Das Freiheitsverständnis eines Liberalismusforschers ist vielen Einflussgrössen und im Regelfall stetigem Wandel ausgesetzt. Auch hier bestätigt sich einmal mehr: Man lernt mit der Zeit, sofern man mit der Zeit etwas lernt. Bis 1983 konnte ich der politischen Philosophie nichts abgewinnen. Aufgewachsen in einem kleinen Dorf im Dreiländereck Deutschland, Luxemburg und Frankreich entwickelte ich als Kind eine emotionsgetragene Abneigung gegen Grenzen und Grenzbeamte, weil die Zöllner uns Kindern das Leben jedes Mal schwer machten, wenn wir unseren Pass vergessen hatten oder sie uns dabei erwischten, wie wir zwei Pfund Kaffee von Luxemburg nach Deutschland schmuggelten.
Im Sommersemester 1983 besuchte ich zum ersten Mal ein Seminar bei Professor Gerard Radnitzky an der Universität Trier. Unter den Studenten genoss er den Ruf, einen unverständlichen methodologischen Fachjargon zu sprechen und extrem konservativ zu sein. Dennoch nahm mich das Thema gefangen: soziale Gerechtigkeit. Zu jener Zeit konnte ich gar nicht glauben, dass jemand die Existenz der sozialen Gerechtigkeit anzweifelte oder sie für nicht wünschenswert hielt. Professor Radnitzky lächelte einfach nur weise, während er Hayeks These, die soziale Gerechtigkeit verwechsle die Kategorien und sei deshalb unhaltbar, auf den Punkt brachte.
Innerlich aufgewühlt, spürte ich: Das war die Art der intellektuellen Herausforderung, die ich in all den Jahren an der Trierer Universität, wo die Professoren fast ausschließlich die Geschichte der Philosophie, nicht aber die Philosophie selbst lehrten, vergeblich gesucht hatte. Gerard Radnitzkys analytischer Hintergrund und seine logische Stringenz waren ungewöhnlich und erfrischend zugleich.(1) Mir gefiel die Popper-Hayek-Melange, mit der er uns die Philosophie näher brachte. Durch ihn kam ich in die glückliche Lage, drei der tiefen Hayekschen Einsichten schätzen zu lernen:
Die Sinnesordnung ist ein Erkenntnisapparat, der seine Struktur sowohl der Phylogenese als auch der Ontogenese — und damit indirekt der Kultur — verdankt und unserer Erkenntnis wie auch unseren Vorhersagen stets die Gestalt von Mustern gibt.
Es gibt zwei Moralsysteme, das der Horde und das der abstrakten Gesellschaft, und das erste kann das zweite nicht ersetzen, ohne desaströse Folgen zu verursachen. Die Idee der kulturellen Evolution und die Idee der spontanen Ordnung sind Zwillingsideen, d.h., dass viele geordnete Gesellschaftsstrukturen im Verlaufe der kulturellen Evolution unbeabsichtigt aus den Interaktionen der Individuen, die für sich genommen durchaus rationale Pläne verfolgen, hervorgehen.
Trotz aller Bewunderung für Hayek blieb ich von seiner unzureichenden, weil unscharf und letztlich zirkulären Definition der individuellen Freiheit enttäuscht. Unscharf ist sie, weil sie eine Verwechslung von Freiheit und Macht impliziert, und zirkulär ist sie, weil sie über den Terminus «Zwang» (der die Abwesenheit eines freiwillig gegebenen Einverständnisses voraussetzt) das Definiendum in abgewandelter Form in das Definiens einschmuggelt.
Wie aber will man die individuelle Freiheit gegen intellektuelle Angriffe schützen, wenn man sie nicht hinreichend präzise und zirkelfrei definieren kann?(2) Zirkuläre Definitionen sind wertlos. Die Frage ist: Wie verwandle ich die Sätze «Freiheit ist die Abwesenheit von Zwang» oder «Ein Eingriff in meine Freiheit ist nur dann Zwang, wenn der Eingriff meiner freien Einwilligung entbehrt» in eine zweckmäßige, zirkelfreie Definition?
