit die Schweiz in Richtung einer Verbandsdemokratie trieben. Mit dem Einfluss der Verbände auf die nationale Politik, auf die Rechtsetzung und auch auf den Vollzug ging der Ausbau des Wohlfahrtsstaats unmittelbar einher. Der umverteilende und vorsorgende Wohlfahrtsstaat ist geradezu das Reservoir für die Opfer des Korporatismus und entlastet dadurch die Träger des Korporatismus moralisch, sozial und auch finanziell von ihrem Verhalten.
Für einige Jahrzehnte führte der Korporatismus durchaus zu einem, im internationalen Vergleich erfolgreichen System mit einer dynamischen Exportindustrie und einem höchst protektionistischen Binnenmarkt. Politische Stabilität, Wahrung der Privatsphäre und eine verlässliche Währung wirkten besonders auf ausländische Kapitalanleger attraktiv. Dieser Korporatismus war solange von Erfolg, als eine relativ homogene, politische, unterneh¬merische und militärische Elite verantwortlich zeichnete und die Staatsaufgaben noch verhältnismässig gering waren. Mit zunehmender Dauer des Protektionismus, einer sich verändernden Weltwirtschaft, grösserer Spezialisierung und erhöhter Mobilität wurden die Folge¬schäden aber immer sichtbarer. Die Schweiz entwickelte sich in den Nachkriegs¬jahrzehnten zu einer Gesellschaft von Mietern und Angestellten mit stetig steigenden Ansprüchen an staatliche Versorgung und Umverteilung. Der abgeschottete Binnenmarkt liess die Preise ansteigen und das Warenangebot vor allem auch bei den Lebensmitteln begrenzen. In den 1990er Jahren schliesslich krachte es erstmals im politischen Gebälk. Besonders gravierend war die Verschuldung des Bundes, die sich von rund 39 auf 108 Milliarden Franken fast verdreifachte und diejenige der Kantone von 31 auf rund 62 Milliarden Franken verdoppelte.
Abhängigkeit vom Wirtschaftswachstum
Diese negativen Auswirkungen des Korporatismus bekommen vor allem die jüngeren Generationen immer drastischer zu spüren. Der sukzessive Ausbau des Wohlfahrtsstaats ist eine unmittelbare Folge dessen und einmal etabliert, setzt er in allen Bereichen mehr Abreize denn Anreize für Eigenverantwortung und Wettbewerb. Der Ruf nach mehr Wirtschaftswachstum, der selbst von der politischen Linken immer lauter erschallt, ist eine Konse¬quenz dieses wohlfahrtsstaatlich-korporatistischen Kartells, das immer mehr Regulierung produziert und dafür immer mehr Steuern verschlingt.
Aus der Wirtschaftsgeschichte lässt sich lernen, dass die kleinräumige Schweiz mit ihren knappen Ressourcen ihre selbständige Stellung im Konzert der Mächte durch eine kluge Bewirtschaftung der geostrategischen Lage sowie durch Offenheit und Export erringen musste. Zunächst waren es der Export von militärischem Potential und danach von qualitativ hochwertigen Produkten wie Textilien, Uhren, Maschinen, chemische Produkte oder Finanzdienstleistungen, für welche die Schweiz Weltruf erlangte.
Der Korporatismus, wie er sich dank den Wirtschaftsartikeln von 1947 im politischen System einnisten konnte, ist ein relativ junges Phänomen und wirkt sich im Zusammenhang mit dem Wohlfahrtsstaat verhängnisvoll aus. Es ist daher an der Zeit, sich davon schrittweise zu trennen, um dem Wettbewerb als existentielle Lebensader der Schweiz wieder mehr Geltung zu verschaffen.
Publiziert in Reflexion 3/2007