Wann immer Liberale angesichts der aktuellen Lage verzweifeln, sollten sie sich an die Umstände erinnern, die zur Gründung der Mont Pèlerin Society geführt und zur Entstehung der entsprechenden intellektuellen Bewegung beigetragen haben. Als Friedrich August von Hayek 1947 drei Dutzend Gelehrte ins waadtländische Mont-Pèlerin einlud, um über die Zukunft des Liberalismus zu diskutieren, befand sich ein grosser Teil Europas unter sowjetischer Herrschaft, und das Engagement Amerikas für die Sicherheit Westeuropas war alles andere als sicher. Die Ausarbeitung des Marshallplans war noch Monate weit weg, und es war sehr offen, ob die liberale Demokratie nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus in Deutschland Fuss fassen würde.
Aus den Anfängen der Bewegung lassen sich zwei Lehren ziehen. Erstens ist ein Sinn für Perspektive und Verhältnismässigkeit notwendig, um die Bedrohungen zu bewerten, denen die freie Welt gegenwärtig ausgesetzt ist. Zweitens sollten Fragen der internationalen Wirtschaftsordnung und Geopolitik im Mittelpunkt der Bemühungen der Liberalen stehen, damit die Grundlagen einer freien Gesellschaft erhalten und gestärkt werden können.
Die Covid-19-Pandemie hat zu weitreichenden Vorhersagen über eine Deglobalisierung und ein Ende der relativ offenen globalen Marktwirtschaft der letzten Jahrzehnte geführt. «Erwarten Sie keine schnelle Rückkehr zu einer sorglosen Welt mit ungehinderter Bewegung und freiem Handel», warnt etwa The Economist. Gemäss einem anderen Kommentator soll die aktuelle Lage «kein vorübergehender Bruch in einem ansonsten stabilen Gleichgewicht» sein.
Tatsächlich hat sich das Overton-Fenster einer politisch akzeptablen Politik verschoben. Einzelne Politiker wollen, dass die Vereinigten Staaten aus der Welthandelsorganisation (WTO) austreten. Es ist die Rede von einer Rückführung der Lieferketten. Einige sprechen sich sogar für eine wirtschaftliche Abkopplung von China aus. In der Europäischen Union hat die Pandemie zumindest vorübergehend das Ende des Schengen-Raums, also des freien Reiseverkehrs, zur Folge und bedroht damit eines der liberalen Grundprinzipien der EU: die Personenfreizügigkeit.
Überzogener Pessimismus wäre fehl am Platz
Dies ist jedoch nicht der Zeitpunkt, an dem Liberale verzweifeln sollten. Die meisten von uns wollen in die Welt des 21. Jahrhunderts mit all ihren Annehmlichkeiten zurückkehren, sobald das Virus abgeklungen ist. Ungeachtet der Appelle, unsere Lebensweise zu überdenken, wollen nur wenige in der gegenwärtigen Dystopie gefangen bleiben, in der die Möglichkeit, über Grenzen hinweg zu reisen oder Geschäfte zu tätigen, dramatisch eingeschränkt ist. Die Erfahrung der Grossen Depression von 1929 erinnert auch daran, dass die Erholung von einem ausserordentlichen wirtschaftlichen Schock langsamer vonstattengehen wird, wenn roher Protektionismus wieder in das Repertoire der politischen Instrumente der westlichen Demokratien zurückkehrt.
Noch gibt es nur wenige, die sich für eine radikale Abkehr von den bestehenden internationalen Vereinbarungen aussprechen. Vor der Pandemie war etwa die Zahl der Amerikaner, die den Freihandel unterstützten, stetig gestiegen, wobei einer Gallup-Umfrage zufolge 4 von 5 Befragte diesen als Chance sahen. Die Präsidentschaftskandidatur von Senator Bernie Sanders, dessen Wirtschaftspolitik am radikalsten von der konventionellen Weisheit abwich, verlief regelrecht im Sand. Präsident Trumps Nativismus und Protektionismus könnten ihm zwar zur Wiederwahl verhelfen, aber die langfristigen Aussichten einer solchen Politik sehen angesichts demographischer Trends wie der Urbanisierung und der wachsenden Vielfalt der US-Bevölkerung düster aus.
Trotz der Bemühungen um den Aufbau einer national-konservativen Bewegung in den Vereinigten Staaten, die sich am ideologischen Spielbuch europäischer nationalistischer Führer wie Viktor Orbán aus Ungarn orientiert, haben diese noch keine überzeugende politische Agenda und lediglich eine Reihe schlecht durchdachter Impulse hervorgebracht. Und anders als in den 1930er und 1940er Jahren, die von der doppelten Bedrohung durch den sowjetischen Kommunismus und den deutschen Nationalsozialismus geprägt waren, scheinen die wichtigsten autoritären Herausforderer des Westens — China und Russland — heute kein exportfähiges Modell der gesellschaftlichen Organisation zu bieten.
Infolgedessen ist der Westen heute nicht mit der Art von Bedrohung durch totalitäre Regime und deren Ideologien konfrontiert, wie sie sich bei der ersten Sitzung der Mont Pèlerin Society abzeichnete. Das grösste Risiko besteht heute nicht in der Anziehungskraft neuer, scheinbar aufregender Ideen — Protektionismus und Nativismus sind so abgestanden und phantasielos wie nur möglich. Die Gefahr besteht auch nicht darin, dass russische oder chinesische Panzer über die westlichen Hauptstädte rollen.