Ich kann dies durch eine Differenzierung zweier Entscheidungsebenen tun. Eine freie und eine erzwungene Wahl haben eines gemeinsam. Sie stellen uns vor zwei Entscheidungen, sozusagen vor eine Doppelwahl: eine Entscheidung darüber, sich auf die Wahl einzulassen oder nicht, und eine Entscheidung aufgrund der Optionen, welche die Wahl offeriert. Nehmen wir das Wahlrecht als Beispiel. Das deutsche Wahlrecht lässt uns die Freiheit, zu entscheiden, zur Wahlurne zu gehen oder ihr fernzubleiben. Vor der Wahlurne haben wir dann eine weitere Entscheidung zu fällen: Wem geben wir unser Kreuzchen? Nennen wir die letztgenannte Entscheidung «Objektwahl», weil sie die Wahl zwischen verschiedenen Objekten, hier Parteien, konstituiert. Die vorausgegangene Entscheidung nennen wir Metawahl, weil sie der Objektwahl vor- und übergeord- net ist. Erst wenn eine Metawahl getroffen ist, kann eine Objektwahl stattfinden. Erst wenn ich den Gang zur Wahlurne beschlossen habe, kann ich mich auf den Weg machen und im Wahllokal wählen.
In Belgien gibt es eine Wahlpflicht, aber ansonsten verhält sich der Rest wie gehabt. Auch in Belgien gibt es Wahlurnen und Wahlzettel mit Optionen. Weil die Metawahl dort mit einer Pflicht verbunden ist, steht der Belgier unter Zwang. Falls er sich von der Wahl fernhält, muss er ein Bussgeld entrichten. D.h., die negative Metawahl steht unter Kostenandrohung. Was die beiden Beispiele unterscheidet, sind genau diese Kosten im Falle einer negativen Metawahl. In Deutschland ist das Fernbleiben von einer Wahl kostenlos, in Belgien nicht. Alle Zwangssituationen sind mit denen der Wahlpflichtsituation vergleichbar. Der Räuber, der «Geld oder Leben» verlangt, der Fiskus, der «Steuern oder Gefängnis» androht: Sie alle lassen uns eine Metawahl und eine Objektwahl, auch wenn uns das auf den ersten Blick entgeht.
Die Pointe meiner Explikation besteht also in der Annahme, dass beide, Freiheit und Zwang, Angebotstypen konstituieren, die zwei verschiedene Entscheidungen aufwerfen: eine auf der Objektebene und eine auf der Metaebene. Und der Unterschied zwischen Freiheit und Zwang wird erst dann ersichtlich, wenn wir die Metaebene betrachten: Im Falle einer negativen Metawahlentscheidung bewirkt der Zwang künstliche Kosten, die in Freiheit nicht entstünden.
Nun, dies klingt zugegebenermassen recht kompliziert. Für gewöhnlich helfe ich mir und anderen mit einem Zitat von Marlon Brando, der als «Pate» einmal lapidar bemerkte, er werde jemandem ein Angebot unterbreiten, das dieser nicht ablehnen könne. Mit anderen Worten: Die Ablehnung des Angebotes käme die Person teuer zu stehen. Es ist genau diese Sorte Kosten, die ich meine, wenn ich von den Kosten einer negativen Entscheidung auf der Metaebene im Falle von Zwang spreche.
Wie auch immer; wiederum war es Radnitzky, der mich auf die anarcho-kapitalistische Position von Murray Rothbard und Hans Herrmann Hoppe aufmerksam machte. Durch Rothbard begann ich zu begreifen, dass die Unterscheidung zwischen spontaner und geplanter Ordnung, die Hayek stets betonte, im Vergleich zur Distinktion zwischen freiwilliger und erzwungener Ordnung weniger wichtig ist. Und was ich an Hoppe so sehr schätze, ist sein expliziter Versuch, einen vollständig konsistenten Libertarianismus zu entwickeln.
