Der Liberalismus ist die Philosophie der Freiheit. Liberalen geht es um das Erreichen und den Erhalt einer offenen Gesellschaft, die sich durch individuelle Freiheitsrechte statt Kollektivismus, durch Vertragsfreiheit statt politische Befehle, durch Marktwirtschaft statt Planwirtschaft auszeichnet. Die Forschung zeigt, dass eine solche Ordnung zu wesentlich besseren Ergebnissen im Hinblick auf Frieden, Wohlstand, Fortschritt, Gerechtigkeit und Glück führt als geschlossene Gesellschaften. Deshalb erachten viele Liberale die Freiheit als ein geeignetes Mittel, um die oben erwähnten Zwecke zu erreichen. Freiheit wird aber oft auch als Wert per se erachtet, da sie ein wesentlicher Teil dessen ist, was es bedeutet, Mensch zu sein. Demnach ist die menschliche Würde untrennbar mit der individuellen Freiheit verbunden.
Im Hinblick auf das gesellschaftliche und politische Leben bedeutet Freiheit im liberalen Sinne die Minimierung menschlichen Zwangs. Es geht dabei nicht um natürliche Sachzwänge wie etwa die Notwendigkeit zu Atmen, Trinken oder Essen, sondern um menschliche Gewaltandrohung und -anwendung. Jeder soll seine Entscheidungen, was er mit seinem Körper und rechtmässig erlangten Eigentum tun möchte, nach eigenem Gutdünken treffen dürfen, solange er keinen Zwang gegenüber anderen Menschen anwendet. Dem zugrunde liegt das humanistische Ideal, wonach jeder Mensch Zweck per se sein soll, und nicht Mittel für die Zwecke anderer, zumindest nicht unfreiwillig.
Die Freiheit kann sinnvollerweise also nur durch ihre Abwehrrechte (gegen Zwang) definiert und universell durchgesetzt werden. Der Ökonom Roland Baader (1940–2012) formulierte es so:
«Das einzig wahre Menschenrecht ist das Recht, in Ruhe gelassen zu werden – von jedem, den man nicht eingeladen hat oder den man nicht willkommen heisst.»
Nach liberaler Auffassung meint Freiheit nicht die Möglichkeit, etwas zu tun, wenn einem die dafür nötigen Mittel fehlen. Dies ist das sozialistische Verständnis von «Freiheit», dass in einem diametralen Widerspruch zum liberalen Freiheitsverständnis steht. Denn zur Durchsetzung solcher «Anspruchsrechte» müssten zentrale Abwehrrechte verletzt werden. Es geht hier beispielsweise um Forderungen wie kostenlose Bildung und medizinische Versorgung oder ein «bedingungsloses Grundeinkommen». Denn die Gewährleistung von solchen sozialistischen «Freiheiten» erfordern Zwangsmassnahmen (Androhung eines Übels oder die Anwendung von Gewalt) gegen jene, die solche politischen Begehrlichkeiten gegen ihren Willen finanzieren oder durch unbezahlte oder unterbezahlte Arbeit bereitstellen sollen. Dies wiederum stellt einen fundamentalen Eingriff in den Grundgehalt der individuellen Freiheit dar und würde voraussetzen, andere Menschen gerade nicht «in Ruhe zu lassen», sondern sie zu terrorisieren. Die liberale Freiheitsdefinition kommt ohne Macht aus, die sozialistische hingegen erfordert Macht – sehr viel Macht sogar.
Freiheit wurde durch Zwang und Bevormundung verdrängt
Von diesem liberalen Ideal haben wir uns heute weit entfernt. Es ist kaum ein Bereich unseres Lebens mehr übrig, in welchem der Staat nicht illegitimen Zwang auf die Bürger ausübt, um die Geschmäcker, Präferenzen und Sonderinteressen jener Gruppen für allgemeinverbindlich zu erklären, die das staatliche Gewaltmonopol am stärksten zu beeinflussen und kontrollieren vermögen.
So werden wir etwa zur Finanzierung von Opern und Theatern angehalten, zur Unterstützung von Landwirten und taumelnden Banken, zur Leistung von «Entwicklungshilfe» an Diktatoren, zur Bezahlung überrissener Beamtensaläre, dreister Behördenpropaganda und einseitig berichtenden Medien, zur Finanzierung von an reiche Günstlinge vermietete «Sozialwohnungen» bis hin zum städtischen Fahrradverleih, der die private Konkurrenz aus dem Markt drängt. Wir werden genötigt, Gender-Lehrstühle und NGOs zu unterstützen, die mit unserem Geld oftmals teure Kampagnen gegen unsere eigenen Überzeugungen betreiben. Ohne staatliche Lizenzen werden uns viele Berufe und Tätigkeiten verboten, die von anderen freiwillig nachgefragt würden. Es gibt den Krankenversicherungszwang, den Renteversicherungszwang, den Annahmezwang bei Zahlungen in staatlicher Währung, den Schulzwang, den Militärdienstzwang und so weiter und so fort.
Heute weisen grosse Teile unseres Systems den Charakter einer Befehlswirtschaft auf. Wir verwandeln die einst marktwirtschaftliche Ordnung immer mehr in ein planwirtschaftlich-kollektivistisches Korsett, das uns zunehmend erdrückt. Das öffentliche Recht, das durch eine Untertanenbeziehung zwischen staatlichen Akteuren (denen man eine privilegierte Position einräumt) und Bürgern gekennzeichnet ist, dehnt sich auf Kosten des alle Parteien gleichbehandelnden Privatrechts immer weiter aus. Diese Entwicklung geht auf Kosten der Freiheit der Bürger. Die Macht des Staates wächst auf immer ungesundere Weise.
