Der Begriff «Ausbeutung» wird seit geraumer Zeit gerne missbraucht, um Arbeitgeber zu Sündenböcken zu machen. In einem Anstellungsverhältnis wird dabei das Verhalten des Arbeitgebers gegenüber dem Arbeitnehmer als «ausbeuterisch» bezeichnet, wenn aus Betrachtersicht kein «gerechter Lohn» ausbezahlt wird, wenn die Arbeitszeit als «zu lange» oder die Arbeitsbedingungen als «ungenügend» wahrgenommen werden.
Es wird mit der Verwendung des Ausbeutungs-Begriffs versucht, eine Macht-Asymmetrie zu suggerieren, obwohl es hier gar keine gibt. In einer Marktwirtschaft wird jeweils zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer über die Anstellungsbedingungen auf Augenhöhe verhandelt. Beide Seiten stimmen einem allfälligen Arbeitsvertrag aus freien Stücken zu und können – unter Einhaltung der vereinbarten Kündigungsfrist – den Vertrag auch jederzeit wieder auflösen, wenn sie mit den Arbeitsbedingungen oder dem Verhalten des anderen nicht mehr zufrieden sind.
Wert ist subjektiv
Dass in diesem Zusammenhang dennoch von «Ausbeutung» gesprochen wird, haben wir Karl Marx und seiner Arbeitswerttheorie zu verdanken. Diese besagt, dass der Wert eines Produkts von der zur Herstellung aufgewendeten Arbeitszeit herkomme. Der Gewinn, der aus dem Verkauf eines Gutes resultiere, gehöre daher der Arbeiterschaft, die diese Arbeit geleistet habe – und nicht etwa dem Arbeitgeber, der sich ungerechtfertigterweise an den Gewinnen bediene und dadurch die Arbeiter «ausbeute».
Doch der Wert eines Gutes kann nicht auf die aufgewendete Arbeitszeit zurückgeführt werden. Kunden sind nicht plötzlich bereit, das Zehnfache für einen Aushub zu bezahlen, weil dieser von einem Arbeiter mit einer Schaufel während hundert Stunden von Hand ausgehoben wurde, obwohl man dies auch in zehn Stunden mit einem Bagger geschafft hätte.
Massgebend für den Wert eines Gutes sind Angebot und Nachfrage. Entscheidend ist da unter anderem der subjektive Wert, den ein Individuum einem Gut zumisst, sowie die Rarität des Gutes. Wer beispielsweise während dreier Tage durstig durch eine Wüste irrt und endlich auf einen Wasserverkäufer trifft, ist bereit, für eine Flasche Wasser einen hohen Preis zu bezahlen. Die Zahlungsbereitschaft eines nicht-durstigen Mannes in einer gutversorgten Stadt hingegen dürfte wesentlich geringer sein. So etwas wie einen objektiven Wert – wie Marx behauptete – gibt es nicht.
Unethischer Profit?
Nichtsdestotrotz berufen sich nach wie vor viele lernunwillige Antikapitalisten auf Marx und sehen in der Tatsache, dass Kapitaleigner einen Profit einfahren, eine grosse Ungerechtigkeit. Die Gewinne der Kapitaleigner sind allerdings alles andere als ungerechtfertigt. Einerseits aufgrund des unternehmerischen Risikos, andererseits, weil sie zum Erfolg massgeblich beitragen. Ohne das Kapital wie etwa Werkzeuge und Maschinen, welche die Kapitalgeber zur Verfügung stellen, könnten die Arbeiter die Produkte gar nicht so effizient produzieren. Sie müssten ohne dieses Kapital wesentlich mehr Stunden für die Herstellung aufwenden, weshalb die Entschädigung pro Stunde tiefer ausfallen würde.
Auch das Risiko des unternehmerischen Versagens tragen die Arbeiter nicht persönlich. Die Arbeitnehmer profitieren von den erwarteten Gewinnen des Unternehmens indirekt über ihre Löhne – und das sogar schon im Voraus und auf regelmässiger Basis, bevor die Profite überhaupt erst erwirtschaftet worden sind. Einen besseren und risikoloseren Deal kann man sich kaum vorstellen. Denn das Risiko des Scheiterns trägt allein der Kapitaleigner, der sein Vermögen aufs Spiel setzt. Ohne investierende «Kapitalisten», die sich von diesen Investitionen einen Gewinn erhoffen, hätten die Arbeiter die entsprechende Arbeitsstelle gar nicht gehabt.
Nettosteuerzahler als tatsächliche Opfer
Es ist also grundlegend falsch, im Hinblick auf freiwillig abgeschlossene Arbeitsverträge von «Ausbeutung» zu sprechen, zumal der Begriff andeutet, dass die eine Seite unwürdig behandelt wird. Viel eher trifft der Begriff «Ausbeutung» auf eine andere Beziehung zu, wo er aber erstaunlicherweise praktisch nie verwendet wird: nämlich im Verhältnis des Staats zum Bürger. Denn der Staat versucht im Gegensatz zum Arbeitgeber gar nicht erst, eine freiwillige Übereinkunft mit dem einzelnen Bürger zu treffen, mit der sowohl der Bürger als auch der Staat «happy» sind. Der Staat interessiert sich gar nicht für die Bedürfnisse des einzelnen Bürgers: Er drückt diesem vielmehr unter Androhung oder Anwendung von Gewalt seinen Willen auf.
Der Staat erlässt in zunehmendem Ausmass Einheitsregeln, die im Sinne einiger Profiteure sein mögen, jedoch immer jemand anderen ausbeuten. Müsste der Staat mit allen Bürgern einen Vertrag abschliessen, wären die meisten heutigen Privilegienregulierungen gar nicht erst denkbar.
Der Staat erhebt zudem Steuern und verwendet die Steuergelder für Zwecke, die für die allermeisten Steuerzahler nicht prioritär und nicht dringend sind. Ausserdem zieht er Arbeitskräfte zwangsweise ein und beutet diese somit aus (z.B. im Militär- und Zivildienst). Müsste der Staat – wie der Arbeitgeber mit dem Arbeitnehmer – einen fairen Konsens finden, damit beide Seiten zufrieden sind, so wäre es undenkbar, sich dermassen rücksichtslos zu verhalten.
Ein weiterer gewichtiger Unterschied zwischen einem Arbeitsvertrag und dem Bürger-Staat-Verhältnis ist jener, dass ein Bürger die Beziehung mit dem Staat bei Unzufriedenheit nicht ohne Weiteres aufkündigen kann. Gerade im Falle der Eidgenossenschaft ist das besonders zynisch. Denn eine Genossenschaft zeichnet sich per definitionem gerade dadurch aus, dass die Mitgliedschaft freiwillig ist und ein Austrittsrecht ausdrücklich vorgesehen ist. Ironischerweise hält dies auch das Schweizerische Obligationenrecht (OR) in den Artikeln 842-844 fest. Wenn die Schweiz an ihrem Etikett als «Eidgenossenschaft» festhalten will, sollte sie es zulassen, dass diese Grundsätze auch für sie selbst gelten.
Dieser Beitrag von Olivier Kessler ist am 22. Mai 2024 in der Finanz und Wirtschaft erschienen.