Im Jahr 2019 jährt sich der Fall der Berliner Mauer zum 30. Mal. Dennoch bleiben viele Herausforderungen für die Freiheit bestehen. Der sanfte Etatismus breitet sich immer weiter aus, nicht nur an den Finanzmärkten und im Wohlfahrtsstaat. Der Steuerstaat ist nicht weniger gefrässig geworden. In manchen Ländern, etwa in den USA und Grossbritannien, wo politische Figuren wie Bernie Sanders und Jeremy Corbyn eine seltsame Popularität geniessen, wird von einer «Renaissance des Sozialismus» gesprochen. Globalisierungskritik wird vermehrt salonfähig, während internationale Regierungskartelle sämtliche Weltprobleme lösen sollen. Im Rahmen der LI-Konferenz vom 9. April in Zusammenarbeit mit der paneuropäischen Free Market Roadshow wurden diese Entwicklungen vertieft diskutiert.
In seiner Einführung erinnerte LI-Vizedirektor Olivier Kessler an die tatsächlichen Ergebnisse des freien Marktes. Gemäss dem Index für wirtschaftliche Freiheit hätten jene 25 Prozent der Länder, welche die grösste wirtschaftliche Freiheit aufweisen, ein rund 8 Mal höheres Durchschnittseinkommen als die 25 Prozent unfreisten Länder. Auch die weniger Wohlhabenden verdienten in den liberaleren Ländern rund 8 Mal mehr als in eher sozialistischen und man lebe in ersteren rund 20 Jahre länger. Diese Erfolge des Kapitalismus seien bei einer Mehrheit der Bevölkerung jedoch noch nicht angekommen. So habe gemäss dem Free Market Mentality Index denn auch das marktfeindliche Denken weltweit wieder an Fahrt aufgenommen und sei aktuell stärker als zur Zeit des Mauerfalls. Die These vom «Ende der Geschichte» des Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama, wonach sich der Liberalismus nach dem Fall der Sowjetunion quasi von selbst endgültig und überall durchsetzen werde, sei daher alles andere als zutreffend. Vielmehr brauche es weiterhin einen engagierten Einsatz für die Freiheit.
In einem ersten Referat widmete sich Daniel J. Mitchell, Präsident des Center for Freedom and Prosperity in Washington D.C., den zunehmenden Abhängigkeitsraten in der Altersvorsorge und im Gesundheitswesen in den westlichen Ländern. Neben der allgemein hohen Steuerbelastung, der Regulierungsverdichtung und neuen Tendenzen zum Protektionismus bestehe ein wesentliches Problem vor allem in der Finanzierungsart des Wohlfahrtsstaats angesichts der Demographie. Die erfreuliche Entwicklung der steigenden Lebenserwartung erscheine im Lichte der aktuellen Finanzierungslücken unflexibler Sozialversicherungen als bedrohlich für die Erwerbsbevölkerung, die steuerlich dafür aufkommen müsse.
Doch dies seien keine alternativlosen Umstände. Dass es erfolgreiche Optionen gebe, die funktionierten, zeigten andere Länder: Staaten wie Singapur und Hongkong hätten eine ähnlich geringe Geburtenrate und ebenfalls eine hohe Lebenserwartung. Im Gegensatz zu den Industrieländern des Westens hätten diese aber keinen derartigen Fiskaldruck zu bewältigen, weil sie vorwiegend auf individuelle Sparlösungen setzen würden, anstatt auf wohlfahrtsstaatliche Umverteilung. Dies habe gleich mehrere positive Effekte: So sei so die Alters- und Gesundheitsvorsorge von demografisch unsicheren Entwicklungen entkoppelt und deshalb verlässlicher. Auch gehe ein solches System kapitalisierter Vorsorge nicht zulasten der wirtschaftlichen Entwicklung, weil die Ersparnisse im Gegensatz zur wohlfahrtsstaatlichen Umverteilung nicht dem Konsum Dritter zugefügt, sondern angelegt und investiert werden könnten, was zu einem stärkeren Anstieg der Lebensstandards führe.
In einem weiteren Referat ging Claudio Cocca, Gründer und Verwaltungsratspräsident der Geneva Group International, auf die zahlreiche Rückschläge, globale Finanzkrisen und politische Identitätskrisen dies- und jenseits des Atlantiks ein. Diese hätten gezeigt, dass wir uns noch weit weg von einer allgemein wahrgenommenen globalen Prosperität befänden. In diesem Zeitraum wurde jedoch die extreme Armut in der Welt halbiert, was auf grundlegende Verbesserungen hinweise, insbesondere durch das «stille Wunder» des unternehmerischen und technischen Fortschritts.
Die Fragen, woran die Systeme kranken und wieviel Staat die Welt brauche, liessen sich nur schwierig beantworten. So wären ohne Interventionen in der letzten Finanzkrise zahlreiche systemische Banken kollabiert und hätten verheerende Folgen hinterlassen. Zuviel Intervention und Protektionismus führe im Gegenzug immer wieder zu unternehmerischen Ineffizienzen und indirekt — indem falsche Anreize wie «moral hazard» gesetzt werden — zu neuen Krisen. Die Komplexität der ökonomischen, politischen und strukturellen Fragestellungen unterstütze extremistische Vereinfachungen von ganz links und von ganz rechts. Es gelte jedoch, das richtige Mass zu finden und die Wirtschaft wieder von der Politik zu befreien. Die grösste gegenwärtige Herausforderung sei der Staatskapitalismus, der mit den von den Notenbanken geschaffenen «Monstern» der Geldausweitung den Blick trübe.
Anknüpfend unterstrich Richard Zundritsch, Vorstandsmitglied des Hayek-Instituts in Wien, die Wichtigkeit der Erkenntnisse der Österreichischen Schule der Nationalökonomie (die in Österreich leider weiterhin kaum angewendet werden). Ein eher dünnes aber bahnbrechendes Buch seines Grossonkels Friedrich August von Hayek, Entnationalisierung des Geldes, liefere für die heutige Zeit wesentliche Impulse in Hinblick auf eine tatsächliche Sanierung der Weltwirtschaft. Die zu lockere Geldpolitik habe erst die Situation geschaffen, wo sich die Notenbanken als Retter inszenieren konnten.
Diese Mischwirtschaft führe heute dazu, dass sich in Osteuropa eine gewisse Nostalgie breitmache, während der Staatsdirigismus in Westeuropa grassiere. Gleichzeitig könne die Welt nicht mehr so klar unterteilt werden, weil die internationalen Verflechtungen neben der Wirtschaft auch die Politik erreicht hätten. Weltweit würden die Regulierungen dadurch immer strenger und es sei kaum mehr ersichtlich, welche Regeln wo gelten. Hinzu kommen extraterritoriale Regeln, die die USA oder die EU ausserhalb ihres Gebiets durchzusetzen versuchten. Dabei helfe es nicht, «päpstlicher als der Papst» zu sein, wenn es darum ginge, internationale Standards zu übernehmen. Ein vorauseilender Gehorsam gegenüber internationalen Organisationen sei kaum dienlich für die weltweite Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft. Viele Probleme liessen sich politisch wesentlich besser lokal lösen, damit auch dort ein Wettbewerb entstehe.