«Osteuropa bekommt riesige Probleme»
Roland Vaubel, Professor für Volkswirtschaftslehre, über die zu hohe Inflation in der Eurozone und den USA
Anfang Monat hat die Europäische Zentralbank (EZB) ihr zehnjähriges Bestehen gefeiert (vgl. FuW Nr. 43 vom 31. Mai). Sie hat sich in dieser Zeit eine hohe Glaubwürdigkeit erarbeitet, hat die Inflation aber weniger gut im Griff als erwünscht. Der 1999 eingeführte Euro wurde von Politikern euphorisch begrüsst, von Ökonomen aber mit Vorbehalten betrachtet. Mittlerweile ist die Währungsunion von elf auf fünfzehn Mitglieder gewachsen, weitere stehen vor der Tür. Trotzdem bleibt EU- und Eurokenner Roland Vaubel skeptisch, auch gegenüber dem neuen Vertragswerk, über das in Irland kommende Woche abgestimmt wird.
Herr Vaubel, die Eurozone ist gemessen an Inflation, Wirtschaftswachstum, Wechselkurs und der wachsenden Zahl der Mitglieder eine Erfolgsgeschichte. Würden Sie dem widersprechen?
Der EZB erteile ich eine schlechte Note. Grund dafür sind die Inflationsraten, die sie ab 2001 zustande gebracht hat, bis dahin wirkte ja die Geldpolitik der Bundesbank nach. Seither lag die Teuerung in jedem Jahr über 2%. Das Ziel lag ursprünglich auf 1,5% und wurde vor drei Jahren hinaufgesetzt, auf unter 2%, aber möglichst nahe daran — ironisch könnte man sagen, auf 1,999%. Auch dieserWert wurde stets überschritten, der Durchschnitt seit 2001 beträgt 2,2%.
Schneiden andere Notenbanken denn besser ab?
Die Teuerung der EZB liegt über allen vergleichbaren unabhängigen Notenbanken in Europa. Die Schweiz wies ab 2001 durchschnittlich 0,7% auf, Dänemark 1,9, Grossbritannien 1,7, Schweden 1,5 und Norwegen 1,7. Die Bundesbank führte für die D-Mark immer die niedrigste Inflation in Europa herbei, zu gewissen Zeiten mit Ausnahme der Schweiz. Die EZB ist bestimmt nicht so gut wie die Bundesbank, und noch nicht mal so gut wie die anderen Zentralbanken. Das ist enttäuschend.
Ist es fair, die Bundesbank als Referenz zu nehmen? Müssten Sie nicht alle Notenbanken, die jetzt ins Eurosystem integriert sind, einbeziehen?
Nein. Denn die Alternative wäre gewesen, das frühere System beizubehalten, darum ging es vor zehn Jahren. Hätten wir den Euro nicht bekommen, wäre die Teuerung in Deutschland und in allen Ländern, die ihre Währung an die D-Mark gekoppelt hatten, niedriger. Der Unterschied ist nicht sehr gross, aber trotzdem bedauerlich. Die EZB war nur besser als die US-Notenbank Fed. In den USA hat sich die Lage stark verschlechtert. Bis 2005 war die Inflation auch dort niedriger als die der EZB, doch die letzten zwei Jahre drückten den Durchschnitt nach oben, auf 2,7%.
Bekommt die EZB die Inflation künftig besser in den Griff?
Nein, der Trend geht zum Schlechteren. Das Inflationsziel wurde hinaufgesetzt, der Stabilitätspakt ist zusammengebrochen. Er wurde 2005 reformiert und ist nicht wiederzuerkennen, ein zahnloser Tiger. Die früher erstrangige monetäre Säule wurde in ihrer Bedeutung herabgestuft. Was Otmar Issing, ein monetärer Falke, als Direktoriumsmitglied eingeführt hatte, ist weggeschwemmt. Zwar hat mich EZB-Präsident Jean-Claude Trichet in Bezug auf sein Stabilitätsbewusstsein positiv überrascht, aber generell ist die personelle Entwicklung im Direktorium beunruhigend.
Gegenwärtig erfüllen die meisten Länder auch die Kriterien des ursprünglichen Stabilitätspakts. Schafft nicht auch die verwässerte Version genügend Anreize?
Wir befinden uns in einen Boom. Sobald die nächste Rezession kommt, werden die Vorgaben wieder verletzt.
Gibt es nicht noch andere Kriterien als die Inflation? Ohne Währungsunion hätte die Kreditkrise in Europa möglicherweise Wechselkursverwerfungen verursacht und die Stabilität beeinträchtigt.
Stabile Preise sind wichtiger als stabile Wechselkurse. Gegen Währungsschwankungen kann man sich hervorragend und zu äusserst niedrigen Kosten absichern. Ausserdem waren zuvor, im Europäischen Währungssystem, viele Wechselkurse schon stabil. Österreich hatte mit der Politik des harten Schillings fast einen festen Kurs zur D-Mark. Das Gleiche gilt für Holland, Belgien, Luxemburg und Dänemark. Frankreich und Italien haben Probleme und sind mit der Währungsunion nicht glücklich. Die Löhne wachsen viel schneller als in Deutschland, als ob es die Einheitswährung nicht gäbe, doch die beiden Länder können nicht mehr abwerten.
Liegt das daran, dass der Währungsraum nicht optimal gewählt war?
Ja. Die Löhne in Italien und Frankreich passen sich nicht an, die Lohnflexibilität ist nicht gegeben. Das führt zu steigender Arbeitslosigkeit. Auch in Spanien und Portugal hat sich die Lage verschlechtert.