Gleichwohl glaube ich, dass Rothbard und Hoppe ihren Ansatz auf Prämissen gründen, von denen die wichtigsten unhaltbar sind. Meiner Meinung nach ist ihre Naturrechtstheorie in erster Linie funktionalistisch und wie jede andere Naturrechtslehre letztlich unhaltbar. Der von ihnen vertretene Apriorismus à la Mises offenbart eine fehlerhafte Epistemiologie — was für die Begründungsphilosophie und den Glauben an synthetische Sätze, die a à priori wahr sind, generell gilt. Indem er David Humes Sein/Sollen-Distinktion ignoriert, verfehlt Hoppes «argumentum e contrario» für die Freiheit sein Ziel. So wie ich sie interpretiere, enthält die anarcho-kapitalistische Definition der individuellen Freiheit einige Inkonsistenzen.(3)
Mir ist nie ein überzeugendes Argument für die Naturrechtstheorie begegnet, und angesichts von Humes berechtigter Sein/Sollen-Distinktion kann ich mir nicht vorstellen, wie es — «per impossibile» — aussehen sollte. Durch Anthony de Jasays These, dass der Vertrag das Recht konstituiere — und nicht umgekehrt, wurde mir allerdings klar, dass der Libertarianismus ohne die Annahme eines Naturrechts funktionieren kann. Was mir auch klar wurde, ist, dass ein solcher libertärer Ansatz noch nicht vollständig entwickelt ist und einer sorgfältigen Ausformulierung bedarf. Dennoch, die Grundsteine liegen bereit: Individuelle Vertragsvereinbarungen als Ausdruck wahrgenommener Freiheiten; ein Modell einer freien Gesellschaft, die auf einem Netzwerk individueller Verträge, welche zu einem System multilateraler Versicherungen des Privateigentums und der individuellen Freiheit führen, beruht; und schließlich eine konsistente Definition der individuellen Freiheit und des Privateigentums.
Anmerkungen:
(1) Für eine kurze Biographie zu Gerard Radnitzky siehe meinen Aufsatz „Gerard Radnitzky. Kritischer Rationalist und Klassischer Liberalist“, in: Hardy Bouillon und Gunnar Andersson (Hg.), Wissenschaftstheorie und Wissenschaften. Festschrift für Gerard Radnitzky aus Anlass seines 70. Geburtstages, Berlin: Duncker&Humblot 1991, S. 9-19.
(2) Vgl. Kapitel 3 meines Buches „Freiheit, Liberalismus und Wohlfahrtsstaat. Eine analytische Untersuchung zur individuellen Freiheit im Liberalismus und im Wohlfahrtsstaat“, Baden Baden: Nomos 1997.
(3) Für eine ausführlichere Darstellung meiner Kritik an Rothbard und Hoppe vgl. meinen Beitrag „Libertärer Anarchismus – eine kritische Würdigung“, in: Aufklärung und Kritik Sondernummer, 1998, S. 28-40.
Weiterführende Literatur:
Hardy Bouillon ist Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher und kleinerer Schriften. Zu seinen Monographien zählen u.a. „Ordnung, Evolution und Erkenntnis“ (1991), „Freiheit, Liberalismus und Wohlfahrtsstaat“ (1997) und „John Locke“ (1997). Zusammen mit Gerard Radnitzky ist er Herausgeber u.a. von „Ordnungstheorie und Ordnungspolitik“ (1991), „Government: Servant or Master?“ (1993), „Values and the Social Order“, 2 Bände (1995). Ausserdem ist er Herausgeber von “Libertarians and Liberalism” (1997) und “Do Ideas Matter?” (2001).
PD Dr. Hardy Bouillon ist Head of Academic Affairs am Brüsseler Centre for the New Europe, Privatdozent an der Universität Trier und Inhaber der Unternehmensberatung Public Partners.