Wahlen als Befreiungsschlag?
Weit verbreitet ist der Glaube, die Tendenz zur Unfreiheit hänge vor allem mit dem aktuellen politischen Personal zusammen. Dieses sei unfähig, der falschen Partei zugehörig oder korrupt. Sobald man dieses ausgewechselt habe, werde alles gut. Politische Wahlen verkommen unter dieser Prämisse zu einem Schicksalsakt und einem grandiosen Spektakel, zu dessen Beeinflussung unvorstellbar hohe Summen fliessen.
Doch was, wenn die Tendenz zur wachsenden Unfreiheit gar nicht primär an Personalfragen, sondern am System selbst liegt? Was, wenn auch die noch so nobelsten und hehrsten Vorsätze der Politiker durch Anreize innerhalb der staatlichen Maschinerie korrumpiert werden?
Tatsächlich ändern Wahlen meistens nur sehr wenig an der Tatsache, dass der Einfluss des Staates unweigerlich wächst. Die Eigeninteressen der gewählten politischen Entscheidungsträger divergieren (unabhängig der Parteizugehörigkeit) oft nur minim. Dazu gehören die Wiederwahl sowie die Maximierung des eigenen Einflusses und Einkommens.
Auch wenn es historisch vereinzelt herausragende, entschlossene und umsetzungsstarke Persönlichkeiten wie etwa Margaret Thatcher (1925–2013) gegeben haben mag, die der Politik ihres Landes einen freiheitlichen Stempel aufzudrücken vermochten, so ist dies doch eher die Ausnahme als die Regel.
So warnte der Philosoph Karl R. Popper (1902–1994) vor der Fokussierung auf das politische Personal:
«Es scheint mir Wahnsinn, alle unsere politischen Bemühungen auf die schwache Hoffnung zu gründen, dass die Auswahl hervorragender oder auch nur kompetenter Herrscher von Erfolg begleitet sein wird.»
Macht führt zu Empathielosigkeit
In seinem Buch Macht: Wie Erfolge uns verändern zeigt der Psychologieprofessor Ian Robertson, weshalb die Hoffnung auf wohlwollende politische Machthaber meist enttäuscht wird: Je grösser die Macht eines Entscheidungsträgers sei, desto stärker werde seine Gehirnfunktion geschädigt, was ihn zu Korruption und Machtmissbrauch treibe.
Grund dafür sei unter anderem der Testosteronspiegel im Blut, der umso höher sei, je weiter oben man sich in einer Hierarchie befinde. Ein hoher Testosteronspiegel mache die Machthaber egozentrischer und empathieloser gegenüber der Sichtweise anderer. Die Mitmenschen verkämen dabei in der Wahrnehmung der Machthaber zunehmend zu Objekten und Werkzeugen, die man benutzen dürfe. Dies gelte umso mehr nach einer gewonnenen Wahl.
Eine der grössten Gefahren für die Welt, so Robertson, entspringe dem Testosteronschub im Blut machthungriger Spitzenpolitiker nach einem Sieg. Dieser Hormonschub sei wie ein Rausch. Wie ein Bergsteiger, der immer nach dem nächsten, noch gefährlicheren Gipfel Ausschau halte, finde es der machtgierige Politiker schwierig, sich mit den Mühen der Ebene aufzuhalten und ganz gewöhnliche Alltagspolitik zu betreiben – er wolle dieses chemische Hochgefühl, das ihm ein spektakulärer Sieg bringt. Leider müsse bei dieser Droge, wie bei allen Drogen, der nächste Schuss stärker sein, um die gleiche Wirkung hervorzubringen.
Schranken der Machtausübung
Da längerfristig weniger ins Gewicht fällt, wer die Macht hat, sondern es das Hauptproblem ist, dass überhaupt jemand die Macht hat, über andere Menschen zu bestimmen (also gegen andere Menschen legal Gewalt anzudrohen und anzuwenden), sollte man sich weniger der Personalfrage in Wahlen, sondern der Frage zuwenden, wie man Macht grundsätzlich eindämmen könnte. Mit welchen Strategien könnte der heute wachsende Missbrauch staatlicher Zwangsanwendung minimiert oder sogar beseitigt werden?
Gesucht sind raffinierte Mechanismen und Anreize, um die Staatsgewalt nachhaltig im Zaum zu halten. Dazu könnten nebst der Gewaltenteilung auch Ansätze wie eine Politikerhaftung, eine Trennung von Medien und Wissenschaft vom Staat, eine Stärkung des politischen Wettbewerbs zur Reduktion des Ausbeutungs- und Entmündigungs-Potenzials der Bevölkerung, ein Abbau der Verwaltung, eine Reduktion der Anzahl parlamentarischer Sessionen (je weniger getagt wird, desto weniger neue schädliche Regulierungen können daraus erwachsen), diverse Entstaatlichungs-Massnahmen und weitere Reformen zählen.
Je mehr solche Mechanismen implementiert werden, desto robuster dürfte die offene Gesellschaft werden und desto eher scheint das Ziel einer friedlichen, prosperierenden und freien Ordnung in greifbare Nähe zu rücken.
Olivier Kessler
Dieser Beitrag ist in der Jungen Freiheit erschienen.