Was wirklich zählt
Die Bedrohung, mit der wir uns konfrontiert sehen, besteht vielmehr in der Versuchung, genau die Ideen aufzugeben, die den Westen überhaupt erst erfolgreich gemacht haben. Desinformation und die Kooptierung der politischen Eliten durch ausländische Autoritätspersonen gedeihen in einer Atmosphäre des Nihilismus und der Realitätsferne. Es geht nicht darum, irgendjemanden von etwas Bestimmtem zu überzeugen. Es geht darum, ein Umfeld zu schaffen, in dem «nichts wahr und alles möglich ist», wie es der Titel von Peter Pomerantzevs vorausschauendem Buch über russische Propaganda ausdrückt.
Diese Atmosphäre verändert zwar etwas die Rolle, die die liberalen Intellektuellen spielen sollten, aber sie macht ihre Rolle nicht weniger wichtig. Sie sollte auch dazu führen, dass sich die Intellektuellen auf das konzentrieren, was wirklich zählt. Fragen der Innenpolitik, einschliesslich des Staatsumfangs, der Grenzsteuersätze und dem Grad der regulatorischen Einmischung sind zwar nach wie vor relevant, aber sie kommen nicht annähernd an das Gebot heran, die Weltwirtschaft integriert zu halten.
Die Wichtigkeit eines intakten globalen Marktes ist etwas, das die Intellektuellen der ersten Generation der Mont Pèlerin Society aus Gründen, die weit über den reinen wirtschaftlichen Nutzen hinausgehen, gut verstanden haben. Die Ökonomen, Philosophen und andere, die der Einladung Hayeks folgten, konzentrierten sich mit überwältigender Mehrheit auf internationale Fragen, darunter das deutsche Problem und den Wiederaufbau Europas nach dem Krieg. Neben Hayek sprachen sich auch Lionel Robbins, Wilhelm Röpke, Luigi Einaudi und Ludwig von Mises für eine internationale Ordnung aus, um die destruktive Macht der Nationalstaaten einzuschränken, mit besonderem Schwerpunkt auf Europa. Obwohl das europäische Projekt ein Produkt vieler Kompromisse war, spiegelt es doch erkennbare liberale Einflüsse wider, wobei der Binnenmarkt, der von der britischen Regierung in den 1980er Jahren eingeführt wurde, das prominenteste Beispiel ist.
Enge Kooperation freier Gesellschaften
Anstatt das angeblich unvermeidliche Ende der Globalisierung einfach hinzunehmen, ist es an der Zeit, dass die Liberalen in den Debatten über die Zukunft der internationalen Wirtschaftsordnung wieder an Bedeutung gewinnen. Das heisst nicht, dass man sich eine unkritische Sicht auf den Status quo zu eigen machen soll. Es gibt Grauzonen, wie beispielsweise die Belastbarkeit unserer globalen Lieferketten in Sektoren, die für die Sicherheit oder die öffentliche Gesundheit kritisch sind, wie beispielsweise in der Verteidigungsindustrie, der Pharmaindustrie und der Telekommunikation. Es gibt auch legitime Debatten über multilaterale Organisationen, die Autokratien oft als verantwortliche Akteure in der internationalen Wirtschaftsordnung behandeln. Die Rolle der Weltgesundheitsorganisation in der aktuellen Pandemie veranschaulicht die Schwäche dieses Ansatzes. Aber um sicherzustellen, dass Autokraten nicht die Regeln für die Weltwirtschaft diktieren, müssen freie Gesellschaften eng zusammenarbeiten und dürfen sich nicht zurückziehen.
Um wirksame Fürsprecher einer offenen, globalisierten Welt zu sein, brauchen Liberale ein differenzierteres Verständnis der internationalen Ordnung — das seit der Gründung der Mont Pèlerin Society verloren gegangen zu sein scheint. Es ist zum Beispiel illusorisch zu glauben, dass bilaterale Handelsabkommen, die Trump befürwortet, jemals eine echte Alternative zu einem globalen Handelsregime der Nichtdiskriminierung darstellen könnten, das durch jahrzehntelange multilaterale Bemühungen geschaffen wurde. Im weiteren Sinne erfordert Wirksamkeit die Anerkennung der entscheidenden Rolle multilateraler Institutionen in der internationalen Arena, was der neorealistischen Vorstellung, die das aussenpolitische Denken in vielen liberalen Kreisen beherrscht, fremd ist.
Vor allem aber erfordert die erfolgreiche Aufrechterhaltung der liberalen Ordnung die Einsicht, dass die Verteidigung der offenen Gesellschaft ein langes Spiel ist. Aber es ist ein Spiel, bei dem Ruhe keine Option ist — ebenso wenig wie die Idee des «Kapitalismus in einem Land», die den Kern der Kooperation einiger Befürworter der freien Marktwirtschaft mit Vertretern der nationalistischen Rechten ausmachen. Wie Vincent Ostrom es nach dem Fall des Eisernen Vorhangs formulierte: «Die Welt kann nicht halb frei und halb in Knechtschaft bleiben. Jeder Teil ist so eine Bedrohung für den anderen». Die liberale Bewegung muss diese Lektion neu lernen.
Dalibor Rohac ist Forscher am American Enterprise Institute in Washington. Eine Version dieses Beitrags ist in englischer Sprache bei «The Bridge» und beim «Mercatus Center» erschienen. Die Übersetzung erfolgt mit freundlicher Genehmigung.