Trotz der Probleme drängen osteuropäische Länder in die Eurozone. Würden sie besser draussen bleiben?
Ich würde ihnen raten, die eigene Währung zu behalten. Diese Länder sind unter dem Gesichtspunkt des optimalen Währungsraums denkbar ungeeignet. Länder mit asymmetrischen Schocks oder deutlich unterschiedlichem Wirtschaftswachstum sollten sich nicht zusammenbinden. Treten diese Länder dem Euroraum bei, müssen sie viel höhere Inflationsraten hinnehmen als die bisherigen Mitglieder. Osteuropa bekommt riesige Probleme.
Weshalb wollen die Politiker trotzdem in den Euroraum?
Das ist psychologisch motiviert. Euroland ist ein Klub, und man würde sich geehrt fühlen, dazuzugehören. Ökonomisch ist es schädlich. Lettland hat seit einigen Jahren einen festen Wechselkurs zum Euro und leidet unter 9% Inflation. Es müsste zum Euro ständig aufwerten.
Der Euro ist zum Dollar markant gestiegen. Ist die Geldpolitik der EZB besser als die des Fed?
Zurzeit ja, auf jeden Fall. Das Hauptproblem der Amerikaner ist: Jeder wusste, dass im kommenden November Präsident und Kongress gewählt werden und dass im Offenmarktausschuss des Fed eine Mehrheit von Republikanern sitzt. Es war schon länger voraussehbar, dass die Zinsen bis ein halbes Jahr vor den Wahlen gesenkt werden, und genau so ist es gekommen. Nun gibt es keine Lockerung mehr, denn das würde die Konjunktur nach der Wahl anheizen, daran hat niemand ein Interesse. Die Zinsen werden wieder hinaufgesetzt, wahrscheinlich noch dieses Jahr. Ein Leitzins von 2% ist viel zu niedrig. Der Fehler wurde schon 2002 gemacht, das hat zur Blase im Immobilienmarkt geführt.
Sie unterstellen den Mitgliedern des Fed, parteipolitische Motive seien stärker als sachliche Erwägungen?
Ja, das lehrt der politische Konjunkturzyklus. Die wirtschaftswissenschaftliche Literatur weist ihn schon seit fünfzig Jahren nach. In den USA gibt es nur zwei oder drei Wahlen, für die er nicht belegbar ist. Der Präsident hat nach der ersten Legislaturperiode vielleicht noch keine Mehrheit im Fed. Nach zwei Amtszeiten hat er in der Regel die Mehrheit der Stimmen.
In der Eurozone gibt es keinen politischen Konjunkturzyklus?
Nein, da existiert dieses Problem nicht, das ist ein grosser Vorteil. Europas Staaten haben keine synchronisierten Wahlzyklen. Davon hat der Euro jetzt profitiert. Das ist aber vorübergehend.
In der EU wurde die neue Verfassung vor drei Jahren in nationalen Volksabstimmungen abgelehnt, nun soll ein abgeschwächter Vertrag eingeführt werden. Sind Sie zufrieden damit?
Nein, gar nicht, die Abschwächung ist minimal. Beunruhigend ist die Generalermächtigung. Der Ministerrat kann — auf Vorschlag der Kommission — auch dann Massnahmen ergreifen, wenn der Vertrag die Zuständigkeit nicht vorsieht. Das ist eine Kompetenzballung, der Rat kann sich selbst für zuständig erklären.
Für welche Bereiche gilt die Generalermächtigung?
Sie war bisher auf den Binnenmarkt beschränkt und wurde oft benutzt, das war aber nicht gravierend. Nun wird sie auf alle Bereiche der EU ausgedehnt. Der Rat kann ohne Zustimmung der nationalen Parlamente tätig werden. Diese verlieren die Kontrolle über die Kompetenzverteilung. Sie sind nicht einmal in der Lage, das rückgängig zu machen. Es geht um die Regulierung des Arbeitsmarktes sowie um Strukturfonds,Währungspolitik und Haushaltfragen. Das ist sehr gefährlich.
Dann müssten sich doch die nationalen Parlamente gegen diesen Machtverlust wehren?
Ja, das tun sie aber nicht. Die Parlamente werden vermutlich mehr von den Regierungen kontrolliert als umgekehrt. Da sitzen Hinterbänkler, die Karriere machen und deshalb bei der Regierung gut dastehen wollen, damit sie nachrücken können. Das ist das grosse Problem.
Verstösst das nicht gegen das Prinzip der Subsidiarität in der EU, nach dem Staatsaufgaben in erster Linie lokal oder national wahrgenommen werden sollen?
Das Subsidiaritätsprinzip ist nicht justiziabel. Wer das einklagen will, muss an den Europäischen Gerichtshof gelangen, und das ist die am meisten zentralistische Institution in Europa. Der Gerichtshof gewinnt mehr Macht, wenn er der EU mehr Kompetenzen überträgt.
Hat der Europäische Gerichtshof zu viele Kompetenzen?
In einer Untersuchung habe ich gezeigt, dass Länder mit einem Verfassungsgericht zentralistischer sind. Vielleicht hat die Schweiz ein riesiges Glück: Das Bundesgericht kann zwar die Verfassungsmässigkeit kantonaler Gesetze prüfen, nicht aber der Bundesgesetze. Es kann keine zentralisierenden Gesetze stützen. Die Chance, in einem Referendum die Zentralisierung zu verhindern, ist viel grösser. Obwohl das in der Totalrevision der Bundesverfassung einmal vorgesehen war, würde ich der Schweiz raten, das Bundesgericht auf keinen Fall zu einem Verfassungsgericht zu machen.
7. Juni 2008