Seit Jahresbeginn zählt der Euro-Raum 17 Mitglieder. Neu hinzugekommen ist Estland. Mit erstaunlicher Chuzpe hatte die Europäische Kommission am 12. Mai 2010 den Esten bescheinigt, nun reif für den Euro zu sein – nur wenige Tage nachdem der Rat für Wirtschaft und Finanzen (Ecofin) den Euro-Rettungsschirm aus dem Boden gestampft hatte.
Wieso sollte Estland gerade jetzt die Gemeinschaftswährung haben wollen? Jenes Währungskorsett, dessen enge Schnürung sich spätestens mit den Turbulenzen um die Südstaaten klar erwiesen hatte?
Doch für Estland führte am Euro kein Weg vorbei. Die estnische Krone war seit Jahren indirekt an den Euro gekoppelt. Und politisch war das Streben nach dem Euro – wie einst das Streben nach Mitgliedschaft in der EU – konstitutiver Teil des neuen patriotischen Mythos auch dieses kleinen Landes im Osten Europas. Nichts könnte stärker symbolisieren, dass sich die Nation von Russland abgrenzt und in den Westen einfügt – dort,
wo sie kulturell und ihrem Selbstverständnis nach hingehört.
Zugleich gab dieses Streben der Regierung mehr Handlungsfähigkeit: Sie konnte den Sündenbock für unpopuläre Massnahmen einfach nach Brüssel verlagern. Ohne diesen Externalisierungs-Mechanismus hätte es auch in den anderen Mitgliedstaaten der EU manches an Liberalisierung nicht gegeben. Langfristig macht dieser Trick die Politik allerdings begründungsfaul und den öffentlichen Diskurs banal. Schliesslich findet hier nichts anderes statt als eine Übertölpelung des Volks, einer souveränen Willensnation wahrhaft unwürdig.
Es sind genau diese hässlichen Mechanismen der Europäischen Union, ganz zu schweigen vom Euro, die vielen Schweizern zu Recht aufstossen. Und anders als die Osteuropäer muss sich die Schweiz nicht von Russland abgrenzen, um die Seele der Nation zu retten. Auch die beschriebenen politischen Spiegelfechtereien hat sie nicht nötig: Sowohl im Index der wirtschaftlichen Freiheit des Fraser Institute als auch im Index der Wettbewerbsfähigkeit des internationalen Managementinstituts IMD Lausanne steht sie seit Jahren auf dem vierten Platz. Die EU hingegen hat darin versagt, zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zu werden.
Dass man in der Schweiz seit einiger Zeit wieder intensiv über einen möglichen EU-Beitritt diskutiert, macht mich umso mehr nervös – gerade aus der Perspektive Deutschlands, also jenes Landes, das in der Union im Hinblick auf eine stabilitätsorientierte, ordnungspolitisch saubere und halbwegs liberale Politik allzu häufig auf verlorenem Posten steht. Jenes Landes der sozialen Marktwirtschaft, dessen mühsam errungene eigene wirtschaftspolitische Kultur in den Speichen des deutsch-französischen Tandems zerrieben zu werden droht. Auch wenn wir uns leider nicht immer so verhalten, wie wir sollten – Deutschland braucht die Schweiz als externen Verbündeten im Kampf gegen die destruktiven zentralistischen Kräfte in Europa.
Doch nicht nur Deutschland, ganz Europa braucht die Schweiz – gerade so, wie sie ist: frei, unabhängig, selbstbewusst. Wir sind geradezu angewiesen auf die kleine, aber in ihrer politischen Tradition ganz grosse Schweiz, als Abweichler und Störenfried. Die Schweiz ist uns ein wertvolles politisches und kulturelles Gegenmodell, dessen wache, kritische und freiheitlich gestimmte Bürger uns den Spiegel vorhalten. Die nachdenken, sich sträuben und stur bleiben, wo wir EU-Bürger abgestumpft alles über uns ergehen lassen, was aus Brüssel kommt. Nicht einmal gegen den Euro-Rettungsschirm regt sich bei uns Protest.
Es ist ein grosses und unverdientes Glück für die EU, dass es das Nichtmitglied Schweiz gibt, das sich auseinandersetzt statt zu verdrängen; das uns den Horizont erweitert und als Leitstern politisch inspiriert. Woher haben wir es denn in Deutschland: das Vorbild der Schuldenbremse? Die Anstösse zu mehr kommunaler Steuerautonomie? Zur Gesundheitsreform? Wer hat’s erfunden?
Vielleicht wird der Schweizer Sonderweg in Europa wirklich irgendwann zu steinig. Mein persönlicher Wunsch wäre trotzdem, dass sich die Schweiz nicht anpasst und verbiegt. Sie möge ihre stolzen Traditionen pflegen und sie nicht um der oberflächlichen politischen Harmonie willen Europa opfern. Sie sollte sich vom Brüsseler Moloch so weit wie möglich fernhalten. Sie sollte jede einzelne EU-Vorschrift penibel prüfen, bevor sie sie übernimmt, und sich die Freiheit nehmen, Mängelexemplare abzulehnen.
Nicht einmal der EU wäre gedient, wenn die Schweiz Mitglied Nr. 28 würde und ihr zwar Geld in die tiefen Kassen spülte, aber kaum gestalterischen Einfluss hätte. Europa profitiert am meisten, wenn die Schweiz der Pfahl im Fleische der EU bleibt, Messlatte und Symbol der Alternative.
Dafür heisst es den Drohungen aus Brüssel standhalten und sich keinen Automatismus aufdrängen lassen. Das Leben auf beiden Seiten würde zwar einfacher, aber sicher nicht besser.
Karen Horn leitet das Berliner Büro des Instituts der Deutschen Wirtschaft. Zuletzt referierte sie an der Freiheitsfeier 2010 des Liberalen Instituts. Dieser Artikel wurde in der «NZZ am Sonntag» publiziert.